
Lustverlust am
Streichquartett
Eine Geschichte
von
Bernd Schmidt
© by Bernd Schmidt, Graz 2012.
(ENDFASSUNG: 2014)
Streichquartett (engl.: string quartet;
frz.: quatuor à cordes; it.: quartetto
d’archi) wird eine Komposition für zwei
Violinen,Viola und Violoncello genannt;
der Begriff findet auch bei der Bezeichnung
eines entsprechenden Ensembles Verwendung.
Ralf Noltensmeier (Bearbg.), Musik.
(metzler kompakt.) Stuttgart 2005.
*
Gern werden heute Beethovens letzte
Streichquartette zum Vergleich bemüht, wenn
es darum geht, eine echte oder vermeintliche
Unverständlichkeit neuester Kompositionen
zu rechtfertigen.
Arnold Werner-Jensen (Hg.),
Reclams Kammermusikführer.
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I: Allegretto
Dafür, dass sie auch schon gute fünfundsechzig Lenze zählte, war Frl. Professor Ernestine Albertine Rühr-Himberg, ihres Zeichens Cellistin des in Maßen bekannten „Trollbau Quartetts“, immer noch eine flotte Überquererin stark frequentierter Straßen in unübersichtlichen Verkehrssituationen. Da kannte sie keinen Genierer, wie ihr Quartett-Kollege an der Viola (und heimlicher Verehrer seit nun bald vier Jahrzehnten), DI Dr. techn. Georg Klinckhardt, 69, es schelmisch ausdrückte. Der 70jährige Kollege an der Primgeige, der vergleichsweise behäbige Prof. Hugo Trollbau (von Freunden seit Menschengedenken „Bubi“ genannt, ein unerbittlich strenger Sachwalter des klassischen Repertoires und der Namensgeber der Formation), missbilligte diesen burschikosen Ausdruck zutiefst; eines Sinnes darin mit dem zweiten Violinisten, Mag. theol. Axel Rahminger, 68.
Frl. Rühr-Himberg wohnte gemeinsam mit einer Reihe von Tamagotschis sowie mit anderen echten beziehungsweise technisch recht gefinkelt konstruierten (zumeist mechanischen) Tieren und Pflanzen, die allesamt geliebt, (zumindest) mental ernährt und ebenso umsorgt sein wollten. Eines der Zimmer in der geräumigen, indes eher düsteren Altbauwohnung im Zentrum der Stadt war, sozusagen, das Reich von Rühr-Himbergs verstorbener Mutter, einer ausgestopften und durchaus hoffmannesken Spieluhr. Die alte Dame konnte ein paar Haydn- und Mozart-Stückchen von sich geben, wenn man ihr eine nicht zu sanfte Ohrfeige verpasste. Das klang recht hübsch, wenn sie dann zirpte und klingelte – in Klangqualitäten irgendwo zwischen Harfe und Celesta.
Der ingeniöse Gestalter der ausgestopften Mutter und auch der meisten anderen kuriosen Figuren war Prof. Rühr-Himbergs nun auch schon seit gut fünfundzwanzig Jahren verstorbener Vater gewesen, der Mechanikus, wie er sich selbst gerne titulierte. Zwonimir Rühr-Himberg von Breitenkorff, ein begnadeter Bastler und wackerer Betreiber der Taxidermie, also der raren Kunst des fachgerechten Ausstopfens und Präparierens. Er betrieb das meiste, was er tat, zwar eher als Hobby, doch mit viel Lust an der Sache. O ja, oft sogar mit ziemlicher Verbissenheit, ging es um das Lösen verzwickter technischer Probleme, die seinen ganzen Einsatz erforderten.
Die drei, vier Tamagotschis, Wellensittichen ähnliche Digital-Eier, hatte Bratschist Dr. Klinckhardt zur einmalig bizarren Sammlung als Mitbringsel von mehreren kurzen Japan-Aufenthalten beigesteuert. Und auch die ähnlich wie die Tamagotschis funktionierenden beiden digitalen Hunde, Sony und Mitsubishi, waren Geschenke des aufmerksamen Kollegen und Freundes. Die charmanten Pseudo-Tiere bedurften, wie die digitalen Vögel, zwar keiner realen Nahrung, jedoch einer gewissen Zuneigung und Zeitzuwendung. Dafür gaben die kleinen Hunde auch stets freundlich Pfötchen, bellten leise und knurrten unter Umständen, sollte solches von ihnen gefordert werden. Sogar zu ausdauerndem Cunnilingus waren sie – angeblich – fähig.
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Die Wohnung wartete auch sonst noch mit ein paar Überraschungen auf, etwa mit erstaunlichem Mobiliar, begehbaren Wandschränken, mehrdimensionalen Blumentrögen und halbblinden Zerrspiegeln; wobei die schönsten und außergewöhnlichsten Stücke organisch allesamt irgendwo zwischen Tier und Pflanze angesiedelt waren. (Doch gab es auch einige rein gasförmige Exponate sowie recht kuriose Grenzgänger zwischen den Aggregat-Zuständen und Form-Distrikten.)
Dazu kamen noch Tische und Sessel mit fachmännisch präparierten beziehungsweise einbalsamierten menschlichen Gliedmaßen und ähnliche Raritäten, die zur altdeutschen Grundausstattung recht hübsch kontrastierten.
Kurz: Frl. Prof. Ernestine Albertine Rühr-Himberg lebte in einem durchaus originellen Interieur.
Vater Rühr-Himberg von Breitenkorff hatte vor Zeiten übrigens auch das Violoncello als Instrument für Klein-Ernestine bestimmt. (Der mechanicus selbst blies leidlich gut das Fagott, Mutter Clara, die spätere ausgestopfte Spieluhr, verfügte angeblich über einen wunderschönen, glockenhellen Sopran; doch hatte nachweisbar niemals jemand die Dame singen gehört.)
Für Ernestines nicht minder begabten jüngeren Bruder, Philipp Emanuel, erkor Vater Rühr-Himberg von Breitenkorff die klanglich durchaus nuancenreiche Familie der Blockföten, deren Renaissance richtig vorhersehend und -sagend. Und noch Jahre später saß der früh verstorbene Philipp dann als ausgestopfter Schatten in einer Ecke des großen Musikzimmers und blies. Leise.)
Wenn Ernestine zurückdachte, kam ihr nicht selten alles, was ihre Kindheit und Jugend (ja: ihr ganzes Leben) betraf, irgendwie unwirklich vor – oder, wie sie es selbst gern nannte: grenzwirklich. Ihre Eltern und auch ihr Bruder Philipp Emanuel trugen ohne Zweifel immerhin ziemlich irreale Züge an sich; und auch sie selbst konnte nicht so ohne weiters als normal durchgehen. So hatte zum Exempel ihr Vater so ziemlich alles, was mit ihrer späteren musikalischen Karriere zu tun hatte, fast minutiös geplant; mit ihrem Leben als Mädchen, später dann als junger Frau schienen sich indes weder er noch Mutter Clara ernstlich auseinandergesetzt zu haben. Dass Ernestine irgendwann einmal einen (jungen) Mann würde kennenlernen, war, so schien es, nicht vorgesehen und spielte daher in ihrem Lebensplan (passender gesagt: in der Partitur ihres Lebens) weiters keine Rolle.
Philipp hatte sich, noch als Teenager, durch den Tod der Vorsehung elterlichen Ratschlusses entzogen; und wenn er auch nicht direkt Selbstmord begangen hatte, so schien er zumindest nichts gegen sein frühes Erlöschen unternommen zu haben.
Und sie?
Gut, dass sich ihr durch den witzigen Georg Klinckhardt später dann doch noch so etwas wie die Liebe erschließen sollte, war an sich ja schön; aber doch mehr Nebenprodukt ihrer musikalischen Ausbildung, denn geplant gewesen. Im Gegenteil: Hätten die Eltern die Affäre noch erleben müssen, es hätte gewaltig Stunk gegeben im Haus Rühr-Himberg (von Breitenkorff).
Aber so war es doch noch irgendwie gut geworden, das mit der Liebe und mit dem Sex. Und mit ihr und Georg Klinckhardt, dem gewieften Bratschisten, begabten Techniker und durchaus findigen Lebenskünstler, der nicht zuletzt dem Reiz der Geishas wegen immer wieder mal Japan aufsuchte.
Ja, als ein Lebenskünstler und geschickter Problembewältiger bestätigte sich der überaus wendige Musikus immer wieder. Und als mit viel Witz und Originalität die meisten Hürden meisternd.
So machte er sogar dem weitgehend humorfreien Geigen-Finsterling „Bubi“ Trollbau allen Ernstes eine Zeit lang die Erweiterung ihres Quartetts um einen Sackpfeifer schmackhaft. Gestützt auf diverse (halb-)wissenschaftliche Literatur, betreffend die immer noch großteils im Dunkeln liegenden Ursprünge des kuriosen Dudelsacks, verstand es Klinckhardt, dem immerhin in Maßen wissbegierigen Kollegen, das Wesen des bizarren Instruments näher zu bringen. Denn dass diese brummige Pfeife eine nicht originär schottische Erfindung war, schien länger schon gesichert; ob der Dudelsack – die deutsche Bezeichnung dürfte übrigens weniger lautmalerisch sein, als dass sie auf das türkische Wort duduk für Pfeife zurückging – nun tatsächlich aus Indien stammte, bleibt indes weiterhin unklar. Fest steht, dass die Sackpfeife von römischen Soldaten aus dem antiken Griechenland im ersten nachchristlichen Jahrhundert nach Rom gebracht wurde, wo sie tibia utricularis genannt wurde und eine Vorläuferin der süditalienischen Zampogna sein dürfte.
DI Dr. techn. Klinckhardt, der das alles unter anderem im GEO-Heft 2012/9 gelesen hatte, ließ seinen verhassten Geigengenossen des Spaßes wegen dann noch einiger eigener skurriler Erfindungen in Sachen Dudelsack teilhaftig werden, etwa rund um den sagenhaften Lieben Augustin im Wien der Pestzeit; und er machte ihn mit einem ziemlich abgewrackten Stadtstreicher namens Gustl bekannt, der zwar nur leidlich die Sackpfeife, im Übermaß indes das Schnapstrinken beherrschte. Jedenfalls verdreckte besagter Penner Gustl die Wohnung des peniblen Quartett-Primarius anlässlich eines denkwürdigen Zusammentreffens, das eigentlich dem Austausch von Musikbeispielen dienen hätte sollen. So blieb es jedoch zugleich das erste und letzte seiner Art.
Trollbaus Groll, den er längst schon dem Bratschisten-Kollegen gegenüber hegte, schien danach kaum geringer geworden zu sein, und auch jede weitere Idee einer Vergrößerung der klassischen Formation wurde geflissentlich hintangestellt. (An Dudelsack war in diesem Zusammenhang verständlicherweise überhaupt nicht mehr zu denken.)
Immerhin, für Klinckhardt und seine Geliebte Rühr-Himberg ergab sich mancherlei Ergötzen aus der ganzen Sache rund um den falschen Sackpfeifer. Ein Scherzo schlechthin.
Übrigens hielten Ernestine und Georg ihr Verhältnis auch vor den anderen Quartett-Kollegen geheim. „Bubi“ Trollbau hätte mit größter Wahrscheinlichkeit etwas dagegen gehabt und sich entsprechend zynisch, abfällig und kränkend geäußert. (Noch dazu, dies glaubte Frl. Professor Rühr-Himberg spüren zu können, hatte er mindestens ein Auge auf sie geworfen, schon vor langer Zeit …) Und der blässliche Theologe Axel Rahminger? Die zweite Violine musste erst gar nicht von diesen Dingen erfahren. Nein, Axel hatte damit rein gar nichts zu schaffen. Warum auch?!
Sein Reich war, sozusagen, nicht von dieser Welt …
Doch in erster Linie ging es um den Pimarius: „Bubi“ durfte nicht Wind davon kriegen!
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II: Lento assai, cantante e tranquillo
Nein, es war nicht leicht, den hohen Ansprüchen des Primarius Hugo „Bubi“ Trollbau auch nur annähernd gerecht zu werden! Und jeder der übrigen Quartettkollegen musste mit diesem Umstand auf seine Weise umzugehen lernen. Auch die Cellistin Rühr-Himberg naturgemäß. Da gab es nichts.
Trollbau hatte, als Junger, einige Jahre hindurch bei den Wiener Philharmonikern an exponierter Stelle, sogar kurz als Konzertmeister, gewirkt, bevor er – nach einem Streit mit Herbert von Karajan (als damaligem Staatsopernchef) – im Zorn gegangen war. Das vibrierte aus verständlichen Gründen immer noch nach; sowohl die Mitwirkung im Klangkörper des Edelorchesters aus Wien als auch der Bruch mit dem (bekanntlich auch politisch so wendigen) Maestro Karajan.
Man musste sich im Quartett also auf die Launen des Primgeigers einstellen.
Oder man ließ es sein und schied aus „Bubis“ Kreis, wie dies seine Exfrau, Hermine, schon vor gut zwanzig Jahren getan hatte.
Nicht von ungefähr gehörten die fünf späten Quartette Ludwig van Beethovens zu „Bubis“ ausgesprochenen Favoriten. Wäre er, Prof. Hugo Trollbau, ein – vorzugsweise französischer – König des 17., 18. Jahrhunderts gewesen, er hätte sie sich bestimmt quasi als musikalische Mätressen gehalten. Ja, diese famosen Streichquartette (op. 127, 130, 131, 132 und 135, vielleicht noch erweitert um die Große Fuge in B-Dur, op. 133), waren, sozusagen, seine. Ganz seine. Und wenn diese so speziellen, auch vielen – musikalisch durchaus gebildeten – Zeitgenossen durchwegs unverständlich klingenden Meisterwerke des längst völlig ertaubten Komponisten, die seit der Zeit ihres Entstehens so oft (und, zugegeben, divergent) theoretisch analysiert wie praktisch interpretiert worden sind, nicht schon ihre Widmungsträger gehabt hätten, er, „Bubi“, hätte sich vorstellen können, als ein solcher zu figurieren …
Eitel genug war Prof. Trollbau, der arrogante Primarius des nach ihm benannten Streichquartett-Ensembles immerhin, dem St. Petersburger Fürsten (und leidlichen Violoncellisten) Nikolaus Galitzin, dem Fürsten von Stutterheim und dem Herrn Nepomuk Wolfmayer die Ehre zu entreißen, für die sie auserkoren waren beziehungsweise bezahlt hatten. (Wobei der Primgeiger dem kunstsinnigen St. Petersburger Mäzen und späteren Bankrotteur, der Träger gleich dreier Widmungen Beethovens war, die ihm dedizierten Opera wohl am wenigsten vergönnte.)
Die übrigen Mitglieder seines Ensembles versuchten sich, jede(r) auf seine Art, mit dem skurrilen Musiker zu arrangieren. Und da „Bubi“ bei aller bizarren Attitüde und trotz seiner charakterlichen Schwächen fachlich über beinahe jeden Zweifel erhaben war, gelang dies grosso modo auch; nicht selten allerdings unter (quasi unhörbarem) Heulen und Zähneknirschen …
Der Theologe Axel Rahminger fasste alsbald das ganze Musizieren eher als vorweggenommene Bußübung auf und fuhr damit in katholischer Demut noch vergleichsweise gut. So tat er denn unter „Bubis“ Anleitung Jahrzehnte lang Buße für diverse lässliche wie bedeutende Sünden. Immerhin war Rahminger knapp vor der bevorstehenden Priesterweihe, damals in den 1970ern, abgesprungen, um schließlich in der Musik das zu finden, was er gern (und wohl ein wenig überheblich) Gotteslob zu nennen pflegte. Hin und wieder, in weinseliger Laune, der er mitunter oblag, spielte er dann sogenannte Zigeunermusik; wohl wissend, dass diese Bezeichnung eher alter Operettenseligkeit entsprach, als dass sie politisch korrekt gewesen wäre. Sei’s drum.
Einzig Bratschist Georg Klinkhardt begehrte schon hin und wieder auf, wenn „Bubi“ auf seinem tyrannischen Ego-Trip wieder mal eindeutig zu weit gegangen war; und er schalt den Ersten Geiger in kühner Rede einen üblen Despoten, seelenlosen Dompteur und, ja: einen amusischen Tyrannen. Doch leistete auch er schließlich das Bestmögliche im Zusammenspiel des durchwegs gefeierten klassisch-edlen Vierklangs.
Auch Cellistin Ernestine Rühr-Himberg fügte sich unter das gnadenlose Musik-Joch Prof. Trollbaus. Doch half ihr ein vergleichsweise sonniges Gemüt bei dieser schweren Übung; ohne ein solches hätte sie vermutlich das Leben in der düsteren Vier-Zimmer-Wohnung der seligen Eltern mit all den organischen und anorganischen Paramenten und Souvenirs ja auch nicht ausgehalten!
Außerdem belohnten viele schöne musikalische Momente die enormen Mühen und Kraftanstrengungen. Und wenn nach den Konzerten, die das „Trollbau Quarett“ des öfteren gab, erst einmal Applaus aufbrandete, war der dornenvolle Weg bis dort hin meist sogleich vergessen. (Lediglich Dr. Klinckhardt hegte, nach außen kaum bemerkbar, steten Groll gegen Prof. Trollbau. Ja, am liebsten wäre er „Bubi“ an den faltigen Hals gefahren. Doch er hielt sich tapfer zurück.)
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Immerhin hatte der gestrenge Trollbau seinen Mitstreitern eines voraus: Als Wunderkind früh schon herumgereicht wie ein bestaunenswerter kleiner Außerirdischer oder Violin-Alien, war er von den besten Lehrern im Geigenspiel, die man sich nur denken konnte, unterwiesen worden, hatte später die angesehene Vorgängerinstitution der späteren Musikuniversität in Wien mit Auszeichnung absolviert und war zudem Träger verschiedenster hoher und höchster Auszeichnungen.
Da mussten die anderen einsehen, in gewisser Weise das Nachsehen zu haben.
Auch wenn ihre Ausbildung ebenfalls durchaus fundiert war. So hatte Axel Rahminger parallel zu seinem Theologiestudium privatim bei diversen Virtuosen und bei zahlreichen renommierten Sommerakademien et cetera die Geige von Grund auf erlernt und eine entsprechende Abschlussprüfung auf Hochschulniveau abgelegt.
Georg Klinckhardt hatte sein Viola-Studium sogar nach London und nach Paris geführt, obwohl er nebenbei seinen technischen Obliegenheiten nachkommen musste und sein diesbezügliches Pensum mit den Titeln eines Diplomingenieurs und eines Doktors krönte. (Sogar seine von Kind auf vorhandene Asthma-Erkrankung verstand er, bestens wegzustecken. Ein sonniger Mensch eben.)
Durchaus auch schon als Wunderkind, ausgebildet von einem damals sehr bekannten Cousin ihres Vaters, hatte Frl. Prof. Ernestine Albertine Rühr-Himberg zu glänzen gewusst. Sie lernte danach erst bei anderen virtuosen Cellisten, die auch allesamt Freunde der Familie waren, und trat ins Konservatorium ein; wo ihr Jahre später dann sogar eine Professur angeboten werden sollte.
Aber „Bubi“ war und blieb quasi der Olympier in dieser erlesenen Schar.
Und ein Kotzbrocken dazu.
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Es war ein verhangener Abend im Spätherbst. Der Tag war einer von denen gewesen, die man lieber ad acta legte, wenn sie einmal vorüber waren. Das pensionierte Frl. Professor Rühr-Himberg sperrte die Wohnungstür auf, trat ein und schloss wieder hinter sich ab. Dann zog sie ihre Straßenschuhe aus und ging, vorbei am blinkenden Anrufentgegennehmer, dem Telefonknecht, wie ihn Georg Klinckhardt spitzbübisch zu nennen pflegte, schon mit Hausschuhen an den Füßen ins Wohnzimmer. Sie drehe die Beleuchtung auf und schaltete mittels Fernbedienung den TV-Apparat an. Da merkte sie Sony, einen der beiden weißen Tamagotchi-Hunde, wie er, zwar mit dem Stummelschwanz wedelnd, doch irgendwie verstört wirkend, mit seiner Nase in Richtung Musikzimmer wies. Nichts Gutes ahnend, näherte sich Frl. Rühr-Himberg der Tür, die einen Spalt weit offen stand, aus dem gedämpftes Licht quoll. Dann öffnete sie die weiße hohe Doppeltür und gewahrte mit Schrecken Dr. Klinckhardt, wie er, auf der Klavierbank sitzend, vornüber mit dem Oberkörper auf den schwarzen Steinway & Sons-Flügel gesunken zu sein schien. Eine dünne rote Spur führte von seinem linken Mundwinkel hin zur spiegelnden Fläche des edlen Instruments.
Es war totenstill im Raum.
Und auch der Bratschist war tot. (Insofern stimmte also wiederum alles.)
Sie merkte nicht, wie das digitale Hündchen ihr um die dürren Beine strich; sie fixierte nur die allem Anschein nach reglose Gestalt des Freundes und Quartett-Genossen mit dem Blutfaden in knapp einem Meter Entfernung. Dann verließen die Sinne Frl. Rühr-Himberg.
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III: Scherzando vivace
„Ach, ja …?! Der Bruder soll es gewesen sein?! Ein seit einem Vierteljahrhundert ausgestopfter Schatten?!“ Der Oberinspektor griff sich an den Kopf.
„Oder die Viecher …“, bot Assistent Heuberger ihm eilfertig eine Alternative an.
„Ja, bestimmt! Die beiden digitalen Köter! Oder die ausgestopfte Schildkröte! Vielleicht die an Frühstückseier erinnernden Tamagotchi-Wellensittiche?!“
Oberinspektor Kalksroth schäumte innerlich.
„Meinen Bericht bekommst du spätestens morgen in der Früh! Servus, Hans!“ Der Gerichtsmediziner, Dr. Breitgelb, machte sich schon auf den Weg.
Frl. Prof. Rühr-Himberg schien sich wieder etwas beruhigt zu haben. Ein wenig Farbe zumindest war in ihren Teint zurückgekehrt. Allerdings wirkte sie immer noch sehr mitgenommen; doch das verwunderte niemanden besonders.
Kalksroth drückte mit dem Zeigefinger seiner behandschuhten Rechten auf die Play-Taste des Anrufentgegennahmegeräts. Aus dem Apparat bröselte sogleich erstaunlicher Singsang: Eine brüchige hohe (Frauen-)Stimme interpretierte, soweit es der Oberinspektor, selbst ein leidlicher Opernfreund, erkennen konnte, eine Mischung aus Mozarts „Zauberflöten“-Arie der Königin der Nacht und einer kuriosen gesungener Mitteilung vom Tod, die es galt, der Tochter zu hinterbringen.
Spiel mir das Lied von Tod, dachte der Kriminalbeamte, das Hauptmotiv aus Ennio Morricones Filmmusik zu Sergio Leones Genreklassiker C’era una volta il west sogleich wiedererkennend (und leise mitpfeifend). „Die Bratsche schweigt … auf immerdar … Zu Ende ist … was wunderbar ein Wunder war …“, oder so ähnlich raunzte der alte Sopran (oder was auch immer …) ziemlich hämisch auf. Ja, hämisch, fand Kalksroth.
„Ja, es ist die Stimme meiner verstorbenen Mutter“, nickte Frl. Prof. Rühr-Himberg, bervor sie vorsorglich dem nächsten Nervenzusammenbruch in die ausgebreiteten Arme fiel.
Übrigens: Die Schildkröte (männlich, mit Namen Achill) war nicht ausgestopft, kein Kunstwerk der Taxidermie also, sondern bloß sehr langsam. Ähnlich wie ihr Schildkrötengefährte (Zenon), der vorsichtshalber schon vor geraumer Zeit und mit Erfolg hinter einem der altdeutschen dunklen Kästen Deckung gesucht hatte.
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Oberinspektor Klaksroth hatte schon viel Gesehen, was ihm immer wieder schmerzvoll verdeutlichte, wie schmal der Grat zwischen Tragik und Komik in Wahrheit war.
Auch jetzt, da, in diesem Bild eines düsteren Sammelsuriums, lag viel zu tiefst Trauriges; aber doch auch Brurleskes, Keckes, Witziges. Es erinnerte den Kriminalisten, der in seinem Inneren wohl einerseits ein wenig von einem Romantiker an sich hatte, zum anderen freilich dem Skurrilen, dem britisch-humorigen Joke, gegenüber offen war, an diverse Filmszenen – ohne dass er allerdings sagen hätte können, woraus sie stammten … Schwarz-weiß, das allemal.
Und dass in diesem Moment – die Sanitäter sowie der Notarzt umsorgten gerade nicht unhektisch Frl. Professor Rühr-Himberg, und die Spurensicherung ging weiterhin routiniert ihrer Arbeit nach – ein Mobiltelefon anschlug, passte hervorragend in den delikaten Augenblick. Und dass es dies mit einer akustischen Äußerung tat, die einen sofort an den Furz eines ausgewachsenen Elefanten denken ließ, nicht minder.
Das aufdringliche Gerät gehörte zu Assistent Heuberger, der auch sogleich entsprechend verlegen an dem schmucken Apparat herumzufingern begann. Um die Nachricht besser entgegennehmen zu können, verließ er, errötend sowie in gebotener Eile, den Raum.
Kalksroth schüttelte bloß den Kopf.
Dann, nach einem abschließenden Blick, den er durch das bizarre Ambiente schweifen ließ, erhob auch er sich.
„Die Feier für Major Fuchsberger findet jetzt doch erst übermorgen statt, soll ich Ihnen ausrichten, Chef! Übermorgen, nicht morgen, um 19 Uhr, hat die Ziegelstätter gesagt.“ Heuberger schien die Entgegennahme und die Weiterleitung dieser internen Botschaft ziemlich viel Kraft gekostet zu haben. Zumindest wirkte er, eben aus dem Nebenraum zurückgekommen, recht erschöpft.
„Ja“, nickte der Vorgesetzte, weiterhin intensiv zum Gehen gewandt. „Ja.“
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IV: Allegro (Finale)
Die verbliebenen Mitglieder einer klassischen Instrumental-Formation pflegen in aller Regel nicht, wie das vielleicht bei Jazzern oder Popmusikern gang und gäbe und nicht zuletzt vermutlich der Publicity geschuldet ist, nämlich aus Anlass der Beerdigung eines Mitglieds mehr oder minder ergriffen aufzuspielen. (Auch symphonische Orchester und volkstümliche Gruppen lassen es sich meist nicht nehmen, einen toten Mitstreiter auf derart klingende Weise zu verabschieden; auf dass ihm der Weg leicht werde …)
Nein, zu Ehren dahingegangener Quartett-Mitglieder wird lautlos getrauert. Unter Umständen bittet man einen befreundeten Chor, was Passendes zu singen. Aber da Musiker untereinander eher kritisch sind, wollte der Rest des „Trollbau Quartetts“ a priori keine akustischen Risiken eingehen und verzichtete auf eine solche akustische Behübschung bei Klinckhardts finalem Gang.
Sogar die kurz diskutierte Möglichkeit („Bubi“ Trollbau selbst hatte die Rede darauf gebracht), nämlich das mit dem Vierergespann so weit recht gut bekannte „Wegrostek Quartett“ zu einer Klangspende einzuladen, wurde rasch wieder verworfen. Nicht zuletzt, da sich die Herren Christian Welunschek (Primgeige), Karl Hochreiter (2. Geige), Otto Buchmann (Viola) und Namensgeber Herbert Wegrostek (Violoncello) just in einer konzertanten Krise befanden und sogar an die Auflösung der über dreißigjährigen musikalischen Zusammenarbeit dachten, die summa summarum durchaus ersprießlich gewesen war. Immerhin hatte sich am Spiel der vier (an sich durchaus profunden) Musiker Kritik entzündet, wie man ja, zugegebener Weise, nicht auf die Schalmeientöne auch alt-eingespielter kammermusikalischer Formationen hineinfallen sollte; da auch (und gerade) der Streicherklang immer wieder beinahe zur schier nachweisbaren Gefahr für Leib und Leben der Ausübenden wie der Zuhörenden führen kann, wird er im Übermaß und weitgehend kritiklos genossen. (Zumindest wollen das neuere Untersuchungen der Universität Arkansas zu Tage gefördert haben.)
In diesem Zusammenhang denkt wohl manch einer an die berühmte Stelle aus Vergils „Aeneis“ (2, 49) mit der Warnung des misstrauischen Apollon- und Poseidon-Priesters Laokoon angesichts des von den Griechen vor Troja zurückgelassenen riesigen Holzpferdes: „Quidquid id est, timeo Danaos, et dona ferentes“! (Somit dem anderen beliebten Sprichwort entgegenlautend, dass man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen solle …) Jaja, nicht nur den Danaern gegenüber ist mitunter Argwohn durchaus angebracht; auch Streichquartettten.
Prof. Hugo „Bubi“ Trollbau hielt eine kurze, sogar recht beschauliche Rede auf den dahingegangenen Kollegen und würdigte des Bratschisten Qualitäten final. Dass die Umstände seines Dahinscheidens vermutlich auf immer im Dunkeln bleiben würden, erwähnte der Primarius mit keinem Wort, ebenso wenig wie er auf die mögliche Zukunft der klassischen Formation (seiner klassischen Formation!), des „Trollbau Quartetts“, einging; dies hätte sogar er als pietätlos empfunden.
Dann nahm ein evangelischer Pastor die Einsegnung (oder was auch immer) vor, und die immerhin recht zahlreiche Trauergesellschaft stand in kleinen Gruppen herum, bevor der harte Kern zum Leichenschmaus in den zumindest bezirksbekannten Gasthof „Zur Linde“ einkehrte, der für seine knusprigen Backhendln, die geröstete Leber und den meist besoffenen Wirt, der Anton Hopf oder auch Hopf-Toni hieß, bekannt war.
Und tatsächlich, auch diesmal überboten sich Koch Ignaz Immenrausch, die resch-schnippische Kellnerin Grete und der Wirt selbst wieder einmal.
Wenn man bedachte, dass die drei Leutchen zusammen einiges über 200 Jahre zählten, waren ihre Äußerungen sowohl im kulinarischen als auch im zwischenmenschlichen Bereich durchaus bemerkenswert.
*
Coda
Der Fall – so weit man überhaupt guten Gewissens von einem solchen sprechen konnte – war gelöst. Man hatte zudem durchaus berechtigter Weise die Leiche des Bratschisten schon vor geraumer Zeit zur Beerdigung freigegeben; der berufsbegründende Optimismus des zuständigen Forensikers Dr. Breitgelb („Hans, der Exitus war, wenn überhaupt, dann nur im weitesten Sinn fremdverschuldet …“ – „Was soll das heißen? Hat sich der Klinckhardt also selbst ins Jenseits befördert?!“ – „Im weitesten Sinn – ja …“) bestätigte sich erneut.
Nunmehr saßen Oberinspektor Kalksroth und sein Assistent Heuberger Frl. Prof. Ernestine Albertine Rühr-Himberg (von Breitenkorff) im Wohnzimmer der gleich düsteren wie geräumigen Altbauwohnung gegenüber, nippten vom grünen Tee und knabberten an diversen Keksen. Immerhin sollte die Cellistin aus erster Hand über den Stand der Ermittlungen, die nunmehr als abgeschlossen gelten konnten, informiert werden.
„Also, Frau Professor“, Kalksroth stieß gleich in medias res vor, „Ihr Kollege, Mag. Dr. Georg Klinckhardt, kam mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit anlässlich eines Asthma-Anfalls, der dann letztlich zum Herzversagen geführt hat, ums Leben. Irgendeine Fremdeinwirkung scheidet somit als Todesursache eindeutig aus.“ Der Kriminalist nahm erneut einen Schluck vom Tee.
„Übrigens, wussten Sie, dass Dr. Klinckhardt Asthmatiker war?“
„Ja“, erwiderte Frl. Prof. Rühr-Himberg, „das mit Georgs Asthma war uns allen bekannt. Aber“, fuhr sie fort, „er führte doch stets seinen Spray mit sich …“
„Seinen Spray?“, fragte Kalksroth interessiert.
„Seinen Spray …“, notierte routinemäßig sein Assistent Heuberger.
„Ja“, sagte die Cellistin und nickte energisch.
„Komisch. Spray wurde nämlich keiner beim Toten gefunden.“ Der Oberinspektor runzelte die Stirn und sah sicherheitshalber nochmals seine Aufzeichnungen durch. „Nein. Kein Spray.“
„Seltsam“, entfuhr es der Cellistin. „Da hat er ihn just zum ganz verkehrten Zeitpunkt nicht bei sich gehabt …“ Sie sah traurig die beiden Männer an. „Georg hatte diese Asthma-Anfälle allerdings auch eher selten …“
„Hm“, machte Kalksroth. Dann fuhr er fort: „Was nun die ominöse Mitteilung auf dem Anrufentgegennehmer betrifft, können wir Ihnen nach den technischen Untersuchungen und einigen speziellen akustischen Experimenten im Labor Folgendes mitteilen: Die eigenartige Stimme, die man auf dem Gerät hören konnte, war eindeutig die von Dr. Klinckhardt selbst! Das hat der Vergleich mit einem Interview bestätigt, das er vor einem halben Jahr im Rundfunk gegeben hat. Er muss sich mit dem Apparat und mit dem fingierten Anruf wohl einen Scherz mit Ihnen gemacht haben …“
„Die Stimme Georgs?!“ Frl. Professor schien überrascht. „Einen Scherz gemacht?! Das sieht ihm wieder einmal ähnlich!“
Da hatte also der Spaßvogel die Stimme der verstorbenen Clara Rühr-Himberg von Breitenkorff nachgeahmt! Eine Stimme, deren Klang so gut wie niemand kannte … Und damit nicht genug, teilte der Komiker mit dieser quasi Geister-Stimme seinen eigenen, Klinckhardts, Tod mit! Makaber, aber schon äußerst makaber!
Jetzt gewahrte Kalksroth einen zerfurcht-faltigen Schildkrötenkopf, der unter einem Kasten hervorragte. Und da, ein zweiter zeigte sich, vorsichtig hervorlugend, vom anderen Schrank her.
Ach ja. Zwei Schildkröten. Und allem Anschein nach weder digital noch ausgestopft.
Der Oberinspektor schüttelte ein wenig irritiert den Kopf.
„Darf ich Ihnen noch etwas Tee und ein paar Kekse anbieten?“, fragte, sich erhebend, Frl. Professor Rühr-Himberg nach kurzer Zeit des Schweigens. Auch sie schien irritiert.
„Nicht nötig, es sei denn, Sie wollen selbst auch noch …“, antwortete der Oberinspektor, während sein Assistent stumm, aber intensiv nickte.
Während die Cellistin, gefolgt von den eifrig mit den Schwänzen wedelnden Tamagotchi-Hunden, den Raum verließ, meinte Kalksroth beiläufig zu Heuberger: „Sie sehen, oft ist alles ganz anders, als es zunächst den Anschein gehabt hat …“
Der Assistent erwiderte, um Tiefsinnig bemüht: „Ja. Aber manchmal entspricht der Anschein doch auch wieder dem, wofür wir ihn halten. Oder?!“
„Hm. So gesehen …“, sagte Kalksroth gedehnt.
„Aber, wissen Sie Chef“, fuhr der Assistent fort, „mich haben die digitalen Tiere irritiert …“
„Wen nicht, mein Lieber! Wen nicht!“ Kalskroth hoffte auf ein Ende dieses mühsamen Gesprächs.
Da bellten die beiden Hunde, Sony und Mitsubishi, freundlich, während sie mit ihrem Frauchen ins Zimmer zurückkamen. Und von draußen irgendwo (wahrscheinlich vom Musikzimmer her) begannen die Tamagotchi-Wellensittiche Tonart-affin zu tschilpen.
„Wie Musik“, sagte der Assistent sinnend.
„Ja, das wird es wohl sein …“ Und Kalkroths Äußerung war mindestens so kryptisch wie das Lächeln, das um den Mund ihrer Gastgeberin huschte, die eben mit einer Kanne neuen Tees und mit diversen Keksen an den Tisch trat.
E N D E