
K e i n
Streich-
quartett!
Mehrere Sätze über einen Mord
und ähnlich Kontrapunktisches
von
Bernd Schmidt
© by Bernd Schmidt, Graz 2014.
Wir hatten ein paar Passagiere – nicht annähernd
dem entsprechend,was an Bottichen und
Stewards eingelagert war; die meisten von
denen, die Fahrkarten gekauft hatten, wollten
nämlich wissen, wohin das Schiff fuhr, ehe
sie an Bord kamen.
Ambrose Bierce, Schiffbruchhafte Erinnerungen
*
Die Lehre vom gerechten Krieg erblickt
das Licht der Welt im Dienst der
Herrschenden.
Michael Walzer, Der Sieg der Lehre
vom gerechten Krieg
*
Maestoso/Allegro con brio
Er hätte sie damals umbringen können. Allein schon ihrer dauernden Rauchattacken wegen. Und dabei sahen sie einander (in dieser Zeit, fast wie später dann) nicht einmal so häufig; geschweige denn, dass sie mit einander gegangen wären. Anfangs wäre das wohl auch undenkbar gewesen. Und etwas später? Ja, gewiss, sie hatten eine kurze Affäre miteinander; und daraus wäre unter Umständen sogar etwas Dauerhaftes geworden, wenn – – -. Nun, die Sache hielt ein paar Monate an, immerhin. Doch dann war es auch schon wieder aus. Mit Bomben und Granaten, sozusagen. Und sie mochten einander danach noch weniger als je zuvor.
Doch auch rein geographisch trennten sich ihre Wege bald und – mehr oder weniger – final.
(Nein: Final doch noch nicht …)
Übrigens das Rauchen: Sie rauchte tatsächlich wie ein Schlot! Damals.
Auch er war, wenn auch bloß: ein mäßiger, so immerhin Raucher gewesen zu dieser Zeit. Man rauchte eben, ganz allgemein … Aber ihr unmäßiges Qualmen war nun einmal enervierend, fand zumindest er.
Andern mochte es vielleicht sogar gefallen. Ja, ein paar der Kommilitonen fanden die junge Kollegin mit der Dauerzigarette durchaus schick; und einige schwärmten richtiggehend für die qualmende Anna-Maria Rührwanger. (Ja, sie hätte vorzüglich auf ein Plakat gepasst – vielleicht für Pall Mall, Chesterfield oder Marlboro …)
Nein, ihn stieß sie bloß noch ab; und das weniger des blöden Rauchens wegen. Es gab da noch etwas anderes, etwas Gravierenderes. Durchaus. Nämlich – sie, sie selbst.
Sie stieß ihn ab; damals wie jetzt. Aber, ebenso: damals wie jetzt, war sie nun einmal da; unübersehbar und sozusagen unüberriechbar. Dieses Exemplar Mensch war in höchstem Grad störend. (Man genderte damals zwar noch nicht, aber es war klar: Es handelte sich hier um eine Sie; um eine außergewöhnliche noch dazu.)
Damals, das bedeutet: in den späten 1960er und den frühen 1970er Jahren.
Da hatten sie einander, alles andere als freundschaftlich verbundene Nachbarskinder aus St. Jakob an der Elster (Oststeiermark), die sie gewesen waren die Jahre hindurch, zu allem Unglück nach der gemeinsam verbrachten Mittelschulzeit in der nahen Bezirkshauptstadt auch noch an der Universität in Graz wiedertreffen müssen. Sie: die angehende, permanent rauchende Studentin der Jurisprudenz, er: der angehende Historiker und Germanist.
Damals.
Nein, die Weinhandls und die Rührwangers waren einander aber schon so was von nicht grün. Obwohl sie quasi sogar – über fünf Ecken – verwandt waren. Was indes kaum jemand wusste.
Irgendwie hing schon das ’68er Jahr über den versifften Hörsälen. Oder es warf seine jetzt bereits leicht verrunzelten Schatten voraus, als gelte es, altes marodes Herbstobst auf schlechten Stillleben zu verdunkeln (in Öl gehalten und überflüssig wie der berühmte Steirer-Kropf.)
War dann ohnedies ein Furz, diese ganze Studentenrevolte.
Zumindest hier, in Graz.
Gut, in Paris, da war vielleicht was los! Oder in Berlin, München oder Wien. Aber – hier?!
Doch, ja: Ein paar ältere Semester wurden sogar in Graz beim Demonstrieren von der übereifrigen Polizei aufgelesen und durften ein paar Stunden Arrestluft atmen. Wovon sie dann ihr restliches Leben lang gern und mit Tränen der Rührung in den schwachen Augen ihren Kindern und Enkeln oder sonst wem erzählten, der es gern hören wollte (oder so unvorsichtig war, so zu tun, als ob – – -).
Besser jetzt als überhaupt nie, dachte Eduard Weinhandl, als er da so in seinem schon uralten, indes bestens gepflegten MG – einer echten britischen Rarität! – vor der Kreuzung saß, deren langweilige Ampel seit einer gefühlten Ewigkeit schon Rot zeigte. Noch dazu nieselte es. Trübes Nieselwetter. Kein Mensch weit und breit. Niemand. Aber – rot.
Nirgends ein anderes Fahrzeug zu sehen, leere Straßen ringsum (kein Wunder bei diesem Sauwetter!); und die alte Schnalle, diese unsägliche Anna-Maria Eisenwarth-Rührwanger, die obligate Zigarette – mit silberner Spitze – in der Rechten und in circa zehn Meter Entfernung vor ihm; vermutlich mit der Absicht, den Zebrastreifen zu betreten. Ja, Anna-Maria hatte allem Anschein nach vor, die schmale Gasse zu queren. Sie musste sich jedoch erst noch von den irrsinnig faszinierenden Auslagen eines Schuhgeschäfts losreißen. Recht toll sah sie eigentlich immer noch aus. (Oder schon wieder.) Das musste der Neid der dummen Zicke lassen! Lässig in ihren teuren Pelz gehüllt und in ihre an die siebzig Jahre.
Er hätte sie damals schon umbringen sollen, damals, im Zuge der matten Studentenrevolte. Ja.
Doch der Konjunktiv ist auf Dauer kein guter Partner, Herr Deutschprofessor. Auf ihn kann man sich nicht unbedingt verlassen. Außerdem ist er ein sensibler Geselle; nur halbwegs falsch angewandt, wird er schon fuchtig und kann sich schnell voll gegen einen wenden …
Was Weinhandl jetzt brauchte, war mehr indikativischer Natur. Oder – noch besser -: imperativischer. Ja, der Imperativ gehörte her! Endlich der Imperativ! (Und wenn es schon sein musste, dann sogar der kategorische Immanuel Kants!)
Majestätisch schwoll die Musik im Autoradio an: Das Allegro con brio aus Beethovens Streichquartett in Es-Dur, op. 127. Dieses so feingestrickte Finale des ersten Satzes, mit der ein wenig prätentiösen Bezeichnung maestoso, dieser späten Komposition des Musikgenies allein schon hatte es in sich.
Der Motor jaulte auf, Beethovens Intention quasi übernehmend. Erst in seiner Vorstellung, später (nein: eigentlich fast in der selben Sekunde noch) dann tatsächlich von der Motorhaube des braven Oldtimers aufgegabelt: die alte, Dereinst-einmal-Geliebte, die Nicht-Freundin, die Feindin durch Jahrzehnte, die furchtbare Raucherin Anna-Maria Eisenwarth-Rührwanger. Die letzte Zigarette kam gleichsam in weitem Bogen vor ihr her geflogen. (Ihre Glut würde in einer Nieselpflütze ganz leise prasselnd [pfffft!] ver-enden.) Dann klatschte Anna-Maria selbst aufs trübsinnig nasse Pflaster.
Nochmals.
Wie im Film ereignete sich alles nochmals: Ja, er trat das Gaspedal voll durch. (Der MG jaulte – jetzt tatsächlich [und: mit oder ohne Beethoven] – auf, und der treue Oldie britischer Provenienz zeigte, was noch immer in ihm steckte.) Das sollte eigentlich reichen für dieses alte Gestell, für diese verhasste Anna-Maria da, vor ihm, in ihrem lächerlichen Pelz und den immer noch zierlichen Pumps. Und der glimmenden Zigarette mitsamt Spitze. (Daneben.)
Sie war allem Anschein nach überrascht. In den verbleibenden Sekundenbruchteilen ihres Lebens schien sie zumindest überrascht.
Und das war ihr in den letzten vierzig Jahren zumindest kaum einmal vorgekommen. Nein, da war alles meist ziemlich absehbar gewesen, geordnet und in bestimmten Bahnen abgelaufen, die ihrerseits von Habsucht, Egoismus und Selbstgefälligkeit bestimmt gewesen waren.
Seit sie mit dem Hals-, Nasen- und Ohrenfacharzt Moritz Edgar Eisenwarth verheiratet war, dem Garanten für ihr Wohlleben, für ihren Luxus, ihren Reichtum und die gesellschaftliche Stellung, war sie kaum mehr überrascht worden; sieht man von diversem sündteurem Schmuck, den (immer wieder neuesten) Designer-Klamotten und der Ankündigung einmal ab, ihr Alter werde sie endlich doch noch verlassen; aber keine Angst, es würde ihr auch nach der Trennung an nichts mangeln – außer vielleicht an ihm.
Nein an ihm bestimmt nicht, hatte sie stets, böse-charmant lächelnd, darauf geantwortet. Das andere genüge ihr durchaus. Bliebe nur die bisherige Qualität gewahrt, wie es der Ehevertrag ohnedies ausweise.
„Ach ja der Ehevertrag!“, hatte Moritz Edgar dann stets stirnrunzelnd geantwortet, mit einem tiefen Seufzer des Vorwurfs, der allerdings an ihn selbst, den Nicht-Juristen (den stinkreichen Modearzt also), gerichtet war. „Den Ehevertrag! Den hast du in der Tat ganz famos formuliert, sagt sogar mein Anwalt. Verflucht gut. Das wird mich eine fette Summe kosten, mein Liebling …“
„Nur zu, das wird dir deine junge Tussi doch wert sein? Ist sie diesmal blond, rot, schwarz, grün? Wie denn?“ So oder ähnlich lauteten meist ihre Fragen zum leidigen Thema Nachfolgerin. Und Anna-Maria sah ihren Noch-Ehemann dabei in der Regel belustigt an, wie er, mit seinen grauen Haaren, die bedenklich zum Ausgehen tendierten, und seinem fahlen Teint hinter ihr im Spiegel des geräumigen Umkleidezimmers erschien.
Er schwieg. Auch das gehörte längst schon zum Ritual.
„Machst du mir den Reißverschluss vom Abendkleid zu, Liebling?“
Einmal dann war es doch so weit. Der alternde Prof. Dr. Eisenwarth, Inhaber eines florierenden Privatsanatoriums für diverse Verschönerungen und einer dazu passenden, äußerst wohlhabenden, hauptsächlich (aber nicht nur) weiblichen Klientel, tat es tatsächlich. Er schnitt sich pekuniär zwar sehr, sehr tief ins Fleisch, doch zog er die Scheidung mit (nein: gegen) Anna-Maria dann doch immerhin beinhart durch und setzte sich mit Olga, 23, brünett und aus Weißrussland, nach Nassau ab.
Anna-Maria war ihren langweiligen Alten los, und sein Geld floss ihr, entsprechend dem in der Tat exzellent ausgearbeiteten Ehevertrag, weiterhin in durchaus sehenswertem Strom zu. Der war ihre berufliche Glanzleistung gewesen, dieser Vertrag. An ihn hatte nicht von ungefähr ihr Doktorvater und Kurzzeit-Geliebter, der längst schon verstorbene Univ.-Prof. DDr. Erwin Otternschlag, im wahrsten Sinn des Wortes Hand angelegt – zu ihrem späten Vorteil.
Nein, dachte Eduard, nachdem er die Kontrahentin mit der eleganten Kühlerhaube seines MG voll erwischt und aufgegabelt hatte, sodass sie förmlich durch die Luft flog und ein paar Meter daneben auf den vom Nieselregen nassen Asphalt klatschte, nein, er würde nicht Fahrerflucht begehen. Er würde sich, wenn nötig, seiner Geschichte stellen. (Wie es so schön hieß.)
Und er dachte, seit langem wieder an die kurze gemeinsame hoffnungsvolle Zeit, damals – – -.
Da hatte er also tatsächlich ein Verhältnis mit der Anna-Maria aus der auf den Tod verfeindeten Familie Rührwanger! Er, der Eduard Weinhandl! Weinhandl und Rührwanger! Das durfte doch nicht wahr sein!
Wie es damals gekommen war? Es war ja doch irgendwie eine wilde Zeit gewesen … Außerdem: Schon die Mittelschule in der nahen Bezirkshauptstadt hatte einige Veränderungen mit sich gebracht – gegenüber der Enge dort, in St. Jakob an der Elster. Und dann erst – das Studium in der Landeshauptstadt! Die neuen Freunde und Kommilitonen! Die vielen Lokale! Das Kulturangebot! Das Bier! Bald schon die Joints …
Und dann die stets qualmende Anna-Maria. Auf einmal (und nicht nur der paar Biere und Schnäpse [Weiße Gams!] wegen) gefiel sie ihm …, irgendwie …, ja, doch …!
Und auch sie schien plötzlich durchaus bereit zu sein, über die heimatliche Enge hinaus und trotz der Feindschaft zwischen den Eltern blablabla … Kurz: Sie schliefen mit einander, und der diesbezügliche Draht der Triebe zwischen den Sippschaften funktionierte (wieder einmal) ganz gut. Ja, doch!
Zwar fürchteten sie sich beide – er mehr als sie -, wie man es den Verwandten, den jeweiligen Eltern, in St. Jakob beibringen sollte … Fest stand, dass weder Bürgermeister und Wirt Rührwanger noch Vater Hans Weinhandl, der Fleischermeister und Wurstfabrikant, so besonders glücklich über diese interfamiliäre Wendung sein würden. (Aber ließe sich so vielleicht sogar dieser unsinnige Hass zwischen den Familien beenden?!)
Dann sollte das Kind kommen. Gut, das verminderte die Befürchtungen – besonders bei ihm – auch nicht gerade: Wie würde man in St. Jakob darauf reagieren?
Doch dann lernte Anna-Maria den um einige Jahre älteren Dr. Moritz Edgar Eisenwarth kennen, Assistenzarzt damals noch am Universitätsklinikum. Und lieben.
Das Kind war dann also kein Thema mehr.
Doch klarerweise – auch Eduard war für Anna-Maria ab nun kein Thema mehr. Wozu auch?! Dafür stand jetzt Moritz Edgar, der angehende Facharzt, auf ihrer Lebens-Agenda ganz weit oben. (Und der begabte Medicus, ausgestattet leider mit nur geringen Geistesgaben, ging der attraktiven Zwanzigjährigen ohne jegliche Gegenwehr auf den Leim.)
Der Familienhass. Auf der Seite Eduard Weinhandls blühte er sogleich erneut auf; in noch nie gekannter Pracht! Ja, der Hass verfügte jetzt um eine nicht unbedeutende Facette mehr. Wollte man ihn mit einem Baum vergleichen, nun, da wäre mit einem Mal zumindest ein starker Ast zusätzlich zu verzeichnen gewesen; einer mit reicher Verzweigung!
Eduard Weinhandls Verhältnis zu Frauen war ihm eigentlich die ganze Zeit schon als ziemlich problematisch vorgekommen; warum auch immer. (Jedenfalls schienen sich seine älteren Brüder, Otto und Rudolf, wesentlich leichter mit dem anderen Geschlecht zu tun; und auch seine männlichen Mitschüler, später die Studienkollegen, so glaubte er, hätten dabei mit weit weniger Schwierigkeiten zu kämpfen.)
Wie anzunehmen, gestaltete sich sein Zugang zum Weiblichen nach der – in mancherlei Hinsicht abrupten – Trennung von Anna-Maria Rührwanger keinesfalls weniger kompliziert als zuvor. Nein, Eduard schien es noch schwerer mit dem anderen Geschlecht zu haben als vor der so schnöde beendeten Anna-Maria-Angelegenheit; schnöde beendet von der Geliebten aus, wohlgemerkt.
Zwar galt der junge Weinhandl durchwegs als recht charmanter Zeitgenosse, verstand es, gekonnt und auf einigermaßen hohem Niveau zu flirten; doch legte er die einmal eroberten Damen meist sehr rasch wieder ab.
Für längere Beziehungen konnte er sich nicht mehr erwärmen. Nein,beim besten Willen nicht.
Umso lustiger fanden die Nichten und Neffen, kam er auf Besuch nach St. Jakob an der Elster, den meist gutgelaunten Onkel; egal, ob die Kinder seiner Brüder oder die zwei Nichten, die ihm seine knapp ältere Schwester Helga gemeinsam mit Ehemann Werner beschert hatte. Ja, auch die beiden Mädchen, Katharina und Luise, hielten ihren Onkel Edi für super.
Möglicherweise kompensierte Eduard Weinhandl auf diese Weise sein Beziehungsvakuum? Oder fand er Kinder einfach lieb und drollig? (Und freute sich, sie nicht dauernd um sich haben zu müssen – so wie die Frauen?!)
Lassen wir die Spekulationen. Fest stand: Seine Gekränktheit in Sachen Anna-Maria wollte nicht geringer werden, und die Abneigung bot einen vortrefflichen Nährboden für den Hass, der sukzessive in Eduard daraus erwuchs.
Ein starker Ast, wie gesagt, mit reicher Verzweigung!
Und der Hass auf die qualmende Störerin seines inneren Friedens vermochte, ungehindert zu wachsen und zu gedeihen …
Fortsetzung folgt!
Adagio ma non troppo e molto cantabile
Es ist müßig wie so vieles andere auch, nämlich: Sich darüber allzu viele Gedanken zu machen, aus welchen Gründen heraus jemand jemand anderen umbringt. Oder auch bloß umzubringen gedenkt; denn oft genug bleibt es ja beim Vorsatz. Beim Wollen. Bei der Lust. Für die Durchführung der Tat fehlen dann jedoch meist die Möglichkeiten. Der Mut. Oder die Überwindung. Denn – abgesehen vielleicht von den Fällen, in denen ausgesprochene Lustmörder zu Gange sind – auch das Umbringen hat mit Sicherheit so seine Schattenseiten … Und daher bleiben viele Mordfälle unerledigt wie ungeliebte Aktenstücke in der Registratur.
Also liegen zwischen dem Wunsch, jemanden liebend gern umzubringen, wenn sich nur eine halbwegs taugliche Gelegenheit dazu ergäbe, und dem tatsächlichen Töten im übertragenden Sinn Welten. Und statistisch sind die nicht durchgeführten, sondern nur in Erwägung gezogenen Morde ohnedies irrelevant.
Im Grund genommen ist das Ermorden eines Menschen freilich auch keine so epochale Angelegenheit, wie man vielleicht als Außenstehender meinen möchte; nicht viel aufregender etwa als Nasenbohren. Nur, dass Letzteres mit weit geringerem Image verbunden ist; obwohl beim Nasenbohren die Todesrate vergleichsweise wesentlich niedriger ist. (Oder aber: Genießt das Nasenbohren gerade deshalb weniger Ansehen?! Hat Nasenbohren quasi keine vergleichbare Lobby wie das Umbringen?!)
Das mit der Zahl der Morde ist naturgemäß auch so eine Sache. Nicht nur, dass mit Sicherheit längst nicht jeder Mord als solcher aufgedeckt (und aufgeklärt) wird, nein, es kann dabei durchaus auch gemogelt werden. Gerade weil manche Morde nachgerade als schick oder fesch gelten, schummelt da nicht selten einer – etwa so wie mit den Lebensjahren (bei Frauen, freilich in die andere Richtung!) oder der Zahl der sexuellen Abenteuer (bei Männern). Das mag naturgemäß freilich Milieu-abhängig sein.
Und noch etwas: Vermutlich geschehen nur aus einem Grund so viele Morde, wie eben geschehen, weil die vielen anderen einfach unterlassen werden, obschon man sie nur allzu gerne ausführen wollte … Doch Sitte, Moral, Umstände oder Furcht vor Entdeckung, was weiß ich alles noch, hindern die potenziellen Mörder letztlich an ihren Taten.
Man mag das bedauern. Oder darüber froh sein.
So ist es nun einmal.
Vom Entschluss, jemanden töten zu wollen, bis dorthin, wo dieser jemand dann tatsächlich von einem auch umgebracht wird, mag im Einzellfall ein nur kurzer Weg sein; oder es verstreicht auch gar keine Zeit zwischen dem Willen zur Tat und dieser selbst. Dann sprechen wir von Affekt. Einfach Affekt. Und das hat ergo mit Gefühl oder Emotion zu tun, zu deren Synonym das Wort weitestgehend geworden ist.
Der Kulturhistoriker Norbert Borrmann erläutert in seinem „Großen Lexikon des Verbrechens“ (Berlin 2005, S.17): „Die Beherrschung der Affekte, d. h. der unmittelbaren Handlungsantriebe, bildet eine Voraussetzung für ein harmonisches menschliches Zusammenleben.“ Woraus wir schließen können, dass die Nichtbeherrschung eben dieser Affekte dem harmonischen Zusammenleben eher abträglich ist.
Obschon manche Menschen für Affektaktionen quasi disponierter sein mögen als andere, können rein theoretisch bei jedem einmal die Sicherungen durchgehen.
Der Psychiater und Nervenarzt Uwe Henrik Peters definiert in seinem „Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie“ (5. Aufl. München – Jena 2005) Affekt als „heftige Gefühlswallung. Meist verbunden mit körperlich-vegetativen Begleiterscheinungen. Zum Begriff gehört, dass die Gefühlstönung nur für kurze Zeit geändert wird (Unterschied zur Leidenschaft) und so stark werden kann, dass die rationale Persönlichkeit sich nicht dagegen durchzusetzen vermag.“ Übrigens: „Nach Vollführen der Handlung ist der Affekt abgeklungen, und die besonnene Persönlichkeit nimmt erneut wertend Stellung, verwirft gewöhnlich die Handlung.“ (S. 7 f.)
Völlig anders ist das naturgemäß beim Lustmord, einer in der Regel aus krankhaftem Trieb heraus vollbrachten blutigen Tat. Borrmann listet dankenswerter Weise vier Hauptvertreter auf diesem Tötungssektor auf: den Aufschlitzer, den Pfähler, den Hämomanen oder Blutliebhaber und den Zerstückler. (Borrmann, a. a. O. S. 520 f. Vermutlich können alles das Frauen auch, doch wir möchten hier nicht andauernd gendern.)
Peters unterscheidet beim Lustmord zum einen die Bluttat „aus sadistischer Wollust“, zum anderen die „bei Notzuchtverbrechen unbeabsichtigte Tötung oder [den] Mord als Mittel, um den einzigen Zeugen zu beseitigen.“ (Peters, S. 332.)
Abgesehen davon, ob jemand aus Lust mordet oder nur aus Unlust, was das Opfer betrifft, der Effekt bleibt für dieses derselbe; egal auch, ob die Tat im Affekt oder nach einem peniblen Plan erfolgt. Dem Dahin-Gemordeten kann es egal sein. (Übrigens gilt insgesamt stets auch die weibliche Form, auch hier wurde bewusst nicht gegendert.)
Auch wird oft nicht gleich, also wenn der Anlass sich erstmals ergibt, geschlagen, geschossen, gestochen et cetera. Nicht selten liegen zwischen der ersten Absicht zur Tötung und der endgültiger Bereitschaft zur Tat (plus Durchführung) Jahrzehnte, ja: quasi ein Leben …
Die einen schlagen also wie aus heiterem Himmel zu.
Bei anderen dauert es wieder. Und nicht nur ein Adagio ma non troppo lang. (Schon gar nicht e molto cantabile!)
Im Fall des Eduard Weinhandl etwa verstrich von den ersten Mordgelüsten, die diesem eingebildeten, verzogenen Nachbarskind Anna-Maria Rührwanger galten, bis zur Ausübung des Mordes an der fiesen alten Dr. Anna-Maria Eisenwarth-Rührwanger mittels Automobils mehrere Jahrzehnte.
Nicht etwa, dass der Hass des kleinen Edi-Burli gegen die kleine Annili, später des Teenagers Edy gegen den Teenager Annie, des Kommilitonen Ed gegen die Kommilitonin Anne-Mary, schließlich des alten Mannes Eduard gegen die Altersgenossin, die auch schon wieder Anna-Maria hieß. Und entsprechend auffriesiert und chirurgisch optimiert erschien.
Während an Eduard Weinhandl lediglich sein attraktiver alter MG entsprechend aufgemotzt und auto-medizinisch gepflegt war. (Wen es interessiert, ein MG TF, Roadster, Ende der 1950er Jahre gebaut. Ein echter MG also noch; aus der Rover Group; weder von BMW noch von Nanjing oder Shanghai; ein MG, noch hergestellt in Oxfordshire; eine Rarität …)
Zum Morden kann eine Portion Hass nicht schaden. (Wenn Hass nicht ohnedies die Voraussetzung für eine finale Bluttat ist.) Und an Hass herrschte im Haus Weinhandl, was die Nachbarschaft Rührwanger betraf, nie ein Mangel.
Sogar die beiden Mütter, Agathe Weinhandl und Kreszentia Rührwanger, waren einander spinnefeind. (Nicht ganz unverständlich: Hatte doch diese den Johann Weinhandl zurückgewiesen und den Josef Rührwanger genommen. Der Hans wiederum hatte zwar letzten Endes dann die Agathe geheiratet, aber für sie musste das doch irgendwie und auf immer mit dem Beigeschmack der zweiten Wahl verbunden bleiben … Für ihn ohnedies.)
Nein, Herr Professor Freud, dieser Hass der Weinhandls auf die Rührwangers (oder besser: diese starke Abneigung Eduard Weinhandls, Anna-Maria betreffend) und umgekehrt, der wuchs sich nicht zur krankhaften Aversion aus. Das wäre zu leicht gewesen. Zu durchschaubar. Das lief mehr auf einer lebens-theoretischen Schiene … Nicht impliziert pathologisch.
Eduard Weinhandl, der längst zum AHS-Lehrer für Deutsch und Geschichte aufgestiegene junge Mann, bezog auch nicht fürderhin aus irgendeiner wunderlichen Anna-Maria-Phobie sein einziges Lebenselixier; man muss da keineswegs die Romantiker bemühen, besonders den E. T. A. Hoffmann (den im Übrigen auch Sie so schätzen, Herr Professor!) um den – zuletzt auch schon – pensionierten Lehrer immer noch im unlösbaren Bann der furchtbaren Frau Dr. jur. Eisenwarth-Rührwanger zu wähnen. Nein, nein.
Sie wirkte auf ihn, was die Ausstrahlung betraf, weder vergleichbar dem teuflischen Wetterglasmacher Coppola noch dem hässlichen Advokaten Coppelius (oder waren die nicht ohnedies ident?! – Egal!) aus Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“; und bedeutete auch nicht den unseligen, in die eigenen Kunstwerke verliebten Goldschmied und Mörder Cardillac („Das Fräulein von Scuderi“). Nein, Prof. Dr. Weinhandl war ja kein Trottel.
Aber –
Überhaupt: Mord. Was ist das schon: Der von jemandem, dem Täter, sozusagen in Eigenverantwortung (egal, ob ihm solches überhaupt zu entscheiden zustünde oder nicht) angesetzte und festgelegte Zeitpunkt des eines – vielleicht fernen, vielleicht nahen – Tages ohnedies anstehenden Abgangs eines Mitmenschen. Dass wir gewohnt sind, diesen Gemordeten dann als Opfer zu bezeichnen (was wir, stürbe er ohne Einwirkung von außen, vermutlich nicht täten), ist weniger der Moral oder dem Rechtsempfinden geschuldet als vielmehr der Konvention: Wo ein Opfer ist, können wir nämlich auch leichter von einem Täter sprechen. Sonst müssten wir womöglich Katalysator sagen; Katalysator im Fluss des Daseins …
Und wo Täter und Opfer zusammen- und aufeinandertreffen, gibt es dann meist folgerichtig eine Tat. Und die Tat ist wiederum (auch wiederum meist) verwerflich.
Es sei denn …
Genau. Komplexer wird die Mord-Angelegenheit nämlich im Falle des Krieges. Denn dieses Geschäft täte sich – oder die, die es betreiben, täten sich – schwer, würde das Morden unter diesen veränderten Umständen ebenfalls als verwerflich gelten und daher nicht erlaubt sein.
Doch keine Bange, seit Heraklit von Ephesus (um 550 – 480) formuliert hat, dass „der Krieg der Vater aller Dinge“ sei, gilt kurioserweise das regulierte und methodisierte Morden als Synonym für Fortschritt. (Die diesbezügliche Bestärkung durch den Kirchenvater Augustinus und andere weitgehend inkompetente kirchliche Ohrenbläser war der schlechten Sache zudem nützlich, ging es darum, den Krieg, sozusagen, salonfähig zu machen. [Siehe dazu: Michael Walzer, „Der Sieg der Lehre vom gerechten Krieg – und die Gefahren ihres Erfolges“. Hamburg 2003, S. 31.]) Man erklärte den im gerechten Krieg erlittenen Tod einfach für etwas Gutes, ja: unbedingt Erstrebenswertes; und im Islam außerdem mit den höchsten sexuellen Himmelsfreuden verbundenes. Und die Kirche sah sich in der Lage, quasi im Gegenzug, wie es von deren Seite dann ja auch permanent geschah, alles andere – etwa die Sexualität und die damit verbundene Lust, die unangepassten Wissenschaften, überhaupt jegliche Kritikfähigkeit und grundsätzlich das Denken – munter drauf los zu verdammen!
Nebenbei: Auch von den himmlischen Heerscharen schwafelt die Ecclesia sanctissima weiterhin mit Freude. Ja, und eine allerletzte Schlacht, in der sogar Gott höchstpersönlich wie natürlich die ihm stets treuergebenen Engel voll des göttlichen Eifers mittun werden, die wird doch wohl gefälligst unter dem Begriff heiliger, gerechter Krieg zu subsumieren sein; welchem Gemetzel oder was für einem Waffengang denn sonst stünde die Bezeichnung zu?!
So einfach ist das.
Doch nicht nur das Christentum lässt sich seinen gerechten Krieg nicht nehmen, auch die Juden, als Vorläufer-Religion in vielem leuchtendes Vorbild und stabile Basis, brauchen ihn – welthistorisch wie religionsgeschichtlich (und noch in die Gegenwart hinein wirkend).
Dann, zur Zeit zumindest am prominentesten: die dritte große monotheistische Religion, der Islam. Wie sieht die Haltung der Muslime zu Kampf, Krieg und Mord ganz allgemein aus? Und: Wie reagieren die übrigen Religionen und Ideologien, die politischen Fraktionen, die NGOs und die angeblich kultivierte Welt ganz allgemein auf den aktuellen Dschihad?!
Allein die permanenten Kämpfe etwa zwischen dem Lager der Sunniten (mit ihrer angestrebten Regierungsform des Kalifats) und der Schiiten (die auf die durch Imame ausgedrückte göttliche Fügung setzen) machten es der nichtislamischen Welt bisher leicht, von inneren Angelegenheiten der Mohammedaner zu sprechen. So konnte man ringsum erwartungsvoll auf den Ausgang der blutigen Fehde warten. Das massive Auftreten der entmenschten Dschihadisten im selbsternannten Islamischen Staat (IS) im Irak und in Syrien veränderte jedoch besonders im Jahr 2014 die an sich angespannte Situation und ließ sie vollends eskalieren. (Besonders die Türkei befand sich in einem echten Dilemma, mit wem oder gegen wen sie denn sein sollte: Musste sie die verhassten Kurden unterstützen oder mit dem IS halten?)
Zudem hatte man sich nun gefälligst ganz allgemein mit dem Islam auseinanderzusetzen; wie auch mit dessen Definition des Gotteskrieges. Ja, endlich einmal auch mit dem, was denn nun tatsächlich sonst noch so alles im heiligen Koran drinnen stünde …
Und siehe da: Den Leuten gingen mit einem Mal die Augen auf – und über; wie dem legendären Krokodil, nachdem der Elefant auf es getreten war. („Gelt ja, da schaust du?!“)
Da ließ es sich nicht so leicht und ohne weiters wieder zur Tagesordnung übergehen. Und auch die Proponenten einer möglichst effizienten Front gegen die IS kamen gehörig zu Wort; auch wenn es an profunden Rezepten gegen die brutalen Menschenschlächter fehlte.
Zwar konnten sich, unweigerlich schier, ein paar Literaten wieder einmal die vor Leidenschaft zuckenden Finger wund schreiben gegen das – in Wahrheit doch immer – sinnlose Hinmetzeln. In ehrenvoller historischer Abfolge und Tradition und im schönen Angedenken an Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen und seinen „Abenteuerlichen Simplicissimus Teutsch“ (1669) über Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929) bis zu Italo Calvinos „Der geteilte Visconte“ (1952). Es würde bloß auch diesmal nichts nützen.
Die Burschen, die siegreich aus Schlachten hervorgingen, wurden und werden ganz allgemein als Helden bezeichnet. Die überhaupt nur irgendwie hervorgingen (oder -krochen oder -humpelten), von denen hieß es, sie hätten eben noch mal Glück gehabt.
Und die nicht dabei gewesen waren, die galten ohnedies als Feiglinge.
Kurioser Weise schien der Tod jedenfalls mehr wert zu sein als das Leben. (Ihre Theorie, lieber Professor Freud, Ihre Theorie des ewigen Widerstreits zwischen Thánatos und Eros, also der dauernden Konkurrenz zwischen dem Todes- und dem Selbsterhaltungs- [sowie Fortpflanzungs-]trieb, kannte man noch nicht; oder man ließ sie, als sie dann doch bekannt gemacht worden war, eben einfach nicht gelten, nicht wahr?!)
Von den gefallenen Helden konnte man, da sie meist sehr jung ihr Leben hatten lassen müssen, auch verklärend behaupten, sie seien in Wahrheit die Blüte der Nation gewesen … Und da das alle am jeweiligen Krieg beteiligten Nationen von ihren jungen Toten behaupteten, konnte, ohne großen Aufwand, in der Regel schon bald darauf ein triftiger Grund für eine Neuauflage des alten Krieges aus dem Hut der Geschichte hervorgezaubert werden.
Und der Waffenindustrie und ihrer Lobby dürfte das alles nur recht gewesen sein.
Der Kirche seltsamerweise auch. Warum wohl?!
Apropos Kirche.
Eine besondere Position nimmt in diesem Zusammenhang ohnedies der sogenannte liebe Gott ein. Schon beim Mord, den der Ackerbauer Kain an seinem Bruder, dem Kleinviehhirten Abel, verübt, hätte Jehova, wie wir wissen, ja ein gewichtiges Wort mitzureden gehabt; vielleicht hätte er die Untat überhaupt verhindern können (Gen, 4, 1 ff.); doch zunächst schweigt Gott und schaut interessiert zu, was und wie ihm die beiden da ihre so verschiedenen Opfer darbringen. Denn sich was Schönes und Wertvolles opfern zu lassen, ist wohl eine der Hauptbeschäftigungen Gottes nach getaner Schöpfung. (Zumindest laut biblischer Überlieferung.)
Also wartet Jehova ab. (Mal, sehen, was da weiter geschieht; obwohl, ich weiß es ohnedies schon …) Und er besieht sich in Ruhe die attraktiven Gaben, die ihm der patente Viehzüchter Abel da darbringt aus Küche, Keller und vor allem aus dem Stall. Und die Zelebration fällt voll nach Gottes Geschmack aus. Dann betrachtet er das weniger gelungene Opfer von Bruder Kain, der für solche Sachen nun einmal überhaupt kein Händchen zu haben scheint … Jedenfalls qualmen sein dürres Gemüse, die holzigen Stauden und die welken Salatblätter erbärmlich vor sich hin, während der Rauch von Bruder Abels Opfertier durchaus appetitlich als Zeichen zum göttlichen Barbecue gen Himmel steigt …
Beim Ranking fällt der Biobauer Kain dann, wie erwartet, durch – und ermordet darauf hin, zu Tode (sic!) frustriert, seinen Bruder, den ach so ordentlichen, karnivoren Opferzubereiter und Sonnyboy Abel. Et cetera.
Komplexer ist, um kurz noch bei der Bibel zu verweilen, der Fall des sogenannten Stammvaters Abraham (Genesis 22, 1 ff.), dem Gott befiehlt, er möge ihm seinen viel-geliebten Sohn Isaak opfern. (Gut, Menschenopfer mögen zu Abrahams historischer Zeit üblich gewesen sein, aber dennoch mutet der Befehl recht harsch an; noch dazu – von Jehova selbst geäußert. Und nochmals gut, dass besagter Jehova ohnedies bloß Abrahams Glauben und Opferbereitschaft auf die Probe stellen will; so kann der Herr nämlich danach großzügig auf die tatsächliche Opferung des Stammvater-Sohnes verzichten.)
Gut. Dann sind wir ja beinahe schon bei der Frage, ob der Mord – also auch verkleidet als Krieg – immer von Übel ist; oder ob es da womöglich Ausnahmen gibt … Denn wäre er auf jeden Fall schlecht, so dürfte (und könnte) Gott ihn wohl nicht gestatten und zulassen. Laut Augustinus freilich ist sogar ein heiliger Krieg möglich. Ergo von Gott gestattet. (Wobei der spätere Zweck dann also die blutigen Mittel heiligt, wodurch der Krieg quasi ent-übelt wird.)
Und schon sehen wir uns in Überlegungen zur Theodizee hineingeworfen und treffen flugs auf Gottfried Wilhelm Leibniz („Essais de théodicée sur la bonté de Dieu, la libere de l’homme et l’origine du mal“, 1646 ff.): Wie ließe sich wohl – wie schon Epikur wissen wollte – das Übel in der Welt überhaupt mit der Existenz eines allwissenden, allmächtigen und allgütigen Schöpfergottes vereinbaren? Ja,wie?
Die Theodizee vereinfacht: „Will Gott das Übel vermeiden und kann es nicht? Dann ist er nicht allmächtig. Kann er das Übel vermeiden und will es nicht? Dann ist er nicht allgütig. Wenn er aber will und kann, woher stammt dann das Übel?“ (Nach Lothar Kreimendahl, „Hauptwerke der Philosophie. Rationalismus und Empirismus“. Stuttgart 1994, S. 351.)
Um das Trilemma zu lösen (oder zu umgehen), kann man die Existenz Gottes oder die des Übels leugnen – oder man muss eine Form der Kompatibilität zwischen dem Allmächtigen und dem Vorhandensein des Schlechten in der Welt akzeptieren, wie es Leibniz tut. Der Ausdruck Theodizee hilft dabei, bedeutet er doch Rechtfertigung Gottes.
Ob nun das Böse im Menschen selbst sitzt, oder ob es dort erst zu Tage tritt, wo der Mensch auf seinesgleichen trifft? Lokalisieren – etwa im Gehirn – lässt es sich neuerer Forschung nach jedenfalls nicht. Und da Menschen bekanntlich durchaus auch friedlich zusammenzuleben vermögen, werden wir seinen Ursprung vermutlich nicht so bald lokalisieren können.
Von Ausschalten überhaupt keine Rede.
Gott, wenn wir ihn schon einbeziehen in die Überlegungen, hat also nichts (oder: nicht grundsätzlich etwas) mit dem Übel zu tun. Und im Menschen ist es auch nicht prinzipiell angelegt. Also müssen wir uns wohl damit abfinden, dass es einfach so auftaucht. Wie die nicht eingeladene dreizehnte Fee, die böse (sic!), zum 15. Geburtstag „Dornröschens“ …
Ach, ja: Auch der im Allgemeinen so populäre Kasperl ist nicht ohne. Sonst, wie allgemein bekannt, nicht selten ein pädagogisch probater Helfer in Erziehungsfragen, gleichsam: der Mohnzutzel des Theaters, mutiert auch der gewiefte Nachfahre des derben Hanswurst nicht selten vor und in Kriegszeiten zum Handlanger der Kampfbefürworter und Kriegstreiber; bis er, hat er einmal kräftig eines auf die Rübe gekriegt, freilich schleunigst zum Widerständler mutiert und selbstredend immer schon ein eingefleischter Kriegsgegner war …
Hier, bei uns indes geht es nicht um Heldentum und nicht um die Erfüllung oder Verweigerung von irgendwelchen noch so skurrilen Opferforderungen von höherer Stelle aus, auch nicht um den Kasperl und um sonstiges rituelles Getue: Hier geht es um den Mord, den jemand aus Hass heraus begeht. Aus zwar enorm tiefem, schwarzem, unbändigem Hass, indes dennoch (oder gerade deshalb) zu einem genauso sinnlosen Effekt führend. Eben zum Tod des anderen. (Schon wieder nicht ge-gendert!)
Fortsetzung folgt!
Scherzando vivace
Im Sommer des Jahres 1936, in St. Jakob an der Elster, beim Dorffest: Da geschah es, dass aus dem Josef Rührwanger, damals so um die zwanzig, und dem gleichaltrigen Hohann Weinhandl das wurde, was man gemein hin Todfeinde nennt. Eine Wirtshausrauferei war es zunächst gewesen, doch bald artete die Schlägerei für die beiden in einen Kampf quasi auf Leben & Tod aus. Auf ein paar Zähne, blaue Augen und eine gebrochene Rippe, immerhin. Und peinliche Befragungen durch den auch nicht gerade aller-nüchternsten Dorfgendarmen, einen gewissen Adolf Horstinger. Großes Trara. Gericht und so weiter, Bußzahlungen.
Worum es ging? Um die Zenzi Frumm, die Freundin vom jungen Weinhandl. Ja, um die Kreszentia. Auf die hatte nämlich der Sohn vom Bürgermeister Rührwanger, der junge Sepp Rührwanger, ein Aug geworfen; ein blaues und ziemlich entschlossenes. Der alte Rührwanger, der übrigens auch Josef geheißen hat, wurde ein paar Jahre später, gleich nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland, NS-Ortsgruppenleiter; nach 1945 bald wieder Bürgermeister, starb der alte Sepp Rührwanger anno 1970, hoch geehrt (insbesondere vom örtlichen Kameradschaftsbund) und fast allseits beliebt (mit Ausnahme der Familie Weinhandl).
Gut, der Bürgermeistersohn machte damals also das Rennen um die Gunst der feschen Zenzl. Aber weniger, weil er der Sprössling vom Orts-Kapo war, sondern vielmehr, weil er sich eben als fescher, strammer Bursch erwies. Und als ein wenig fescher noch und strammer als sein damaliger Nebenbulle, der Fleischergeselle Hans Weinhandl. (Aber auch der war an sich durchaus fesch und stramm; doch da ging es gewissermaßen um Millimeter.)
Und so wurden die Rührwangers und die Weinhandls Feinde. Bis in irgendein Glied.
Die Zenzl, richtig: Kreszentia, stammte als Tochter des Stefan und der Franziska Frumm ebenfalls aus einer alten Familie, deren Namen sich in der Ortschronik von St. Jakob an der Elster zweifelsfrei des öfteren gefunden hätte, wenn es eine solche überhaupt gegeben hätte; doch St. Jakob an der Elster verfügte über keine Ortschronik. Weder die Pfarrherren noch die Schulmeister waren allem Anschein nach willens oder in der Lage gewesen, durch all die Jahre, eine solche anzulegen und dann kontinuierlich weiterzuführen. (Bloß die Taufmatrikel gibt eher dürr und dürftig Auskunft über die orts-dynastischen Zusammenhänge …)
Vater Stefan Frumm war Hufschmied sowie Gemeinderat (und als solcher der – zumindest leicht sozialistisch angehauchte – Kontrahent des Bürgermeisters Josef Rührwanger sen.), Mutter Franziska in erster Linie gläubig. Und das – vermutlich – zu nicht geringem Grad aus einer gewissen Bußgesinnung heraus; war doch die Zenzl, also die Kreszentia so eigentlich gar nicht den ehelichen Lenden des Stefan Frumm entsprossen, sondern die inzwischen hübsch herangereifte Frucht eines Fehltritts, den sich Franziska gemeinsam mit dem Hermann Weinhandl, dem Bruder von Hans Weinhandls Vater (und Eduard Weinhandls Großvater) Franz Xaver, einem recht flotten Vertreter für landwirtschaftliche Maschinen, geleistet hatte. Ja, dieser Hermann, der säte so gut wie überall aus, in der Gegend …! Doch dass die Zenzl keine Frumm war, das wusste kaum jemand außer eben ihrer Mutter Franziska, dem Hermann Weinhandl und der alten Hebamme Erna Wammberger. (Also der halbe Ort.)
Egal. Ab 1936 gehörte die Zenzl, die spätere Mutter der Anna-Maria, die gut zehn Jahre später und als viertes Kind zur Welt kommen würde, also zum jungen Rührwanger. Punkt.
Und die Rührwangers und die Weinhandls waren bös mit einander. Punkt um.
Die alte Tante Gretl (eine verwitwete Plaschke, geborene Riemenzier, angeblich eine ältere Schwester von Franziska Frumms Mutter Genoveva), galt als echtes Original. Soll heißen: Gegen sie waren die anderen Originale bloß unattraktive Doubletten, Kopien bestenfalls. Also, die Tante Margarete, besonders, wie sie schon ganz alt war, lehnte allerlei Dinge ab; insbesondere zwei Sachen: erstens einmal jeglichen Krimskrams, also sogenannte Mitbringsel; unnötiges Erinnerungszeug, in Porzellan gehalten, aus Keramik oder Holz. Sie hieß die Souvenirs allesamt: Staubfänger! und verbannte sie alsbald, nachdem sie sie geschenkt bekommen hatte, wieder aus der penibel sauberen Wohnung, die sie mit ihrem Mann, dem Oskar Plaschke, und auch über dessen Tod hinaus bewohnte. Das zweite, was sie strikt ablehnte, waren geistige Getränke; doch just ohne die diversen Schnäpse, Liköre, Brände et cetera vermochte der genervte Oskar sein fast fünfzig Jahre dauerndes Ehe-Martyrium an der Seite seiner zänkischen Margarete kaum auszuhalten. Und während sich der alte Plaschke sein tägliches Quantum (aus welchen obskuren Quellen auch immer) besorgte, lamentierte die Tante über eben die Saufallüren ihres Gatten und über die Staubfänger, die man ihr, alle die ständig wiederholten Interdikte ignorierend, immer noch und immer wieder mitbrachte und überreichte; seien es ausgestopfte Schwertfische aus der Südsee, Cognac-Schwenker aus dem Elsass, gehäkelte Deckchen vom Balkan oder leere Chiantiflaschen aus Rimini.
Sie waren ein kurioses Paar, die Tante Gretl und der Onkel Oskar. (Zumindest wurde das unter den Familienmitgliedern, die sich überhaupt noch an sie erinnern konnten, so erzählt.)
Nur: Von wem sie eigentlich Tante und Onkel waren und von wem sie ihrerseits wirklich abstammten, blieb bis zuletzt unklar.
Als der Onkel Oskar dann im Jahr 1965 starb, fanden sich in seinen Papieren erstaunliche Hinweise auf seine recht unappetitliche Profession in der Zeit des sogenannten Dritten Reiches. Doch wer wollte jetzt ausgerechnet daran rühren? Und noch dazu – in St. Jakob an der Elster?! Mein Gott, ein Nazi mehr …
Als die saubere Tante Margarete ihm in den 1970er Jahren dann in Richtung Ortsfriedhof folgte, stellte sich heraus, dass sie gar keine geborene Riemenzier gewesen war, sondern, bevor sie den Oskar Plaschke heiratete, Striemberger geheißen hatte.
Aber vielleicht gab es die beiden gar nicht?!
Ja.
Der richtige Vater von der jungen Zenzl, um die es anno 1936 im blutigen Streit zwischen dem damals ebenfalls jungen Josef Rührwanger, also dem Vater der späteren Anna-Maria Eisenwarth-Rührwanger, und dem nicht minder jugendfrischen Johann Weinhandl gegangen war, der Reisende Hermann Weinhandl, der kam im Jahr 1960 bei einem Autounfall ums Leben. Da soll angeblich ziemlich viel Alkohol im Spiel gewesen sein.
Ja, und der Vater Anna-Marias, Josef, starb hochbetagt in den späten 1990er Jahren. Der zuletzt schwer wassersüchtige und berufsbedingt alkoholkranke Wirt hatte von seinem Vater, Josef dem Älteren, das Wirtshaus „Zur Goldenen Ähre“ in den späten 1950er Jahren übernommen; obwohl er bloß der zweitgeborene Sohn war. (Aber der ältere Bruder, der Raimund, hatte geglaubt, zu Höherem berufen zu sein, und war bald nach 1945 nach Australien ausgewandert, um dort nach Opalen zu graben. Er fand aber keine nennenswerten Steine, sondern vielmehr den Tod bei irgendeiner üblen Messerstecherei …)
Später war dem Josef von seinem alten Herrn quasi auch noch das Amt des ÖVP-Bürgermeisters zugefallen; in einer Art schwarzer Erbpacht. Dazu hatte Sepp jun. bald auch die Funktionen des Vaters als Obmann des örtlichen Maschinenrings und im Bezirksvorstand der Raiffeisen-Organsiation inne. (Sein ältester Sohn, der – wie könnte es anders sein – auch wieder Josef hieß und Anna Marias Bruder war [neben Fritz, Franz und Georg], erklomm sukzessive die Karriereleiter bei der örtlichen Sparkasse; alles unter dem bekannten Giebelkreuz.)
Die letzten Jahre seines Lebens hatte der Witwer Sepp trotz allen Wohlstands, gesundheitsbedingt mehr schlecht als recht vor sich hin vegetiert. Allein. Anna-Marias Mutter Zenzl war ja schon anno 1985 verstorben. Krebs. Leider.
Zum – wie dargetan – politisch recht wendigen Josef Rührwanger I. sei noch nachgetragen, dass er außerdem bis ins hohe Alter ein schießwütiger Jäger, stets bereiter Bereiter (also ein legendärer Weiberheld) und auch sonst ein ziemlicher Ungustl war. Ruhe seiner Asche.
Stefan Frumm, der damals (um 1918 herum) gehörnte Ehemann von Zenzls Mutter Franziska, einer geborenen Riemenzier, der kurz sogar als sozialdemokratischer Gemeinderat der ziemlich starke Widerpart des alten Rührwanger gewesen war, hatte das Verbot seiner Partei, dann die Nazi-Zeit und auch den Fronteinsatz in Russland zwar überstanden, war jedoch im Jahr 1953 an den Folgen eines Traktorunfalls gestorben. Franziska überlebte ihren Mann und den Vater ihrer Tochter um einiges, sie starb 1980.
Und noch etwas: Die Franziska war mit ihren Eltern aus St. Anna am Örtschl zugewandert.
Die Frau des Franz Xaver Weinhandl (des Vaters vom Hans und Opas vom Eduard Weinhandl), Johanna, hieß mit Mädchennamen Pruhnsbacher; und die Gattin von Josef Rührwanger dem Älteren, Sophie, war eine geborene Hundswaldner aus St. Georgen ob der Stau. Übrigens, Agathe, die Mutter Eduard Weinhandls, trug vormals den Familiennamen Griendl.
So, jetzt ist es genug.
Sie fragen vielleicht: Warum das alles?! – Nun, so genau weiß ich das auch nicht. Aber da ich es mir nun einmal ausdenken und dazu sogar halbwegs funktionstüchtige Stammbäume konstruieren habe müssen, wollte ich es auch loswerden und hier unterbringen.
P. S.: Dr. Moritz Edgar Eisenwarth, der reiche Schönheitschirurg und Anna-Marias Ex?
Nun, der war – wie dargetan – zwar Jahrzehnte hindurch mit der ständig qualmenden Dr. Anna-Maria Rührwanger verheiratet, wollte ansonsten jedoch mit St. Jakob an der Elster et cetera nichts zu schaffen haben. Ihm hatte der – zugegeben: – idyllisch gelegene kleine Ort im Grund nie besonders gefallen. Obschon sein Großonkel, Eugen, einmal, vor vielen Jahren, kurze Zeit Lehrer im benachbarten Strallegg gewesen sein soll …
Fortsetzung folgt!
Finale
Der ein wenig vierschrötige, hochgewachsene Polizeibeamte namens Heribert Pschorzer wirkte, als ob er zumindest um Korrektheit bemüht wäre – wenn nicht sogar um Höflichkeit. Vermutlich ging ihm jedoch dieser alte Lehrer, der da vor ihm saß, dieser obskure Oldtimer-Professor also, ziemlich auf den Geist: Erst forsch Fußgänger umfahren und dann einen auf geschreckt machen!
Immerhin tat er, ganz Beamter, was zu tun war; und er tat es gebührend angsam.
Doch, Oberstudienrat Prof. Dr. Eduard Weinhandl war in der Tat einigermaßen geschockt; er schien jedoch nichts desto weniger gefasst. Auf so ziemlich alles.
Das Wachzimmer (die Amtsstube) war in Maßen sauber, aber alles andere als gemütlich. Eine junge brünette Frau Inspektor (wir gendern bekanntlich ungern), die auf den Namen Chantal Vibyral hörte, hatte Eduard sogar ein Glas Wasser gebracht, von dem er, überaus höflich dankend, denn auch einen ziemlich kräftigen Schluck nahm.
Die große Uhr an der Wand tickte digital. (Also: Eigentlich tickte sie nicht, die Zeiger rückten lediglich unerbittlich weiter. Zeitstakkato. Unerbittlich. Un-er-bitt-lich.)
„Und Sie hatten tatsächlich keine Möglichkeit, den Wagen rechtzeitig zu stoppen?“ Der vernehmende Beamte, in der Tat einer der grüblerischen Art, blickte kurz vom Computer auf. „Ich meine – warum sind Sie überhaupt losgebraust? Es war für sie doch – rot …?!“
Und Bezirksinspektor Heribert Pschorzer kraulte sich, auf den vor ihm Sitzenden, ein wenig in sich Zusammengesunkenen blickend, das wenig attraktive rötlich-braune Ziegenbärtchen, das eher spärlich sein fliehendes Kinn umwuchs, als handle es sich bei diesem lächerlichen Geflecht eigentlich um einen lustigen ungarischen Hirtenhund, den es zu belobigen galt. Fehlte bloß, dass Pschorzer seinem Bart ein Leckerli offerierte.
„Sie haben bei der ersten Einvernahme, also noch am Unfallort, ausgesagt: ,Es war niemand weit und breit, die Ampel leuchtete …‘. Stimmt das?“
Prof. Weinhandl nickte stumm.
„Sie hatten also rot …?!“, fuhr der Vernehmungsbeamte Pschorzer fort, jetzt weniger hirtenhündisch als pastoral-streng.
„Nein“, erwiderte, schon leicht genervt, der pensionierte AHS-Lehrer Oberstudienrat Dr. Eduard Weinhandl.
Das Wasserglas stand immer noch auf dem Tisch vor ihm. (Weiterhelfen konnte ihm auch diese Wahrnehmung naturgemäß freilich nicht. Deshalb sah er kurz auf den mit geschmacklos grünlich-braunem Linoleum belegten Boden.)
„Oder – ja?!“ Prof. Weinhandl hob fragend den Kopf und sah erneut und verstört auf den Hirtenhund.
Der alte Herr wirkte nun tatsächlich irgendwie leicht weggetreten, wie man es von einem circa siebzigjährigen, vielleicht schon ein wenig senilen Autofahrer durchaus erwarten durfte, der überhaupt bloß deshalb einen Unfall in der Stadt hatte bauen müssen, weil er an der – zugegeben: schlecht beschilderten – Auffahrt zur nahen Autobahn vorbeigefahren war; was ihm ein mögliches Ende als Geisterfahrer erspart hatte. (Der Alkoholtest war natürlich negativ verlaufen. [Prof. Weinhandl trank überhaupt sehr selten und wenn, dann bestimmt nicht vor einer Autofahrt; schon gar nicht vor einer mit seinem ganzen Stolz, dem MG-Oldtimer …])
„Nein, ja … Ich sah das rote Licht …, natürlich …, da war ein Licht! Und doch -“
In diesem Moment unterbrach das Auftauchen des Kommandanten Gabriel Morgensud die ohnehin bedenklich dem Stillstand zuneigende Handlung. Der Chef, das typische Seitenthema eines Beamten, warf ein markiges „Las Leben ist kein Streichquartett!“ in die an sich schon eher unrunde Runde, bevor er sogleich wieder in seiner Kemenate verschwand.
Ja, so war Morgensud: ein ausgemachter Trottel, aber bei den vorgesetzten Dienststellen seiner weitestgehend konfliktfreien Vorgangsweise und seines untadeligen Rufs wegen durchaus gut gelitten,
„Sie sind losgefahren!“ Der trotz intimer Kenntnis der Macken seines Chefs irritierte Bezirksinspektor nahm, mühsam genug, den Faden wieder auf. „Und Sie haben die tote …, also, die damals durchaus noch lebendige, kurz: die Fußgängerin Frau – Pschorzer buchstabierte, stockend vom Bildschirm ablesend – Anna-Maria Eisenwarth-Rührwanger, salopp gesagt: aufgegabelt … Die Dame war sofort tot! Tot, Herr Prof. Weinhandl!“
„Ja. Seltsam.“ Jetzt sah Weinhandl weder zum Beamten noch aufs Linoleum. Er sah gleichsam in sich. Oder gar nirgends hin. (Wer weiß.)
Dann bestellte Pschorzer für Eduard Weinhandl per Diensttelefon ein Taxi, das den alten Herren sicher nachhause bringen würde. (Was mit dem ziemlich beschädigten alten MG zu geschehen habe, würde sich erst noch herausstellen müssen.)
Er, Prof. Weinhandl, werde sich bitte zur weiteren Verfügung halten. Und der Führerschein bleibe vorderhand bei der Behörde.
„Vorderhand?“
„Vorderhand. Ja.“
Hm.
Alles andere sollten dann die weiteren Untersuchungen zeigen. Und gegebenenfalls würde es eine Gerichtsverhandlung geben. (Übrigens war auch die Ampelanlage leicht beschädigt worden.)
Eduard Weinhandl schenkte sich, nachdem er daheim angekommen war und sich des Jacketts sowie der Schuhe entledigt und seine Filzpantoffel übergezogen hatte, erst einmal einen ordentlichen Schwenker voll Cognac ein. Er trank langsam, genießerisch.
Erfreut, weil erleichtert.
Irgendwie war er zufrieden mit sich und der Welt.
Ja.
E N D E
Zu Beethovens Streichquartett in Es-Dur, op. 127:
Ludwig van Beethoven komponierte das Quartett in Es-Dur, op. 127, zwischen 1822 und Ende 1824 (UA: 6. März 1825) für Fürst Nikolaus Galitzin. Näheres in: Arnold Werner-Jensen [Hg.], Reclams Kammermusikführer. Stuttgart 1993. S. 503 ff.)
Zu den Mottos:
„Schiffbruchstückhafte Erinnerungen“ gehört zu: Ambrose Bierce, Lügengeschichten und Fantastische Fabeln. In: Gisbert Haefs (Hg.), A. B. Werke in vier Bänden. Zürich 1987. Bd 4, S. 130.
Michael Walzers „Der Sieg der Lehre vom gerechten Krieg – und die Gefahren ihres Erfolges“ aus: Otto Kallscheuer (Hg.), M. W.: Erklärte Kriege – Kriegserklärungen. Hamburg 2003. S. 31.
Zu Kant:
Michael Bruce/Steven Barbone (Hg.), Die 100 wichtigsten philosophischen Argumente. Studienausgabe. Darmstadt 2013. S. 218 ff.
Immanuel Kant, Die drei Kritiken. Köln 2011.
Ders., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Essen o. J.
Zu Gotteskrieg und Religionen:
Teja Fiedler/Peter Sandmeyer (Hg.), Die sechs Weltreligionen. Alles über Buddhismus, Judentum, Hinduismus, Islam, Taoismus, Christentum. Berlin 2005.
Theordore Gabriel/Ronald Geaves, …ismen. Religionen verstehen. München 2007. (S. 68 ff.)
Vinzenz Hamp/Meinrad Stenzel/Josef Kürzinger (Ü., Hg.), Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes. Augsburg 1994.
Ludwig Ulmann/L. W.-Winter (Ü., B.), Der Koran. Das Heilige Buch des Islam. München 1959.
Sonstige Quellen und Literatur sind im Text vermerkt. Außerdem wurde das Internet herangezogen.