
Verbot der Perspektive
Eine an die Kunstgeschichte mehr
als bloß nur schrammende Erzählung
von
Bernd Schmidt
© by Bernd Schmidt, Graz 2013
(ENDFASSUNG 2015)
Es gingen zwei Parallelen
ins Endlose hinaus,
zwei kerzengerade Seelen
und aus solidem Haus.
…
Christian Morgenstern, Die zwei Parallelen
*
Leonardo da Vici sagt: Wenn euer Sohn
Perspective und Anatomie völlig inne
hat, so thut ihn zu einem guten Meister.
J. W. Goethe/J. P. Eckermann, Gespräche …
*
1
Nein, Freunde machte sich Prof. Hannes P. Eggermann mit seiner Sicht der Dinge verständlicherweise keine. Doch gefällig zu sein und angenehm aufgenommen zu werden in Fachkreisen, das war ganz allgemein ohnehin erst gar nicht Eggermanns Absicht. Streit ist das Salz der Wissenschaft!, lautete die Devise des für seine unorthodoxen Ansichten und Ansagen bekannten akademischen Lehrers an der Münchener Technischen Universität; und zudem eines weitschichtigen Nachkommen des Goethe-Sekretärs, vormaligen Rektors in Eutin, Erziehers und pingeligen Nachhilfelehrers sowie staubtrockenen Bibliothekars zu Weimar, Johann Peter Eckermann.
Neben der (sicherlich nicht unwitzigen) Salz-Sentenz ließ er sich auch gern zu dem (in starkem Kontrast zu seiner sonstigen ziemlichen Verwelktheit ein wenig aufgesetzt munter wirkenden) Aufruf hinreißen: „Herrschaften, nur nicht kuscheln mittels halbherziger oder angepasster Theorien! Und vor allem – keine Verbeugungen vor dem geistigen Mainstream! Hört Ihr! Nie und nimmer!“
So war es auch jetzt, als der anerkannte (aber zugleich wohl auch keinesfalls unbestrittene!), aus Nürnberg stammende Kunsthistoriker mit seiner denn doch recht gewagten These an die wissenschaftliche Öffentlichkeit trat; was er zudem mutig, aufrecht und provokant machte. Ja, er zog sein Ding sogar irgendwie beinhart durch …
Zudem würden seine wissenschaftlichen Überlegungen demnächst auch in Buchform erscheinen, wobei sich für ihn allerdings gerade jetzt einige Probleme mit dem Verlag ergaben, der, seinerseits von einem internationalen Großkonzern aufgekauft, vorgab, um eine Neupositionierung auf dem globalen Büchermarkt zu ringen. Die ab nun maßgeblichen, in erster Linie einem weitestgehend florierenden Verkauf geschuldeten Geschäftsmethoden ließen, so schien es zumindest Eggermann, in erster Linie erhebliche Verluste an Niveau und Seriosität in der Ausrichtung der verschiedenen Reihen, Segmente und Nischen des bisher als durchaus gediegen geltenden Unternehmens erwarten, über die das alteingesessene Verlagshaus bis dato verfügte. Kurz: Die Ankündigung, man wolle künftig offener und Publikums-freundlicher in Programmgestaltung und Aufmachung des Produkts sein und besonders Berührungsängste zu populären Themen vermindern, verhieß nichts Gutes!
Ein Schwager Eggermanns war selbst lange schon in der PR-Branche tätig, und von ihm hatte der Kunsthistoriker diesbezüglich einiges gehört; er vermochte, solcherart instruiert, die Codes, die sich hinter den harmlos wirkenden Wörtern versteckten, daher in ihrer ganzen Tragweite zu entschlüsseln: Es stand in der Tat schlecht um den eigentlichen Wert (des Produkts) und in der Folge wohl auch um die Seriosität; sehr schlecht, um genauer zu sein.
Offener, das tarnte mehr Mist und pseudo-wissenschaftlichen Dreck bis hin zu halb-esoterischem Firlefanz. Publikums-freundlicher wiederum bedeutete: Nur keine Angst, ihr armen Dummerchen!, vor möglichst flinken Lizenzabdrucken von Dan Brown, Iny Lorentz, Stephen King, Paolo Coelho und Konsorten. Ja, das Produkt sollte möglichst geil aufgemotzt sein und barrierefrei (besonders also auch für Banausen, Semi-Gebildete und Halbdeppen) erwerbbar wirken und werbetechnisch entsprechend positioniert werden.
Dass für Verleger und Buchhändler (wie übrigens ganz allgemein für Wirtschaftstreibende) noch frühneuzeitlich die drei wichtigen Kaufmanns-Tugenden – libertas, taciturnitas und integritas – gegolten hatten, schien in der Tat längst in Vergessenheit geraten zu sein …
Wie dem auch sei und unabhängig von noch so erstaunlichen Richtungsänderungen innerhalb des Buchhandels (und der Gesamtwirtschaft): Der Kernpunkt der Eggermannschen Überlegungen, den man zugegeben leicht kontrovers auffassen konnte (ja: musste!), gleichsam das delikate punctum puncti, war, dass die meisten Maler – und das schon von alters her! – sehr wohl um die Perspektive Bescheid gewusst hätten; also lange bevor die neue Darstellungsweise dann, im 13., 14. Jahrhundert, also zu Zeiten der Malerarchitekten Filippo Brunelleschi (der nichts desto trotz als ihr Erfinder gilt), Giotto di Bondone und Leon Battista Alberti, aufkam! Auch wenn diverse Künsterkollegen und Vorgänger die Technik der perspektivischen Darstellung (noch) nicht explizit angewendet hätten, wären sie zu derselben – so Eggermanns Theorie (oder besser: Hypothese) – längst fähig gewesen!
Wer indes sollte tatsächlich endgültig entscheiden, warum wohl die meisten Pinsel-Artisten und Zeichner erst jetzt, also so spät, das taten, wie sie taten? (Oder eben zuvor nicht getan hatten, wie sie tun hätten können?!)
Der Clou an des hintergründigen Gelehrten These bestand darin, dass die so lange gepflegte Verweigerung der Perspektive vermutlich aus Angst erfolgt sei! So glaubte zumindest Prof. Eggermann, das Zaudern und Zweifeln in der Kunstwelt nächstliegend begründen zu können. Ja: Man hegte – berechtigt oder unberechtigt, wie auch immer – Furcht. Furcht vor der Kirche, Furcht vor dem Staat, Furcht vor der Obrigkeit, die bekanntlich immer wieder mit nicht selten vollkommen unverständlichen Interdikten zur Lenkung der Menschen antraten und ganz einfach nur Gehorsam (ohne jedes mögliche Verstehen der Hinter- und Beweggründe) verlangten. Folgsamkeit – ja: Hörigkeit – ohne ergründbaren Sinn, lediglich aus Starrsinn heraus; vielleicht auch, um auszutesten, wie weit man dem dumpfen Volk gegenüber noch gehen könne; einigermaßen gefahrlos für die eigene Position (und Person), versteht sich!
So funktionierte diese unheilige Dreieinigkeit nun einmal, so undurchschaubar wie effektiv.
Die Erde war eine Scheibe, die Sonne ging morgens auf und abends unter, der Mond kam am Nachmittag und schien des Nachts (oder er ließ es mal sein); und das gesamte Universum ruhte auf irgendwelchen Säulen, die zugleich Schenkel und Waden eines allmächtigen, gütigen (aber sehr wohl auch des Zornes fähigen) Gottes waren. Von Fischen umschwommen, von Vögeln umschwirrt und von Tigern, Wombats und Affen zärtlich benuckelt …
Und die Künstler malten jetzt, als das Interdikt der Perspektive von Kirche, Staat und Obrigkeit Gnaden-halber endlich aufgehoben worden war, wiederum brav und ergeben – in Erfüllung der neuen Befehle und Notwendigkeiten – perspektivisch. Jetzt erst, obwohl sie es auch früher schon gekonnt hätten, sich jedoch nicht getraut hatten, es zu tun! Das Hemd war den Künstlern wieder einmal näher gewesen als der Pinsel, weil ihnen eben Leib und Leben mehr bedeutet hatten als Leinwand, Farbpulver und Palette.
„Für mich besteht kein Zweifel: Viele Künstler waren im Geheimen längst der Perspektive mächtig“, war Eggermann überzeugt. „Wahrscheinlich – warum auch nicht? – schon, als sie, Jahrtausende früher, etwa bei den altsteinzeitlichen Höhlenmalereien in der Cueva de Altamira (südwestlich von Santander) künstlerisch Hand anlegten. Zumindest Ansätze sind da nachweislich längst schon bemerkbar. Oder: Man denke bloß an Einzeldarstellungen von Tiergruppen in den Chauvet-Höhlen (im französischen Dép. Ardèche in der Nähe von Montélimar)! Und mit ziemlicher Sicherheit wussten auch schon die Maler, Architekten und überhaupt die Kreativen in der ägyptischen, griechischen und in der makedonischen, in der persischen, römischen und in der etruskischen Ära Bescheid über die Perspektive!“
Aus verschiedenen Gründen jedoch, so mutmaßte Prof. Hannes Peter Eggermann, getrauten sich die Künstler, die zumeist auch als Wissenschaftler wirkten und daher von Kirche und Obrigkeit argwöhnisch beäugt wurden und zudem hervorragende Handwerker waren, zwischendurch bloß nicht, ihre Fähigkeit der dreidimensionalen Darstellung öffentlich zu machen. „Es ging da wohl um eine Art Tabu. Erst in Florenz, unter dem aufgeschlossenen Ersten der Bürgerschaft (also einer Art Herzog), Francesco, genannt der Prächtige, aus dem Hause di Jaspi, lockerte sich dieses Verbot dann allmählich. Wie dieser Francesco im übrigen auch andere mehr oder weniger sinnlose Interdikte außer Kraft setzte; etwa das Eheverbot für Uhrmacher. Und unter seinem Sohn, Giovanni, dem Verschwender, schließlich wurde die Perspektive allgemein und grundsätzlich erlaubt.“
(Zu ergänzen wäre, dass dieser Giovanni di Jaspi eigentlich ein schlimmer Finger war. Der völlig zu Recht Verschwender Genannte ließ zum Exempel seine alternde Frau, Mathilda, durch die er überhaupt erst an sein – recte: an ihr – sagenhaftes Vermögen gelangt war, um ihr zu beweisen, wie groß seine Liebe zu ihr sei (haha!), von der Dienerschaft die Treppen des Palasts hinunterwerfen. „Du sollst sehen, dass ich sogar bereit bin, dich zu pflegen, meine Teuerste!“, soll er dazu theatralisch ausgerufen haben. Doch auch seine Diener waren längst zu Verschwendern geworden. Sie hielten mit ihren Kräften nicht Haus und brachen der Alten beim heftigen Stiegensturz versehentlich das Genick. Und so erbte Giovanni wieder einmal einen Batzen Geld. Und verschwendete es binnen kürzester Zeit.)
Auf den verschwenderischen Hurensohn Giovanni, der eines morgens erschlagen aufgefunden worden sein soll (wie der eben so unsympathische legendäre Kaldäer Belsazar im Gedicht Heinrich Heines), folgten dann endgültig die heute noch wesentlich bekannteren Medici, eine Florentiner Bankiersfamilie, die schon im 13. Jahrhundert entscheidend in der allgemeinen Machtsuppe mit rührte und der in der Folge in Lorenzo de‘ Medici, genannt il Magnifico, schließlich die Personifizierung städtischer Omnipotenz schlechthin gelang.
Schon unter Cosimo dem Alten hatten die Mediceer im 14./15. Jahrhundert ihre Position entscheidend ausgebaut; unter Lorenzo dem Prächtigen als Stadtherrn allerdings wuchs Florenz endgültig zum politischen wie kulturellen Zentrum heran – nicht nur der Toskana, wo die Kommune am Arno allerdings noch lange mit Siena und Arezzo um die Führung rittern musste, sondern ganz Italiens. Mit einem Papst (Giovanni de‘ Medici = Leo X.) und einer französischen Königin (Maria de‘ Medici) tat man sich rein dynastisch schon etwas leichter.
Es mag in den Genen der Medici begründet liegen und in ihrem außergewöhnlichem Ehrgeiz oder der an Starrsinn grenzenden Durchsetzungsgabe geschuldet sein, dass es just dieses Florentiner Geschlecht an die absolute Spitze der Macht schaffte und die Sippschaft diese Position auch so lange Zeit zu halten imstande war. Ihre Mitbewerber hatten vermutlich durchwegs auch vergleichbar gute Aussichten und Talente: Ob es die genialen Winzerfamilien wie die Biondi-Santi oder die Ricasoli waren oder die minder eleganten Wegelagerertypen vom Schlag der oben erwähnten di Jaspis, es gelang ihnen immerhin das nicht, was die Medici, wie es scheint: spielerisch, erreichten. Doch – auf ewig bleibt freilich niemand ganz oben. Auch über die machtgeilen Borgias und die Orsinis strich irgendwann der Sand der Geschichte im lauen Wind der Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dahin, nicht wahr?! Also warum sollte es sich im Fall der Mediceer anders verhalten?
„Übrigens, als die Perspektive per Erlass der Bürgerschaft in Florenz eingeführt worden war“, fügte der Kunstgeschichtler, nicht ohne ironischen Ton der Belustigung gesprächsweise, wenn er im historischen Schwadronieren war, an diesem Punkt gern an, „forderte die Obrigkeit sie plötzlich, innerhalb einer Generation geradezu von ihren Künstlern. Ja – kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor?! Sie verordnete, sozusagen, das vormals Verbotene nun mit allem Nachdruck! Und, wehe denen, die sich nunmehr diesem Befehl zu widersetzen wagten …“
Doch da hätten, erläuterte Eggermann, einige Fresken-Maler, Ölpinsler und Mosaiken-Gestalter die, zugegeben anspruchsvolle, wie er zu sagen pflegte: rare Fähigkeit, leider schon wieder eingebüßt. Vergessen. Verdrängt. Verlernt. Sich davon abgewandt.
Vielleicht wieder oder erneut aus irgendeiner dumpfen Angst heraus?
„Andere bemühten sich zwar, lieferten jedoch trauriger Weise bloß ziemlich schwache und nicht selten sogar eindeutig fehlerhafte, ja, geradezu abstoßende Arbeiten. Doch der vermeintliche Fortschritt entpuppt sich ja oft genug als gravierender Rückschritt – wenn es an den Fähigkeiten und am Genie mangelt …“
„Es ist nun einmal so, dass die Spreu stets beim Weizen mitma(h)lt …“, lautete einer der launigen Stehsätze des gewiegten Kunsthistorikers.
*
Eine Ausnahme in mancherlei Hinsicht bildete freilich der Maler Geronimo aus Santa Agatha nahe Florenz, ein Zeitgenosse des großen und (warum auch immer) wesentlich bekannteren Giotto. Er führte die Perspektivmalerei – zumindest in seinem Bereich – zu früher Vollendung. Und: „Geronimo glänzte und strahlte als Künstler – direkt und vor Stolz. Doch, man weiß es: Aller Erfolg schürt – sogleich oder langsam, aber sicher – den Neid der anderen, die meist weit weniger begabt sind, und entfacht ihre wie die allgemeine Missgunst! Alsbald schon kamen denn auch Gerüchte auf, dass wohl der Teufel selbst seine Hand (zumindest mit) im Spiel haben oder womöglich in persona des genialen Malers Pinsel führen könnte …! Gerüchte, eben …, Gerüchte“, leitete Eggermann diesen Mini-Exkurs gern ein, in dessen Zentrum der nun so erfolgreiche Perspektiv-Künstler Geronimo von Santa Agatha stand.
Ach ja, Geronimo sollte die große, umfassende Monographie gewidmet sein, an der Eggermann mit Intensität (und Herzblut) arbeitete; allen Verlagsumschichtungen zum Trotz.
Ein Hindernis technischer Art trat für den Autor Eggermann indes zu allen anderen hinzu: Just Geronimos Werk war nicht nur künstlerisch rar, sondern auch im Wortsinn selten anzutreffen. Erdbeben, wie etwa zuletzt am Ausgang des 20.Jahrhunderts im Kanaltal beziehungsweise im Friaul, hatten die letzten Originalwerke in den vergangenen Jahrzehnten irreparabel beschädigt oder gänzlich vernichtet. Und was es an Kopien oder alten Fotografien gab, war letztlich nur ein Abklatsch, ein schwaches optisches Surrogat ohne Leben, ohne den so notwendigen Saft und ohne die ursprüngliche Kraft …
Der gute Geronimo und sein rares Werk lebten denn auch in erster Linie im Manuskript Prof. Hannes P. Eggermanns und in seinen Vorlesungen zur Perspektive weiter. De facto gab es kaum noch etwas vom pfiffigen Maler aus Santa Agatha bei Florenz zu sehen.
Machen wir es kurz: Der historische Geronimo, der Meister der Perspektiv-Malerei, plusterte sich, wie gesagt, förmlich auf vor Stolz und schlug schiere Pfauenräder der Selbsthuldigung; obschon er angeblich ein bescheidener Mensch gewesen sein soll. Früher einmal.
Seine hübsche, schwarzhaarige und glutäugige Frau Maria versuchte zwar eindringlich, ihn zu besänftigen und den liebsten Ehegatten an gewisse Grenzen von Anstand und Höflichkeit im Auftreten unter Mitmenschen zu erinnern. Doch es half nichts: Der mit einem Schlag so erfolgreiche Mal-Artist hatte, so schien es, paradoxer Weise und im Vollbesitz des Wissens um die Perspektive in der Kunst dieselbe fürs Alltägliche quasi im Gegenzug total verloren.
Zwischen Geronimos geistig-seelischer sowie seiner merklich körperhaft-kunstbeflissenen und vor allem seiner merkantilen Dimension klaffte mit einem Mal eine Lücke, die keine Perspektive dieser Welt auszufüllen imstande gewesen wäre.
Es mangelte ihm an Charakter.
Der ehemals so liebenswerte und umgängliche Künstler, gesellige Käseesser, gewiegte Weintrinker, sympathische Familienvater und einfallsreiche Geschichtenerzähler, wuchs sich zum üblen Geschäftemacher und zu einem Arsch der Sonderklasse aus. Ja, er wucherte in gewisser Weise mit diesem seinem Talent der Perspektive, sie sich just dadurch sukzessive verstellend … Es war ein Graus. (Besonders die arme Maria empfand es so, bei aller verbliebenen Glutäugigkeit immer flacher und gleichsam eindimensional werdend.)
„Ob er wirklich mit dem Teufel eine Absprache getroffen hatte?“, fragte Eggermann, zugegeben: rein rhetorisch, am Ende einer seiner bestens besuchten Vorlesungen zum Thema. „Die Perspektive gibt es immerhin. Zumindest als Konstrukt … Aber den Teufel – – -“
Den Rest ließ er offen, als er, durchaus erhobenen Hauptes (und verhalten akklamiert von seinen weiblichen wie männlichen Studiosi) aus dem Hörsaal schritt.
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Nun, der neuen US-amerikanischen Verlagsleitung, die marketing-technisch total auf Sensationsliteratur und sogenannte Bestseller setzte, wäre es vermutlich am liebsten gewesen, er, Hannes Peter Eggermann, hätte das Hauptgewicht seiner Schilderung vom Leben und der Kunstproblematik des armen Geronimo von Santa Agatha weg auf den kaum möglichen Pakt mit dem ebenso kaum möglichen Teufel gelegt. Oder er wäre, noch besser, gleich auf die – bei aller Grausamkeit – zwischendurch ja zweifellos auch entsprechend pittoresken Hexenprozesse mit-eingegangen bei einer nunmehr an die wahren Intentionen des Verlags angepassten, also ziemlich billigen, grellen, aber vermutlich wesentlich einträglicheren Geschichtsklitterung, der die blöde Perspektive bestenfalls noch als Vorwand dienen würde. Ach, ja: Die glutäugige, schwarzhaarige und vollbusige Maria ließe sich in all ihrer erotischen Pracht natürlich im Optimalfall sogar direkt ins Zentrum des Buchprojekts rücken; da nähmen ihre Dimensionen sozusagen rasch wieder zu, Anachronismus hin oder her.
Apropos Anachronismus: Immerhin erschien der berüchtigte Hexenhammer der wenig ruhmreichen Herren Theologen und Inquisitoren Jakob Sprenger und Heinrich Institoris (recte Krämer) zum Vergleich auch erst 1489 zu Köln. (Initiiert hatte den Malleus maleficarum Papst Innozenz VIII.) Und wollte man – was naturgemäß ohnedies falsch und dummdreist gewesen wäre – die Renaissance selbst an einem bestimmten Zeitpunkt beginnen lassen, so läge der gut 150 Jahre davor. Auch wenn sich die auf die (vor allem griechische) Antike rückbesinnende Kunstepoche wie die furchtbare Hexenverfolgung bis ins 16. Jahrhundert (und, was das unmenschliche, von der römisch-katholischen Kirche gesteuerte und zu verantwortende unsägliche Verhalten sogenannten Hexen und Hexern gegenüber betrifft, noch darüber hinaus) hinzogen.
Die wissenschaftlichen Gegner ließen mit ihrer geharnischten Kritik schon im Vorfeld der Buchveröffentlichung, somit allein anhand der Vorlesungen Eggermanns (und vom Hörensagen), nicht auf sich warten. Besonders der Kollege Horst Argus Vogelgrau aus Halle an der Saale, ein selbsternannter Kenner des Klassizismus, der auch fast 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus sowie dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs noch immer in saftiger (oder trockener, wie man will) DDR-Diktion unliebsam auf sich aufmerksam machte, fuhr Eggermann mit Freuden in die Parade; auch wenn er dabei riskierte, wieder einmal als Ex-Mitarbeiter der Staatssicherheit enttarnt zu werden … Ja, der engstirnige alte Getreue von Erich Honecker & Co., für den Klassizismus möglicherweise eine Abart von Klassenkampf bedeutete, entblödete sich nicht, bezüglich Eggermanns Thesen quasi zum Johann Joachim Winckelmann des 21. Jahrhunderts zu mutieren und von Neuem (gegen alles besseres Wissen und Gewissen, ganz zu schweigen vom Stand der kunsthistorischen Forschung!) einem völlig falschen Antiken-Verständnis das Wort zu reden. Da faselte der Sachse denn auch von der „keuschen Marmorweiße und schier kindlichen Naivität der alten Griechen“, die immer schon „abseits perspektivischer Spielereien ihren klar vorgegebenen Weg gegangen“ seien (O-Ton Vogelgrau), als wäre er zu allem Überfluss auch noch eine Reinkarnation des Joachim Fernau, jenes populärwissenschaftlichen deutschen Griechenland- und überhaupt Welt-Erklärers ad usum delphini. Fernau, dem Eggermann und sein Freund und Fachkollege, der Emeritus Räti X. Strylikon, nur ungern seine Vergangenheit als SS-Kriegsberichterstatter verziehen und über den Gero von Wilpert treffend urteilt, er sei ein „Aufbereiter der Historie in saloppem, schnoddrigen, witzig-sein-sollendem Feuilletonstil mit schalen Witzeleien, geschmacklosen Anachronismen und billigen Simplifizierungen …“ (Wilpert, „Deutsches Dichterlexikon“.)
Ein Glück nur, dass Vogelgrau sich mit dem bizarren Winckelmann nicht auch dessen homoerotische Vorliebe für junge Männer teilte; um hier an Egon Friedell zu erinnern, der meinte: „Und so geht, bei Licht betrachtet, jene ganze fixe Idee des ,Klassizismus‘ zurück auf die sexuelle Perversion eines deutschen Provinzantiquars.“ („Kulturgeschichte der Neuzeit“.)
Freilich, denkt man an Winckelmanns tragischen Tod im Jahr 1768 in Triest – durch die Mörderhand eines Strichjungen -, so kommt in der Tat einiges an Tragik um diesen Mann auf.
Und noch ein Glück, dass Eggermann eben im ehemaligen Fachschaftskollegen und nunmehrigen Emeritus, Prof. Räti Xavier Strylikon, einen Freund besaß, der – in der Sache zwar vorsichtig neutral (immerhin ein Schweizer, gelt ja?!) -, menschlich jedoch hundertprozentig hinter ihm stand.
Ihm war zum Exempel Kollege Horst Argus Vogelgrau immer schon ein Dorn im Auge gewesen mit seiner penetranten Ex-SED-Attitüde. Strylikon, der neutrale Schweizer, hatte da mit Sicherheit ein Gespür dafür … Über Vogelgrau war er – quasi in vogelgrauen Vorzeiten schon – gestolpert, als der großmäulige Sachse zu den Klängen des DDR-Schwanengesangs Ende der 1980er Jahre in Leipzig junger Assistent vom nicht minder verschrobenen alten August Georg Moderbruch gewesen war (ja, Moderbruch, der Doppelagent, wie sich später herausstellen sollte …). Moderbruch hatte die Ost-Berlin wie Moskau (und vermutlich auch Havanna) genehme Wahnsinnstheorie aufgestellt, die Gotik, als „Kunst des werktätigen Volkes“, sei von der Renaissance, „dieser dekadenten Oligarchen- und Adeligen-Kunst“, überrollt worden! Und es gelte nunmehr um alles in der Welt, was nur irgendwie möglich sei, gegen diese westliche Geschmackshohlheit zu unternehmen, die sich hinter der Marke Renaissance verberge! Ja, man ergriff in der Spät-DDR sogar Partei für die bisher grosso modo abgelehnten gotischen Madonnen-Darstellungen in Plastik und Malerei; und besonders die raren Beispiele für schwangere Gottesmütter erfuhren eine erstaunliche Aufwertung – als „sichtbares Zeichen der Verbundenheit dieser sendungsbewussten, charakterstarken und in sich ruhenden Frau mit der nicht minder sendungsbewussten, charakterstarken und in sich ruhenden Arbeiterin und Bäuerin“! Kurz: „Schwangere, Soldaten und Parteifreunde vor!“
Noch blöder (oder zumindest gleich blöd) war bloß noch der Wiener Kollege in der Schar der bizarren Kunstgeschichtler, dieser ominöse Franz Josef Silberstreiff, der aus heiterem Himmel darauf drängte, die Anfänge der Abstraktion in der Malerei doch bitte gefälligst in der merowingischen oder in der karolingischen Zeit ansetzen zu wollen. Fazit: Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch wurde – zumindest symbolisch – zum Hofmaler Pippin des Kurzen, und der Suprematismus beerbte kühn die Spätromanik … Nachdem der verblödete Kunsthistoriker von der schönen blauen Donau Malewitsch‘ berühmtes schwarzes Quadrat auf weißem Feld von 1913 über Jahre hindurch schier überall – unter anderem sinniger Weise auch im Dom zu Aachen – gesucht hatte, landete Silberstreiff allerdings in einer Spezialklinik, aus der er auch heute noch hin und wieder Briefe und Mails an Gott und die Welt sendet …
Ja, Strylikon wusste, warum er diese geistig verzwergte Gesellschaft ablehnte.
Und er war einer, der Vogelgrau, Winckelmann, Fernau, Honecker, Silberstreiff & Konsorten partout nicht ausstehen konnte.
2
Als die würdigen Professoren Eggermann und Strylikon wieder einmal im gemütlichen Gastgarten einer nahen Gastwirtschaft (es war weder das touristisch überlaufene und daher bei den eingeborenen Münchenern und ihren hier auch schon länger ansässigen Gästen weniger beliebte Paulaner– noch das Hof-Bräu) Platz genommen hatten, sprach man (zunächst) nicht von der Perspektive, sondern ganz allgemein vom klein-italienischen politischen Getue, das bekanntlich immerhin auch einigen Reiz vermittelt. (Wenn man politische Kapriolen witzig finden möchte.) Und das war von den toskanischen Grabenkämpfen zwischen den Familien der di Jaspi, Medici, aber auch der Ricasoli, der Remouladi, Bonaventura, der Placci und all den anderen Dynastien bestimmt. Übrigens: schon im Mittelalter. Weitestgehend regierten, wie nicht anders zu erwarten, Intrigen und gegenseitige Beschuldigungen; also herrschte kleinflächige und kleinkarierte – Diplomatie.
Allerdings auch von Freundschaften ließe sich berichten, die diesen Ausdruck nicht immer verdienten, von erstaunlich bald wieder brüchig gewordenen Bündnissen und von jeder Menge unreinen Herzens gestifteter Ehen. Und ganz allgemein von Mord und Totschlag.
Später dann, in der Renaissance, zumindest zwischenzeitlich eindeutig von den Mediceern dominiert, hatte sich Florenz nicht nur gegen die wichtigen Konkurrenten Siena und Arezzo durchgesetzt, sondern auch innerhalb ganz Italiens seine unbestrittene Position als (wenn auch nicht nominelles) politisches wie kulturelles Zentrum erstritten. Was so bleiben sollte bis ins 19. Jahrhundert hinein, als dann endlich das ohnedies äußerst fragile neue Königreich des Viktor Emanuel II., zugegeben: weitgehend ohne echte Basis und hauptsächlich durch diverse Kompromisse, etwa mit dem populären Freiheitskämpfer Giuseppe Garibaldi, gestützt, zusammengekleistert wurde. (Eine gewisse Operetten-Staatlichkeit blieb auch unter Viktor Emanuel III. bestehen, der sich 1915 für den Kriegseintritt Italiens entschied.)
Da hatten die armen Italiener immerhin schon das Langobardenreich Ottos I. (ab 951) überstanden sowie die Normannen-Einfälle in Unteritalien und Sizilien und die von den neuen Herren ausgehenden Bemühungen, hier die deutsche Reichsgewalt wiederherzustellen – man denke bloß an die Staufer Friedrich I. (Barbarossa) und Friedrich II. – hinter sich gebracht; der Spuk war dann erst mit dem Tod Konrads IV. (1254) fürs Erste weitgehend beendet.
Doch auch Frankreichs Machtübernahme durch Karl I. von Anjou brachte erneut manche politische Unbill. Und kam die einmal nicht von außen, dann schufen sich die konkurrierenden inner-italienischen Parteien eben, darin überaus erfolgreich und zielstrebig, ihre Schwierigkeiten selber.
Der Kulturfaktor freilich blieb weitestgehend unbestritten.
„Lieber Hannes“, Räti X. Styrlikon stellte seine Maß nach einem langen guten Schluck auf den Tisch vor sich zurück, der in den braven weiß-blauen Karos des Tischtuchs jede Menge Sicherheit fürs gemütvolle Trinken ausstrahlte, und hakte mit bewährter Schweizer Präzision nach. „Haben sich die Medici und die anderen alten Geschlechter nicht doch auch wohltuend von den Berlusconis von heute unterschieden?! Abgesehen vom Investieren vielleicht. Obwohl das viele Geld beim alten Hurenbock Silvio vermutlich weit weniger in zeitgenössische Kunst geht als viel mehr in junge Nutten …“
„Ja, da bin ich bei dir! Mit Mäzenatentum haben die heutigen Nachfolger früherer Eliten in der Politik allenthalben kaum mehr etwas am Hut; nicht nur in Italien nicht. Doch in Sachen Peinlichkeit ist der alte Racker zugegeben immer noch ein Meister! Alle Achtung!“ Auch Eggermann nahm einen kräftigen Schluck. „Wo der bloß die Energie hernimmt?!“
Dann fuhr er indes mit seinen Überlegungen fort, eine optimale Metropole Italiens betreffend. Denn, angenommen, nicht Florenz hätte im Wettstreit mit Siena (und Arezzo) den Sieg davongetragen? Stünde vielleicht eben dieser schmucken Stadt Siena, die im 12. Jahrhundert zur unabhängigen Republik geworden war, bevor sie 1557 an das Herzogtum Toskana fiel, vielleicht die Rolle zumindest der Metropole dieser ganzen herrlichen Provinz nicht gut zu Gesicht? Eggermann schwelgte kurz im Irrealis. Allein das berühmte Pferderennen, der Palio (am 2. Juli und am 16. August) auf der muschelförmigen Piazza del Campo vor dem imposanten Palazzo Pubblico und dem gewaltigen Torre del Mangia, spräche dafür! (Übrigens: ein Ambiente, das förmlich nach der Fischaugen-Perspektive rief!)
Welch buntes Bild, wenn die Vertreter der 17 Contraden den ganzen Tag über schon in ihren farbenfrohen Trachten, mit den bizarren Motiven auf den Fahnen und den dicken Rössern aufmarschieren! Lupa, Chiocciola, Leocorno, Aquila, Drago – also: Wölfin, Schnecke, Einhorn, Adler, Drache – und Co. vertreten dabei die Bezirke aufs Beste. Sie demonstrieren, bei allem verständlichen Konkurrenzdenken, tatsächlich noch innigen kommunalen Zusammenhalt. Und der geht tatsächlich weit über die konzertierte Schröpfung fotogeiler Touristen mittels kulinarisch meist unbefriedigender Pasta und oft genug bloß mäßigen Weins zu überhöhten Preisen hinaus. Immerhin läuft den angesichts von so viel Geschichtsträchtigkeit staunenden Fremden allein ob des hier allenthalben zur Schau gestellten folkloristisch-historischen Überflusses das Wasser im Mund zusammen.
Der Palio! Beim knapp 100 Sekunden und drei Runden dauernden Rennen selbst kommen freilich nicht die dickärschigen und gemütlichen Bezirksgäule zum Einsatz, sondern die edlen und teuren Halbblüter, die Barberi, die von Profi-Jockeys, den Fantini, geritten werden und dem seidenen Band, das ebenfalls Palio heißt, hinterher hecheln.
„Übrigens soll es in einer der vielen Sieneser Kirchen eine großartige perspektivische Darstellung eines Palio gegeben haben, gemalt von Geronimo von Santa Agatha“, rundete Eggermann seinen Exkurs ab.
„Hört, hört“, erwiderte Strylikon kurz.
„Das Bild gilt aber leider als verschollen …“, fügte der Kämpfer für seine Hypothese in Sachen Perspektive ein wenig kleinlaut an.
„So ein Zufall“, murmelte der Schweizer Kollege, indem er zum Bier griff. „Oder?!“
*
War Rom also tatsächlich notwendigerweise die alte und neue, die permanente italienische Kapitale? Durften nicht eher Kommunen wie Florenz bei der Frage der Führung mitreden? Oder Turin, die pulsierende Metropole des Piemont, eingebettet in olfaktorisch so raffinierte Trüffeln, optimal gereiften Käse und die phantastischen Weine? Auch wenn man von hier die meiste Zeit sehnsüchtig nach Frankreich geschielt hatte (was in der Tat wenig überzeugend nach Nationalismus aussehen mochte). Und: Wartete nicht just diese alldieweil so aufmüpfige Region im Nordwesten zur Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem tüchtigen liberal-konservativen Real-Politiker Camillo Benso Graf von Cavour auf, dem einiges an Wichtigem zur Einigung Italiens (vor allem gegen Österreich!) einfiel und auch gelang?
Oder: Man erküre sich die ehemalige Lombardei zum Zentrum Italiens, die Lombardei mit ihrer pittoresken Kapitale Mailand, an der nicht nur ihn, den Kunsthistoriker Eggermann, auch anderes noch als der formidable weiß-marmorne Dom faszinierte. Etwa die üppige fünfgeschossige Galleria Vittorio Emanuele II., diese exquisite Shopping-Meile.
Ach, das erinnere ihn nebenbei auch immer noch an seine Exfrau, die überspannte Botticelli-Susanne (pflegte Eggermann mit den Augen zwinkernd zu sagen), die glaubhaft schilderte, allhier, beim Wühlen in den angeblich traumhaft schönen, auf alle Fälle sündteuren Designer-Schuhen, multiple Orgasmen bekommen zu haben. Nein, Mailand überhaupt fand er faszinierend. Teatro alla Scala und Piccolo Teatro eingeschlossen.
Oder gar das ansonsten so stolz in seiner selbstgewählten Solitüde vor sich hin trauernde Venedig? Ja, die Serenissima kam ihm, Eggermann, überhaupt wie eine beleidigte Leberwurst auf Pfählen vor, süßlich und weinerlich den eigenen langsamen Nieder- und Untergang bis hin zur pittoresken Agonie thematisierend unter apokalyptischen Lach-Eruptionen eines elegant-makaber gedämpften Todeskarnevals … Gut, viel schöner drückte es freilich Goethe aus, der die wässrige Kommune am 28. September 1786 „abends, nach unserer Uhr um fünfe“ erstmals „aus der Brenta in die Lagunen einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberepublik betreten und besuchen sollte“ („Italienische Reise“). So wirkt dieses Architektur-Armaggedon eben auf jeden anders.
Oder besser noch – das ordinäre Neapel, diese sukzessive zur unbestreitbaren Drecksstadt gewordene Ansammlung von a priori Kloakigem und Dreckigem? Von früh schon und von selbst Verfallendem? Bei aller Freude am Prallen und Pittoresken: Neapel, diese zu groß geratene Menschen-Pizza (mit dem Vesuv als ewig zumindest ein klein wenig qualmendem Arschloch in der Mitte)?
Oder das unheimliche Messina? Vielleicht noch ärger – Palermo? Überhaupt: Sizilien! Immer mit irgendwelchen Staufern oder Hohenzollern verbandelt und verschwägert …, oder gleich mit der Mafia! Immer irgendwelchen halbseidenen Adelsgesindels Spielball … Unanständig direkt! Und wieder die Neapolitaner! Hier sah er sich eins in der Kritik, die Umberto Eco seinem Helden Simon Simonini („Der Friedhof in Prag“) in den bösartigen Mund legt. Die Neapolitaner, „die selber so etwas wie Mulatten waren (…) aufgrund der Geschichte von Generationen, Ergebnis der Kreuzung von zwielichtigen Levantinern, verschwitzten Arabern und degenerierten Ostgoten, die jeder das Schlechteste von ihren hybriden Vorfahren mitgebracht hatten …“ Ach!
Aber – musste es wirklich und tatsächlich Rom sein? Dieser weitestgehend verkackte und besudelte Ekel-Moloch rund um den vor lauter Weihwasser und -rauch, falschen Schwüren und gebrochenen Versprechen trotz so einmaliger und blendender Architektur schon richtiggehend abstoßend wirkenden Vatikan? Die Riesenstadt mochte zwar wortwörtlich jede Menge an untergegangener Kultur, sagenhafte Reserven an skurrilen Ruinen, an zweifelhaften antiken Wahrzeichen sowie an bizarren Relikten und – nicht zu vergessen – unverkennbar frischer Hundepisse aufweisen sowie alle möglichen Lemuren beherbergen zwischen Brunnen, Treppen und Kaschemmen; für Gegenwart und Zukunft schien hier, am Tiber, leider kaum mehr Platz zu sein zwischen all den halbverfallenen Giebeln, angekohlten Säulen, abgebröckelten Friesen und dem still vor sich hin verwesenden braunen Gras.
Wofür allein diese Stadt geeignet war, sollte sich dann nach dem Ersten Weltkrieg erweisen: als Kulisse für das abstoßend-inhumane Polit-Theater eines penetrant ekeligen und engstirnigen Volkstribunen, eines hemdsärmligen Proleten von geringer Körpergröße und fauniger Statur, richtig: für diesen aber schon ganz besonderen Geisteszwerg Benito Mussolini. Auch wenn er sich noch 1938 beim pompösen Besuch des Führers und Reichskanzlers aus dem ach so befreundeten Deutschland mit großem Gefolge in Rom dem Abschluss eines dezidierten Bündnisses verweigern kann: Der Rest, die unselige Achse intimster Seelenverwandtschaft zum anderen Kleingeist und größenwahnsinnigen Massenmörder, zum in Alt-Österreich geborenen Deutschen Adolf Hitler, ist längst nicht mehr Schweigen (à la Hamlet), sondern das Inferno von Blut und Feuer …
Und dann noch Habsburg! Das war, zumindest indirekt, mit schuld an all diesen traurigen Entwicklungen und hatte seinen unsäglichen Anteil an den Katastrophen. Denn egal, ob sie zu früh starben oder zu spät (also eigentlich weit nach ihrer Ära) – diese angeblich apostolischen Herrscher aus einer kuriosen Mischpoche traten immer zum falschen Zeitpunkt ab!
Italien, dem mental, geistig, wirtschaftlich und entwicklungsgeschichtlich durchgehend gespaltenen Land, hatte die Politik des Herrscherhauses in Wien, nie aus der Dauerkrise zu helfen versucht. Keine unterstützende Hand. Nicht mal Anstalten dazu wurden getroffen.
Ja, die Österreicher! Sahen auf ihren eigenen Vorteil, fraßen ihr Wiener Schnitzel mit gesüßtem Kartoffelsalat und soffen ihren sauren Wein dazu. Beanspruchten alles und jedes für sich, was ihnen vorteilhaft oder ihren Zwecken dienlich schien; schworen jedoch aufs Entschiedenste allem ab (und absentierten sich lautstark davon), was für sie Nachteile bergen oder ihnen bringen, vielleicht auch ihrem Image schaden konnte; oder was nicht entsprechend glamourös zu wirken versprach. So glaubten sie nach 1945 gern, dass ihr Landsmann Adolf Hitler nicht nur ein Betriebsunfall, sondern außerdem ein böhmischer Gefreiter gewesen sei.
Im Gegenzug bürgerten sie mit Vorliebe längst verstorbene Komponisten ein; von Wolfgang Amadé Mozart aus dem Erzbistum Salzburg über den in Bonn geborenen Ludwig van Beethoven bis zum deutschen Dauersommerfrischler Johannes Brahms. Dafür sorgten sie sich – nach seinem wenig glorreichen irdischen Abgang – immerhin um ihren Schubert Franzl, der ja nun tatsächlich an der Donau geboren worden war. Und um den Strauß Schani.
Apropos Schubert: Gegen den nur 1,55 Meter großen Musik-Titanen hatte schon der Über-Dichter der Deutschen (und Eckermann-Chef) Johann Wolfgang von Goethe übel gehandelt, als er eine ihm – über Schuberts Freund Josef von Spaun – von Wien aus zugesandte Mappe mit genialen Vertonungen von sechzehn seiner Gedichte („Erlkönig“, „Heidenröslein“ et cetera) ignorierte, ja, ohne Begleitschreiben aus Weimar zurückgehen ließ. Vermutlich glaubte der Dichter-Fürst, seiner Lyrik sei durch Vertonungen lokaler deutscher Zeitberühmtheiten wie Johann Friedrich Reichardt oder Karl Friedrich Zelter besser gedient.
Am Ende fehlte Goethe, der sich vom Zwischenkieferknochen über die Farbenlehre und den „Faust“ bis zur „Werther“-Mode um so ziemlich alles kümmern zu müssen glaubte; dazu auch noch das Weimarer Hoftheater, die Universität Jena und das unterschiedlich lukrative Bergwerk von Ilmenau – am nordöstlichen Fuß des Kinkelhahns am Oberlauf der Ilm gelegen – beaufsichtigte, wo man silberhaltigen Kupferschiefer abbaute; sowie um die kapriziöse Dauerfreundin, Charlotte von Stein, zu sorgen hatte, hin und wieder vielleicht doch der Überblick. Jedenfalls setzte Schubert insgesamt 64 Goethe-Gedichte effektvoll in Töne. (Wie Friedrich Weissensteiner in seinem Buch „Klein und berühmt“ berichtet.)
Er, Eggermann, wusste, wenn er über Österreich schimpfte, worüber er da loszog: Seine Exfrau stammte nämlich aus Wien. Susanne Navratil hatte sie damals geheißen, und in den 1980ern, als er junger Assistent bei August Wilhelm Molchzahn an der Uni Heidelberg gewesen war, hatten sie einander kennengelernt. Ein Fiasko bahnte sich da an, das immerhin fast sechs Jahre dauerte und an dem die es abschließende Scheidung noch das Lustigste war. Ja, das Eheende uferte – zumindest nach seiner, des gestandenen Franken Auffassung – wenigstens gleich in eine feucht-fröhliche Feier aus („a Hetz’“ und „a Drahrarei““, wie man in Wien zu solchen umfänglichen Besäufnissen mit fugenlos anschließender Heurigen-Partie et cetera zu sagen pflegte …) Das war übrigens sein letztes Wien-Gastspiel für lange Zeit. Und Susanne, die dereinst so attraktive und hübsche Susanne, sie war nunmehr Geschichte.
Prof. Hannes P. Eggermann, nach wie vor ein großer Verehrer alles Weiblichen, ließ sich noch auf so manche nicht ganz ungefährliche Affäre oder auf diverse halbwegs amüsante Beziehungen ein; doch etwas Fixes mied er fürderhin wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser. Nein, nur keine feste Bindung mehr!
O ja, sie war eine Schönheit gewesen, Susanne. Beinahe schon makellos. Vom rötlich blonden Lockenhaar der populären Venus des großen Florentiners Alessandro di Mariano Filipepi, alias Sandro Botticelli, bis zu deren allersüßesten Zehen! Und erst so vieles dazwischen …
Aber – ein Biest. Und mit Biestern hatte es die ganze Wiener Schwiegerfamilie.
Der Theo Navratil, der Vater der Venus, war ein alter Nazi und betrieb in der Donaumetropole, in der Nähe des Naschmarkts, ein Geschäft. „Navratil’s Fischereizubehör“ hieß der angeblich auf Angler-Accessoires spezialisierte Shop. Vermutlich beschäftigte sich Theo, der es als blutjunger Hitler-Enthusiast noch schnell zur Waffen-SS geschafft hatte, überhaupt mit dem Fischereisport, weil man da immerhin (und ohne sogleich mit dem Gesetz gegen Wiederbetätigung im Sinne des Nationalsozialismus zu kollidieren!) ungestraft „Heil!“ rufen durfte, nämlich „Petri Heil!“ … „Aber so ein arg dicker brauner Fisch war er eigentlich gar nicht, der Theo“, relativierte Hannes P. Eggermann seinem Schweizer Freund und Kollegen gegenüber das gerade erst Gesagte, „eben ein – Mitschwimmer. Wie all die Tausenden anderen, die irgendwann, bald nach 1945, sogar gleich wieder gerne glaubten, ihr Adolf habe Österreich anno 1938 annektiert und in Wahrheit sei der Staat ohnehin das erste Opfer dieser braunen Wahnsinnspolitik und des Knallkopfes an der Spitze gewesen. Der Theo war ein ,Herr Karl‘, gleichsam, als Fischer getarnt. Ein Fischer in trüben Gewässern allerdings. Der breiteste Dialekt Favoritens diente ihm als höchstpersönliches Anglerlatein.“
Sie, Susanne, hatte bald nach der Eheschließung ihre recht berechnende Seite hervorgekehrt. Und, dreh um die Hand, war sie ihm mittels eines Kollegen von der Altphilologie abhanden gekommen („Quidquid id est, timeo Danaos et dona ferentes“, Vergil, „Aeneis 2, 49).
*
Gut, die Habsburger – egal, ob der unglückliche Kronprinz Rudolf, schwankend zwischen Geschlechtskrankheit, Sex-Besessenheit und Schwärmereien, den man überhaupt besser seiner größten Leidenschaft, der Ornithologie, hätte sollen nachgehen lassen. Oder vorher schon – Max, der eitle aber glücklose Kurzzeit-Kaiser von Mexiko, der es so gerne seinem älteren Bruder Franz Joseph gleichgetan hätte; und final, gleichsam am Ende einer von den Franzosen recht geschickt eingefädelten politischen Fata Morgana mit goldenen Borten und Troddeln, vor einem finsteren Erschießungskommando landete. Oder der wild-wütige Hobby-Jägersmann, Thronfoger Franz Ferdinand, den im Jahr 1914, irgendwie recht passend: fast in der Höhle der serbischen Terror-Löwen, nämlich im benachbarten Sarajewo, der Tod erwartete. Wie auch seine Frau, die von den Habsburgern als unstandesgemäß empfundene böhmische Gräfin Sophie Chotek. (Die bei jeder Gelegenheit Gedemütigte hatte mit dem Thronfolger nur eine morganatische Ehe eingehen dürfen, was für sie und die gemeinsamen Kinder den Verlust von Erbfolge und Thronrechten gebracht hätte.)
Dass schließlich – 1916 starb der alte Kaiser dann doch in Mitten des Kriegsgeschehens, immerhin 86jährig – der junge, tugendsame, streng katholische und überaus fromme Karl, Sohn eines ausgesprochenen schwarzen Habsburger-Schafes, nämlich des berüchtigten Kaiserneffen, Säufers und Hurenbocks Erzherzog Otto, kurz zum letzten Kaiser Österreichs und König Ungarns gekrönt wurde, entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Da war zwar ohnehin schon alles verspielt, was man nur hatte verspielen können; doch auch der deklarierte Kriegsgegner und sympathisch-naive Friedensfreund, der Habsburgs letzter Herrscher ohne Zweifel war, konnte das grauenvolle (und sinnlose) Blutvergießen nicht von sich aus beenden.
Kaiser Karl, der 1922 auf Madeira im Exil starb, wurde immerhin mehr als 80 Jahre später, anno 2004, von Papst Johannes Paul II. in den Kreis der Seligen aufgenommen.
Habsburgs Tod freilich war schon mit dem Kriegsende von 1918 eingetreten. „Das Finale zu einer (vermutlich längst schon unspielbar gewordenen) Farce“, schloss Eggermann seine diesbezüglichen Ausführungen vorläufig ab, „einer Farce, in der ein seniler, a priori kaum je sensibilisierter Herrscher und seine divergenten Untertanen-Völker ihre Rollen längst nicht mehr ordentlich zu spielen vermochten. Ungewünschte Pointe: der Erste Weltkrieg. Ja, die Habsburger zogen gern mal eine Schneise der Verwüstung hinter sich her, in die sie sich als typische Kollateralschäden auch immer wieder gleich miteinbezogen …“
„Die Habsburger“, nahm Prof. Strylikon den Gesprächsball mit Bravour auf, „angeblich ein recht ambitioniertes Grafengeschlecht. Übrigens: aus unseren Schweizer Bergen, zunächst ansässig auf ihrem im Jahr 1020 über dem rechten Aare-Ufer (südwestlich von Brugg) erbauten Stammsitz Habichtsburg …“ Dann orderte er bei der vollbusigen, rund-rosigen Kellnerin Chantal zwei neue Biere. „Aber in Italien verstanden sie es in der Tat, aus diversen politischen Gegebenheiten, unabwägbaren Situations-Kombinationen und schlichten historischen Zufällen, wie auch immer – dabei allerdings jedes Mal auf dem Rücken der unterdrückten Bevölkerung – das größtmögliche Kapital zu schlagen. Und sie waren stets als erste zur Stelle, ergab sich wo die günstige Gelegenheit, sich fremde Gouvernements anzueignen, die sie eigentlich gar nichts angingen, sowie üppige Positionen und dicke Pfründe an sich zu reißen. So wie sie Jahrhunderte vorher schon alles zusammen-geheiratet hatten, was nicht rechtzeitig geflüchtet war. So mehrte man Reichsbesitz und Macht in Europa.“
„Bella gerant alii, tu felix Austria nube!“, warf Hannes P. Eggermann ein, das Versmaß schön betonend. („Kriege mögen andere führen, du, glückliches Österreich, heirate!“: Das Wort, insgesamt eigentlich ein Epigramm, das auf Österreichs erfolgreiche Heiratspolitik unter Kaiser Maximilian I. anspielt, geht in seinem Ursprung auf Ovid zurück.)
Strylikon nickte zustimmend. „Eine weitere Spezialität der famosen Habsburger: Sich dann im Anschluss daran jedoch kaum und Land und Leute zu kümmern. Die fetten Dividenden aus den Besitztümern war man freilich stets gern bereit zu ziehen, aber sonst …“
Die Biere kamen und wurden dankend akzeptiert.
„Du bist und bleibst ein zweiter Wilhelm Tell, mein Lieber“, schmunzelte Eggermann, dem Freund zuprostend.
*
„Etwas anderes“, warf Emeritus Strylikon plötzlich ein, „das ich dich längst schon einmal fragen wollte: Warum schreibst du dich Eggermann, obwohl du doch nachweislich mit dem berühmt-kuriosen Goethe-Famulus Eckermann verwandt bist? gibt’s da Berührungsängste?!“
„Weißt du“, rutschte der ein paar Jahre jüngere Gelehrtenkollege auf seinem Gastgarten-Sessel ein wenig verlegen, wie es schien, hin und her, als bereite ihm das Thema Unbehagen. „Da gab es am Beginn des 19. Jahrhunderts erhebliche Zores zwischen dem Johann Peter Eckermann, der übrigens ein sehr begabter Zeichner gewesen sein soll, und einem seiner Halbbrüder, meinem Ururur(…)großvater August Wolfgang. Und da zog letzterer mit seiner jungen Familie schließlich im Groll weg von Hamburg, wo sie damals lebten. Und diese Familie Eckermann sollte sich später dann Eggermann nennen …“
„Und“, wollte Räti Xavier Strylikon noch wissen, „drehte sich der Streit im Goethe?“
„Nein. Von Goethe war da längst weit und breit noch keine Spur im Leben meines Ururur(…)großonkels. Es ging, glaube ich, um eine geringfügige Erbschaft …“
Also, Johann Peter Eckermann schreibt zu seiner Herkunft und zu seinem Werdegang unter anderem: „Zu Winsen an der Luhe, einem kleinen Städtchen zwischen Lüneburg und Hamburg, auf der Gränze des Marsch- und Haidelandes, bin ich zu Anfang der neunziger Jahre (des 18. Jahrhunderts, Anm.) geboren, und zwar in einer Hütte, wie man wohl ein Häuschen nennen kann, das nur einen heizbaren Aufenthalt und keine Treppe hatte, sondern wo man auf einer gleich an der Hausthür stehenden Leiter unmittelbar auf den Heuboden stieg.“ (Johann Peter Eckermann, „Gespräche mit Goethe …“)
„Als der Zuletztgeborene einer zweyten Ehe, habe ich meine Eltern eigentlich nur gekannt wie sie schon im vorgerückten Alter standen“, erinnert er sich weiter, „und bin zwischen beyden gewissermaßen einsam aufgewachsen.“
Da gab es zwar noch zwei Brüder aus des Vaters, eines eher dürftigen Hausierers und wenig begüterten Handlungsreisenden, erster Ehe; von denen war einer – just Hannes P. Eggermanns Ururur(…)großvater – „nach mehrmaligem Aufenthalt zum Walfisch- und Seehunde-Fang in Grönland, nach Hamburg zurückgekehrt“, wo er unter „mäßigen Umständen lebte“. Der zweite Bruder war Matrose gewesen, „in fernen Welttheilen in Gefangenschaft gerathen und verschollen“. Doch der begabte Knabe und später so brauchbare Sekretär und Gesprächspartner des gealterten Dichterfürsten wuchs als Kind tatsächlich irgendwie solitär auf. Da änderte es auch nichts daran, dass es noch zwei Schwestern aus der zweiten Ehe gab; befanden sich die, als Eckermann zwölf war, doch schon außerhalb des väterlichen Hauses, da sie „theils im Orte theils in Hamburg dienten“.
Ja, Johann P. Eckermanns Karriere verlief, dank Goethes Hilfe, für den aus denkbar ärmlichen Verhältnissen Stammenden ab 1824 unverhofft steil; auch wenn den äußerst Ambitionierten sein berühmter Arbeitsgeber finanziell durchwegs kurz hielt, wie Rüdiger Safranski in seiner Dichter-Biographie („Goethe“, München 2013) anmerkt. Dafür verschaffte er dem treuen Gesprächspartner und Sekretär, der alsbald an die Spitze des Goetheschen Mitarbeiterstabes trat, immerhin „einen Ehrendoktor in Jena und beriet ihn bei der Haartracht, der Kleidung und dem äußeren Auftreten“ (Safranski).
Der Halbbruder August Wolfgang war mit Johann Peter also fast ein Jahrzehnt davor in Streit geraten und verließ wenig später erbost Hamburg. Er zog nach Franken, genauer: in die unterfränkische Metropole Würzburg.
„Und ein schlampiger Pfarrer tat noch das Seine dazu und verwandelte die zugereisten Eckermanns bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit, nämlich einer Kindstaufe, endgültig urkundlich (und sogar amtlich besiegelt) in Eggermanns. Und das blieben wir denn auch bis heute“, schloss Hannes P(eter) seine melancholische Erzählung.
„Prost, aufs Wohlsein“, hob Strylikon seine Maß.
„Prost“, tat es ihm, schon wieder besser gelaunt, der Perspektiven-Eggermann gleich.
3
Dem namhaften Kunsthistoriker Hannes P. Eggermann, dem Ururur(…)großneffen des Goethe-Sekretärs und Privatgelehrten Johann Peter Eckermann also, wurde es immer wieder schwer ums Herz, gedachte er des (an sich doch kunstgeschichtlich und auch sozial-politisch überaus interessanten) Übergangs von der Spätgotik zur Renaissance – besonders in Hinblick auf die Toskana. Auf Florenz. Und auf seinen Geronimo aus Santa Agatha.
Hatte der begabte Maler nun tatsächlich – wie Eggermann immerhin öffentlich behauptet und sich damit wissenschaftlich einigermaßen exponiert hatte – altbekanntes, aber verschüttetes Kunstwissen wieder-erweckt? War also die Kenntnis der Perspektive – denn um die ging es hier – tatsächlich längst (ja: vielleicht von Anbeginn der Menschheitsgeschichte?!) vorhanden gewesen? Hatten die Kirche, der Staat, die Obrigkeit, wie auch sonst üblich und aus welchen Gründen auch immer, nur irgendwann verboten, perspektivisch zu zeichnen und zu malen?
Letztlich war es unwichtig, ob die Künstler ihr Können sozusagen immer schon im Auge getragen hatten und jetzt endlich und auch für alle anderen, die selbst ohnedies nicht kreativ waren, sichtbar machen durften; oder ob sie sich, wie die vielen Gegner dieser Ansicht und mehr oder minder beinharten Kontrahenten Eggermanns glaubten, erst tastend und in Stufen dieser einigermaßen anspruchsvollen Sicht- (und in der Folge auch Mal-)weise annäherten. Apropos anspruchsvolle Sichtweise: War denn in Wahrheit die zur Abstraktion hin tendierende Technik des Weglassens (zum Beispiel eben der Perspektive) nicht wesentlich anspruchsvoller, als es ein reines Abmalen der Natur – etwa per Raster, später die Abbildung in der Fotografie – je hätte sein können? Immerhin, dessen war sich Eggermann stets bewusst, handelte es sich bei der perspektivischen Zeichnung um eine Darstellung eines gesehenen Bildes – nicht jedoch der Realität selbst; denn in dieser hatten Parallelen nun einmal parallel zu bleiben, waren rechte Winkel rechte Winkel; per definitionem und de facto.
Lag also, wenn überhaupt, das Mystische nicht so sehr in der Perspektive, sondern vielmehr im Versetzen des Räumlichen in die Ebene ohne Umweg über die Illusion?
Dann könnte, wenn es ihn gäbe, zwar der Teufel immer noch seine Hand im Spiel haben; doch elementar wäre das faktisch nicht. Wie überhaupt die mehr als fragwürdige Mitwirkung dieses mehr als fragwürdigen Gesellen eigentlich kaum von Bedeutung sein mochte.
Eggermann horchte kurz, ob es nicht vielleicht in der Nähe irgendwo donnerte.
Nein, diesmal nicht.
*
Hannes Peter Eggermann sah die Malerei – sei sie nun perspektivisch, naiv oder abstrakt -, wie übrigens ganz allgemein jede Kunstausübung, auch unter einem eminenten sozialen Aspekt. Die ganze Kreativität und die Entfaltung künstlerischer Talente und Fähigkeiten verlief, davon war er überzeugt, im Norden anders als etwa im Süden. Betrachtete man lediglich das Europa in seiner EU-Ausdehnung nach 2010, so war ein erstaunlicher Unterschied im Herangehen (auch) an künstlerische Probleme im Norden, also in Finnland, Norwegen und Schweden, oder im Osten, etwa bei Polen, Tschechen, Slowaken, im Westen, also bei Franzosen, Engländern, auch Österreichern und Deutschen, und im Süden, bei Italienern, Spaniern, Portugiesen oder Griechen, zu beobachten. Da unterschieden sich allein schon die Zugangsweisen – mal forsch, mal gemütlich, wie auch die innere Haltung zur Arbeit: von ehrgeizig und verbissen bis lustvoll locker … Ähnlich wie in wirtschaftlichen Belangen oder im als selbstverständlich erachteten Anrecht auf ausgiebige Nachmittagsruhe oder nicht minder als Gott-gegeben angesehene überbordende Lust auf spätabendliche Aktivität lagen hier beträchtliche, ja: kaum zu überbrückende Auffassungsunterschiede vor.
Da ging es um Freiheit und Anpassung, um das Lob der Bequemlichkeit und wirtschaftliches Kalkül, um Lebenskunst und Arbeitswut … Da herrschten ganz verschiedene Temperamente vor, da waren die empirischen Gegebenheiten völlig unterschiedlich. Und eben diese Divergenzen bedeuteten – neben den noch um einiges gravierenderen Differenzen zwischen den Nationalstaaten – eine der größten Herausforderungen an die Europäische Union dar.
Auch darin, wie man überhaupt zur Arbeit, diesem kuriosen semi-abstrakten Begriff, zu stehen habe, unterschied sich der Norden himmelweit vom Süden. Arbeitete man, um leben zu können, oder doch umgekehrt?! Und Eggermann hielt es folgerichtig auch für eine geradezu beschämende Arroganz etwa der Deutschen, zum Beispiel den Griechen ihre – zugegeben nicht selten an totales Laisser-faire erinnernde – Auffassung von Arbeit und Leistung anzukreiden: Die waren nun einmal eben keine Kerle, die lebten um zu arbeiten!
Doch ob sein geheimnisvoller Geronimo aus Santa Agatha tatsächlich als ersehnter Identitätsstifter in Fragen der geheimnisvollen Perspektive gelten durfte, nur weil er diesbezüglich ein begabter, ja, ein famoser Künstler war, hätte Eggermann auch nicht so ohne weiteres beschwören mögen. Er, dieser toskanische Edel-Pinsler, mochte sich gut und gern zuletzt auch als Legende herausstellen; als Trugbild, als Chimäre.
Oder waren ohnedies die zwei Ideenstränge – der einer perspektivenlosen Malerei als Basis und der einer optisch aufgemotzten, quasi ent-abstrahierten als Ausgangspunkt – am Ende beide nicht beweisbare Vorstellungen?! Oder: sozusagen – fragwürdige Idealbilder?!
Ja, durfte (oder musste) die Perspektive vielleicht als genetischer Deffekt gelten? War sie Symbol einer optischen mal- (oder zeichen-)technischen Knechtung? Oder konnte sie vielmehr als Ausdruck der wahren Befreiung des Auges angesehen werden …?!
Eggermann meinte sich mitunter schon im Status des Emeritiertseins, der ihm durchaus als erstrebenswert erschien. Da würde er als Privatgelehrte weiterforschen; dort, in seiner Heimatstadt Nürnberg. Erst noch in die recht gut gehender PR-Agentur seines Schwagers (und dessen Sohnes) investieren. Vielleicht hin und wieder auch einen teuren antiken Bilderrahmen renovieren, was er vor Jahren auch schon getan hatte, um sich sein Studium finanzieren zu können. Und zwischendurch in die Toskana pendeln, wo im Sommer die Millionen von Sonnenblumenköpfen ein wenig belämmert vor sich hin wippten …
*
Nein, sie war zu verlockend, die These, dass wieder einmal Kirche, Staat oder Obrigkeit mittels Gewalt, Ver- oder Gebot etwas unterdrückten oder, später dann und erstaunlicher Weise, erzwangen! Zudem – warum sollte der Mensch, der von Haus aus essen, trinken, verdauen, der sich verlieben, kopulieren und sterben konnte, nicht auch perspektivisch zeichnen können (vorausgesetzt, er verfügte überhaupt über künstlerisches Talent)?
Warum sollte er dabei einer eigenen Entwicklungsphase bedürfen? Sollte darin vielleicht sein Auge physiologisch optimiert werden? Musste er erst seine Umgebung entsprechend erkunden? Stand ihm die vergleichsweise luxuriöse Darstellung mit Gesamtperspektive (oder gar mit mehreren Fluchtpunkten) erst dann zu und offen, wenn er die Phase der primitiven Zeichnung von simplen Strichmännchen hinter sich gelassen hatte?
War es da tatsächlich so abwegig, wieder mal irgendwelche Mächte (eigentlich waren es ohnedies stets die selben: Kirche, Staat, Obrigkeit) dahinter zu vermuten, die den Menschen abhielten beziehungsweise zwangen, sich so und nicht anders zeichnerisch oder malerisch auszudrücken? Die ihm nunmehr sein Chargieren zwischen den Dimensionen und Ebenen quasi erst einmal zugestanden und erlaubten; womöglich in All-Güte (und zudem verbunden mit der Zusicherung irgendwelcher abstruser Gegenleistungen), wie man dies eben im Umgang mit kleinen, schwererziehbaren Kindern so gern tut …
Mischten sich Kirche, Saat und Obrigkeit nicht auch sonst in jegliche Kunst (und das in durchaus diktatorischer Weise) brutal und platzgreifend ein? Wurden nicht unliebsame Schriften und Bücher verboten und, wenn es sein sollte (und nach was aussah), sogar aufwändig verbrannt? Schrieb man in musikalischen Bereichen nicht sogar Tonarten vor und stellte bestimmte Instrumente unter Interdikt, wenn irgendeinem der meist ohnedies mit Schweinsohren gesegneten Bonzen der Sinn danach stand, und erklärte missliebige Musikformen, Rhythmen und Tänze für sündig, unmoralisch und schlecht? Wurden nicht als gefährlich eingeschätzte Thesen und Lehren verteufelt? Merzte man missliebige Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung nicht aus oder zog die Forscher sicherheitshalber gleich in persona aus dem Verkehr?
Ja, so war das. Kirche, Staat und Obrigkeit.
Hatte zum Exempel die Amtskirche, die selbst auf jede denkbare Schematisierung aus- wie eingerichtet war, nicht jeden Grund, ihre einmal (und sicherlich mühsam genug) gefundene Ikonographie mit einem, zugegeben, wenig attraktiven Reglement und der entsprechenden farblichen wie formalen Starr- und Sturheit, möglichst schnörkellos beizubehalten? Musste sie eigentlich nicht vielmehr penibel auf äußerste Disziplin unter den – an sich schon als aufmüpfig gefürchteten – Kreativen achten?
O Gott! Kein Pfaffe, Bischof oder Papst konnte da seiner Tage froh sein, verloren sich die unter seiner Hoheit schuftenden Heroen des Pinsels, der Feder oder des Stifts in vergleichsweise optischer Freizügigkeit, indem sie nach Fluchtpunkten Ausschau hielten, Blickwinkel und Sichtweisen von Fisch, Frosch und Vogel anpeilten und über die erlaubte Bedeutungs-Perspektive hinauszugehen sich anschickten! Ja, dieses angeblich göttliche Ordnung (per Stand und Zunft, Abstammung und Huld) widerspiegelnde Nebeneinander in verschiedenen Maßen maximierter wie minimierter Formen und Inhalte in der Darstellung, das lobten sie sich; garantierte es doch quasi die Einhaltung bestimmter hierarchisch-gesellschaftlicher Gesetzte. Und um die ging es ja; nicht um das Glück des Betrachters oder seine Freude an künstlerischer Innovation; und schon gar nicht um die Lusterfüllung des Kreativen selbst. (Da verhielt man sich besser wie bei der Sexualität und unterband vorsichtshalber alles, was nach Genuss oder gar Ekstase aussehen könnte …)
Erstaunlich, dass dieses bewusste und gezielte Nebeneinander von verkleinert beziehungsweise vergrößert gezeigten und abgebildeten Personen, Gebäuden oder Dingen just in der die längste Zeit verteufelten (oder zumindest scheel und von der Seite her angesehenen) Comic-Kunst bis zum heutigen Tag seine Funktion hat und da auch seine unbestrittene Position einnimmt – als ein zweckmäßiges und verständliches Darstellungsmittel, das Hierarchien und soziale Zusammenhänge, zeitliche Abfolgen oder Ideen-Entwicklungen aufs Trefflichste verdeutlichen kann; nicht anders als einst in der Ikonographie …
Ja. Er, Eggermann, beschloss, dabei zu bleiben: Die Perspektive war von Beginn an im Menschen vorhanden; ob angelegt oder erworben, spielte da keine so wichtige Rolle. Denn im zweiten Fall mussten dann zumindest die Möglichkeiten schon vorbereitet, die Kontaktstellen sozusagen präpariert gewesen sein.
Dass die Perspektive ab der Renaissance mit der Florentiner Malerei und Architektur eines Giotto, Alberti, Brunelleschi – oder, nicht zu vergessen: Geronimo von Santa Agatha! – langsam doch zum Allgemeingut innerhalb der bildenden Kunst wurde, sprach überhaupt nicht gegen die an sich ja überall wirkende Willkür von Kirche, Staat und Obrigkeit!
Und ob Geronimo, der am Beginn so kometenhaft aufgestiegen war, zu seiner feurigen Frau (die leider in der Folge zur Eindimensionalität verkommen musste) tatsächlich oder auch nur gedachter Weise den Teufel als Dritten in diesen toskanischen Bund geholt hat oder nicht …?! Egal.
Obschon – ein Dreier mit dem Teufel?! Donnerwetter!
Nein. Geronimo wird sicherlich ein Ausnahmekünstler gewesen sein. Und ob er, durch den ungewöhnlich aparten, ja: schönen Körper seiner Frau Maria zu bildnerischen (und hoffentlich auch anderen) Sonderleistungen angefacht, so besonders Epochales auf dem Gebiet der Perspektive zu leisten imstand war oder ob in Wahrheit jeder einigermaßen talentierte Kollege (jede Kollegin) ebensolches gekonnt hätte – wir wissen es nicht.
Doch was den Teufel betrifft, denken wir: Gemach, gemach …
4
„Herrschaften, Herrschaften“, verschaffte sich der alte Emeritus der Kunstgeschichte (und vor kurzem offiziell noch Ordinarius allhier) Gehör. Ja, man hörte auf den anerkannten Experten für Giotto, Brunelleschi, Leonardo da Vinci und Konsorten, auf den schlohweißen Prof. Räti X. Strylikon. Man hatte ihm sein Kammerl deshalb auch von Seiten der Universitätsleitung noch auf Zeit belassen, bis er die letzten und langsamsten seiner Dissertanten auf ihrer hürdenvollen Strecke hilfreich zu einem akademischen Abschluss begleitet haben würde. Übrigens: Sein Privatissimum wurde, allein schon wegen Strylikons aparten sprachlichen Mischformen aus Schwyzerdütsch, Hochdeutsch und gelehrtem Schlampig-Sprech (von den Studenten liebevoll Räti-Pidgin genannt) vor allem von fachfremden jungen Sprachwissenschaftlern gern besucht und galt geradezu als universitärer Geheimtipp.
Ja, Strylikons erstaunlicher Bass trug immer noch – wie dereinst in den wilden Zeiten, anno 1968 etwa, als auch Münchens Hochschulen schon leicht ins Beben gekommen und APO und RAF immer wieder mal knapp vor dem Zuschlagen waren. Damals, als auch sonst die diversen Meinungen haarscharf und messerschneidig auf einander prallten; damals, kurz bevor dann ohnedies die Pflastersteine flogen. Damals, als er ein junger Mann war.
„Es wird immer kontroversielle Ansichten geben! Und das ist, bitte schön, auch durchaus gut so!“ Der lebhafte Greis funkelte kämpferisch in die Runde, die durchwegs aus wesentlich Jüngeren und quasi kaum erst Geschlüpften bestand. „Oder?!“
Man nickte, sah blöd drein, hatte nicht zugehört oder lauschte ohnehin hauptsächlich auf das, was der im Ohr wuchernde Ausgang des neuen Dual DAB Pocket Radios absonderte.
Lady Gaga. Oder Rainhard Fendrich. Oder einen geilen Gansta-Rapper.
„Herrschaften, Herrschaften! Es wird auch weiterhin immer unterschiedliche Meinungen geben, so auch im Zusammenhang mit der künstlerischen Perspektive und was ihre Geschichte betrifft! Und wenn ich auch bestimmt – das weiß man ja! – längst nicht in allen Dingen hier, mit meinem verehrten Kollegen Eggermann, einer Meinung bin“, dabei wies Styrlikon auf den neben ihm stehenden Jüngeren, „so wollen wir doch, um Gottes Willen, seine These zunächst einmal als seine private wie wissenschaftliche Meinung gelten lassen und zur Kenntnis nehmen! Dann erst werden wir sie sine ira et studio näher untersuchen!“
Nach kurzer Kunstpause: „Meine Lieben, betrachten Sie sich als Zeitzeugen! Ja, Sie sind hier hautnah an einem Thesen- und Theorien-Konflikt, wie er vermutlich nicht sobald wieder aufflammen wird! Genießen Sie diese, Ihre Zeitzeugenschaft! Kosten Sie sie aus!“
Da und dort brandete Applaus auf, und manche Studentenknöchel traktierten beistimmend die Pultoberflächen. Oder übernahmen den Rhythmus von Lady Gaga, die just im Ohr fuhrwerkte. Wie auch immer … (Dass die Kunstgeschichte als Orchideenfach über genügend Hörsaalplätze verfügte, allein das stimmte die jungen Experten für ihre Disziplin und das Drumherum schon ein bisschen versöhnlicher. Und dann – der sonore Bass des alten Strylikon, im Verbund mit dem weißen schwungvoll gekämmten Haar und der zartgolden umrahmten Brille, das alles besänftigte die an sich ohnedies eher wenig revolutionär gestimmten männlichen Studiosi. Die Studentinnen fanden den Alten ohnehin süß. Gut, auch die Studenten hätten ihn, jeder für sich, als Opa durchaus akzeptiert; Giotto hin oder her. Und in Gottes Namen sogar mit der unumgänglichen Zentralperspektive im Talon …)
„Na, siehst du, Hannes“, raunte der eloquente Emeritus beim Abgehen seinem um einige Jahre jüngeren früheren Fachschaftskollegen mit freundlicher Ironie zu, „wird doch alles halb so heiß gegessen, wie es gekocht worden ist …“
„Ja, da hast du wohl recht, verehrter Freund Räti“, erwiderte Hannes P. Eggermann. „Aber die Zusammenhänge, die Zusammenhänge müssen meine lieben Studiosi trotzdem lernen! Du weißt, ich bin nicht von ungefähr von der Mathematik her belastet … Um die parallelperspektivische Darstellung kommen sie mir also nie und nimmer herum! Oder um die delikate Kavaliersprojektion! Die Dreipunktperspektive, aber auch die axonometrische sowie die isometrische Perspektive, alle diese Methoden müssen ihnen nolens, volens in Fleisch und Blut übergehen, als wäre das eine Art künstlerisches Urbild der Wandlung in der römisch-katholischen Liturgie!“
„Gelobt sei der Fluchtpunkt, an dem einander – bloß gedacht und auf dem Papier – die guten alten Parallelen unweigerlich treffen …“, warf der Ältere gut gelaunt ein. „Amen!“
Eggermann, nickte. „Ja. Und: Egal, ob isometrische oder dimetrische Axonometrie, ob Schrägprojektion oder zentralperspektivische Übertragung, ob zylindrische Projektion, reliefperspektivische oder luft- und farbperspektivische Darstellung! Oder gar die so spannende Über-Eck-Perspektive! Ausgehend von orthogonalen Ansichten, muss ihnen alles geläufig sein! Von der bedeutungsperspektivischen Darstellung erst einmal ganz zu schweigen …“ (Beinahe hätte Eggermann noch angefügt: „Blind müssen Sie es beherrschen!“ – Aber das hätte, zugegeben, wohl ziemlich dumm geklungen.)
„Die bedeutungsperspektivische Darstellung wird ihnen dabei wohl die wenigsten Schwierigkeiten bereiten – entspricht sie doch ganz dem heute durchaus üblichen politischen und wirtschaftlichen Protektionismus …“, warf der Schweizer Kollege fein-satirisch ein.
Eggermann lächelte kurz, um abzuschließen: „Alles, bis hin zur multiperspektivischen Darstellung! – Gehen wir auf ein Bier oder einen kleinen Schoppen, Räti?!“
„Verdient haben wir uns ein Schlückchen, alter Freund“, stimmte Styrlikon zu. Und die beiden Kunsthistoriker holten schwungvoll aus in Richtung der nächsten tauglichen Wirtschaft, wobei sie für den genauen Beobachter, behielt er seinen Standpunkt bei, in der Tat perspektivisch kleiner zu werden schienen.
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