
Lamborghini,
schon wieder
Eine Erzählung
von Bernd Schmidt
© by Bernd Schmidt, Graz 2012.
Und er steuert ohne Fehler
über Hügel und durch Täler.
Tante Paula wird es schlecht.
Doch die übrige Verwandtschaft
blickt begeistert in die Landschaft.
Und der Landschaft ist es recht.
Erich Kästner, Im Auto über Land
*
In Rom, das wusste er (auch wenn nur mehr nebelhaft und verschwommen), hatte er sie das erste Mal gesehen. Anlässlich einer Wirtschaftsenquete, vermutlich. Und sie war eine überaus schöne Frau, ja: eine Schönheit, eine auffallende Erscheinung jedenfalls, gewesen. Damals. Damals in den mittleren 1980er Jahren. Er, ach ja, auch um gut dreißig Jahre jünger noch als heute. Dann waren sie einander in Triest erneut über den Weg gelaufen, circa zwanzig Jahre nach Rom. Und nun hier, in Innsbruck, anlässlich einer der jetzt allenthalben immer rarer werdenden Jagden, die ein internationaler Großkonzern mittels hiesiger Geschäftsleitung ausgewählten – ja: handverlesenen – Exponenten aus Wirtschaft, Kultur und Politik zu Ehren (und aus Lobbying-Gründen) veranstaltet hatte. Mit vorangehendem Empfang in der Residenz, vielgängigem abendlichen Menü in einem noblen Fresstempel et cetera. Und natürlich mit exorbitantem Waidschmaus zuletzt.
Er machte sich nichts aus Jagden, ja: lehnte es sogar ab, selbst zu schießen. Auch früher waren ihm formlose Treffen wesentlich lieber gewesen als irgendwelche steife Empfänge. Und knapp nach Sonnenaufgang zum Halali, sich den scharfen Schnaps durch die Kehle jagend und auf einen guten Anblick hoffend – das war nie Seins gewesen …
Zudem hatte er das operative Geschäft vor zwei Jahren schon (zwei Jahre nach Isoldes Tod also) offiziell an seine Tochter und deren Mann übergeben.
Freilich, manche alte Geschäftspartner und Kunden aus früheren Tagen bevorzugten nicht selten noch den Kontakt mit dem Seniorchef; kannte sich Hugo doch in der Branche im Allgemeinen immer noch erheblich besser aus als Stella; und konnte er allemal kompetenter über große Weine parlieren als Claudio, sein eindimensionaler Schwiegersohn. (Betriebswirt, man versteht.)
Die Lamborghini also, Gina mit Vornamen und – wenn sich Hugo recht entsann: – eine Nichte (ja, „Lieblingsnichte“, so hatte sie in Rom schon und nicht ohne Stolz ausgeplaudert) des legendären Ferruccio Lamborghini, steuerte ohne Umschweife auf ihn zu. (Gut, von der alten Garde war auch kaum mehr sonst irgendwer da …, oder?!)
„Hugo!“, flötete sie und warf die blaugraue Mähne schwungvoll aus der immer noch weitgehend faltenfreien Stirn, indem sie ihm quer durch den Saal der Residenz förmlich zuflog.
„Gina!“, rief er durchaus erfreut aus und umarmte die ehemalige Geliebte. In gebotener Dezenz.
„Hugo! O welche Freude, dich hier zu sehen!“ Sie küsste ihn rechts und links auf die Wangen. Dann steuerten sie eines der Biedermeiertischchen an und setzten sich. Ein livrierter Diener kam mit einem Silbertablett und bot ihnen Champagner und Kanapees an. Hugo nickte, nach einem kurzen Blick zu seiner Begleiterin.
Sie stießen mit den langstieligen Gläsern an, und es klang leise und vertraut.
„Wie lang ist das schon wieder her?!“ Ginas Frage oszillierte entsprechend ihrem Timbre, das einem samten-gesättigten Mezzo durchaus gut angestanden hätte.
„Viel zu lang“, seufzte der Angesprochene, charmant dahinschmelzend.
Sie hatten schon damals in Rom heiße Nächte verlebt, durchfuhr es den ehemaligen Industriellen (Baustoffe, Plattenherstellung en gros, Ziegel und Beton) in diesem Moment der Nostalgie eigenartig wehmütig. Wie hatte sie ihn damals genannt? Ach, ja: „Mein ,Murciélago‘!“ Nach dem Markensymbol Onkel Lamborghinis, nach dem legendenumrankten spanischen Superkampfstier gleichen Namens, der anno 1879 angeblich vierundzwanzig Lanzenstöße überlebt hatte und daraufhin begnadigt worden war … Nun lange schon das Pendant zu Ferraris wild-aufsteigendem Hengst als Firmen-Emblem. Während freilich Lamborghinis kraftstrotzender Stier golden auf schwarzem Wappengrund abgebildet ist, wirft sich Ferraris schwarzes, sich aufbäumendes Ross (cavallino rampante) im gelben hochgestellten Rechteck in Pose. Angeblich wurde das schicke Emblem Enzo Ferrari aus Anlass des „Großen Preises von Ravenna“ anno 1923 von Graf und Gräfin Baracca verliehen, hatte ursprünglich indes schon einem piemontesischen Kavallerieregiment, aus dem viele Jagdflieger des Ersten Weltkriegs hervorgegangen waren, als Staffelabzeichen gedient.
Hugo, der bestialischen Tierquälerei, die für ihn der blutige Stierkampf einzig und allein darstellte, grundsätzlich abhold, blieb die Vorliebe für namenspendende männliche Rinder des genialen Automachers Lamborghini (1916 – 1993) stets unverständlich. Doch für den 1963 kreierten „350 GT“ oder den „Miura“ von 1966 mit seinen 385 PS hatte er sich immerhin erwärmen können …
Aber dass ihn Gina während ihrer ersten gemeinsamen Nacht, damals in Rom, „Murciélago“ genannt hatte, war dennoch für alle Zeiten in sein Gedächtnis als Mann eingebrannt. Klar doch.
Ginas Onkel, Ferruccio also, hatte zunächst mit der Erzeugung besonders starker Traktoren, gleich nach 1945 sogar aus ehemaligen Kriegsbeständen zusammengebastelt, überaus erfolgreiche Geschäfte gemacht. Und die Fabrik in Sant ‚Agata Bolognese, zwischen Bologna und Modena, florierte. Nach dem Umstieg auf Nobel-Sportwagen, die er in Kleinserien herstellte und deren Besonderheit im längs eingebauten Motor (longitudinale posteriore = Längsheck) bestand, begann dann freilich erst der wahre Höhenflug der „Automobili Lamborghini“.
Übrigens: Ob an der Mär nun was dran ist, dass Ferruccio mit der Produktion von exquisiten schnellen Automobilen bloß begonnen habe, weil er mit seinem Gerät aus dem Haus Ferrari nicht so recht zufrieden war und er alsbald mit Freund Enzo diesbezüglich eine Wette laufen hatte oder nicht, soll uns weiter nicht tangieren. Seit 1998 gehört das im Jahr 1962/63 gegründete Imperium Lamborghinis übrigens zur deutschen Audi-AG.
Und da saß sie also leibhaftig neben ihm, Gina.
Ob sich sogleich Stierhaftes in ihm regte, sei dahin gestellt. Doch immerhin entbehrte das Wiedersehen nach so vielen Jahren – wann war Triest gewesen? wann Rom? – nicht der Pikanterie.
Was hatte sich inzwischen doch alles ereignet …
Sie tranken gemächlich vom Bollinger und blickten einander mit ständig wachsender Vertrautheit an. Bemerkten ein Mehr an Fältchen (und Falten), Beweise, dass sie gelebt hatten und immer noch lebten.
Nein, bei ihnen hatte sich, auch nach all der Zeit, die vergangen war, ohne dass sie in engem Kontakt gewesen wären, kaum Fremdes eingestellt. Oder gar Trennendes.
„,Murciélago’“, flüsterte Gina, „mein ,Muciélago‘! Ich darf dich doch noch so nennen, Hugo?!“
„Du darfst alles, verehrteste Gina! Alles!“
Es war unklar, wie er sich die Betonung vorstellte – sie sprachen immerhin italienisch, also nicht in seiner deutschen Muttersprache, mit einander. Galt der Akzent dem du oder dem darfst oder gar dem alles?! (Lassen wir das steife verehrteste Gina einmal überhaupt weg, entkleiden wir die Floskel sozusagen lieber gleich, wie auch die beiden älteren Herrschaften sich, in seiner Hotelsuite angekommen, wenig später entkleideten. Zügig und entschlossen.)
Und wieder ging es, ein wenig gemächlicher vielleicht als Jahrzehnte zuvor, um schnaubende Stiere und steigende Hengste, um durchaus eigenwillige Kühe und eigensinnige Stuten.
Weniger um Automobile allerdings.
*
Als die ersten Sonnenstrahlen durch einen Spalt im schweren karminroten Vorhang auf die damastene sattgelbe Bettdecke fielen, gewahrte Hugo, dass Gina nicht mehr da war. Auch beim Frühstück hielt er vergeblich nach der Begleiterin Ausschau. Er wandte sich schließlich an einen Portier an der Rezeption, da er vorhatte, ihr mittels des hoteleigenen Blumendienstes einen Strauß roter Rosen in ihr Appartement schicken zu lassen.
„Lamborghini?!“ Der silberhaarige Angestellte sah am Computer nach und beschied ihm freundlich, aber bestimmt, dass niemand dieses Namens hierorts abgestiegen sei. „Leider …“
Hugo setzte sich in die Lobby und bestellte einen Espresso. Dann überflog er gedankenverloren ein paar internationale Zeitungen. Oberflächlich.
Da fiel ein Schatten von links hinten auf seinen Fauteuil.
„Du bist es, in der Tat! Hugo!“, sagte der Schatten.
Er blickte auf. „Ach, Wondratschek! Du – auch da?!“ Das klang nicht besonders geistreich.
„Ja, ja …, unsere Reihen lichten sich. Und das junge Gelichter wird immer mehr!“, ließ der pensionierte Ministerialdirigent aus Wien lachend eine seiner berüchtigten Pointen detonieren.
„Hast du die Gina schon gesehen, Gina Lamborghini?“, fragte Hugo den Freund – so nebenbei, wie er nur konnte.
„Aber, Hugo! Die schöne Gina ist doch schon seit mindestens fünf, sechs Jahren tot!“, antwortete Wondratschek irritiert. „Erinnere dich doch: Natürlich mit einem der neuesten Modelle aus dem Hause Lamborghini, viel zu schnell unterwegs …, Linkskurve, Rechtskurve und – aus!“
„Ich muss in mein Zimmer, entschuldige!“, erhob sich Hugo rasch. „Ich hab‘ etwas vergessen …“
„Ja, ja“, seufzte Wondratschek, indem er dem Freund kopfschüttelnd nachblickte, „die einen sterben, und die anderen werden vergesslich …“
E N D E
Verwendete Literatur (Auswahl):
Karen Duve/Thies Völker, Lexikon der berühmten Tiere. Von Alf und Donald Duck bis Pu der Bär und Ledas Schwan. München 1999.
Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 4. Aufl. Stuttgart 1992.
Erich Kästner, Im Auto über Land. In: Gedichte. Zürich 1983.
Gero von Wilpert, Die deutsche Gespenstergeschichte. Motiv – Form – Entwicklung. Stuttgart 1994.
Günter Wöhe, Einführung in die Allgemeine Betriebswirtschaftslehre. 21. Aufl. München 2002.
Internet.