Gestern.

Heute.

Momente und ihre Schatten von

Bernd Schmidt

© by Bernd Schmidt, Graz 2016.

Vom Bauch an abwärts war Hypatia

ziegengestaltig, und ihre Beine endeten

in zwei elfenbeinernen Hufen.

Umberto Eco, Baudolino

*

Bis vor Kurzem glaubte die grosse

Mehrzahl der Naturforscher, dass

die Arten unveränderlich seien und

jede einzelne für sich erschaffen

worden sei: diese Ansicht ist von

vielen Schriftstellern mit Geschick

vertheidigt worden.

Charles Darwin, Über die Entstehung

der Arten durch natürliche Zuchtwahl

*

Da

Da. Da ist einmal die Möglichkeit des Inzests. Nach der Onanie ist er die innerfamiliär zweitintimste Modalität geschlechtlicher Betätigung. Freilich, zum Exempel: Die ach so verpönte sexuell konnotierte Mutterliebe (dem Sohn gegenüber), gekoppelt womöglich mit einem saftigen Vatermord, ebnet einem jungen Mann immerhin noch rascher den Weg zu einer gewissen einschlägigen Popularität, als dies etwa ein super-schnelles Motorrat oder die Mitgliedschaft in einer vorälplerischen Musikanten-Ansammlung vermocht hätten. Denn diese sexuellen Angewohnheiten oder Anlagen gelten nun einmal als – speziell.

Aber auch die schon erwähnte – womöglich: folgenschwere – Liebe zwischen Geschwistern, die das Wälsungenblut so recht in Wallungen zu bringen imstande ist, hält die Allgemeinheit bekanntermaßen für eine interessante Sache. Wird doch auch diese Art geschlechtlicher Abreaktion als weitgehend verboten, zumindest (in unseren Breiten) als Tabu angesehen.

Doch bei Simon war es anders. Ganz anders.

Simon Horch liebte Kälber.

Besser gesagt: Er liebte das Kälbchen Agatha.

Wie er überhaupt das Rustikale mochte. Was allerdings seinen Grund in dem so ganz anders gearteten Milieu hatte, aus dem er als zunächst total urbane Gesellschafts-Pflanze stammte. Immerhin, schon Simons Großeltern hatten schon, als stramme 1968er, der Bourgeoisie und dem städtischen Getue rigoros abgeschworen; Opa Wotan (wie der nur wieder zu seinem grenzwertig germanischen Namen hatte kommen müssen?!) und Oma Hildegard hatten – so ging die innerfamiliäre Mär – zumeist Unmengen an Haschisch inhaliert, wild herumgevögelt und auch sonst auf ziemlich alles Überkommene geschissen. Entsprechend damaliger Gepflogenheit. Später: San Francisco, noch später; die Normandie, final: bekifft die Straßenkurve in den Pyrenäen und im schon ein wenig klapprigen Citroën 2CV genommen.

Auf Opa Wotan ging indes auch eine Sammlung alter Wunderwelt-Hefte aus den frühen 1950er Jahren zurück, die Simon Jahrzehnte später zufällig eines regnerischen Tages auf dem Dachboden fand. (Die Wunderwelt war eine österreichische Kinder- und Jugendillustrierte, die zwischen 1948 und 1986 erschien.) Darin gab es jedes Mal auch eine (von Opa vermutlich mit Spannung erwartete) Fortsetzung von „Zwerg Bumstis Abenteuer“ des Texters und Illustrators Taja Aicher. Die beliebte Geschichte drehte sich um einen gemütlichen Wichtel, der mit seiner (stets eine saubere Schürze tragenden) Partnerin, einer korpulenten Maus, in einem Riesenpilz als Haus zusammenlebte; ob in wilder Ehe und mit dem Segen von Staat und Kirche, das hatte der Kälbchen-Liebhaber Horch längst vergessen. Doch eigenartig war das schon, irgendwie …

Simons Eltern wiederum, sowohl der Vater, Hippie-Sohn Montag (wie der nur wieder zu seinem pseudo-robinsonalen Namen hatte kommen müssen?!), als auch die Mutter namens Edeltraud, zwar aus stockkonservativ-bürgerlichem Professoren-Haushalt stammend, aber immerhin durchgebrannt und auch sonst eigensinnig, sie beide hatten sich, herzblutend und von ihrer Sendung überzeugt, der Kunst verschrieben. Und schlugen sich und die bald darauf vorhandenen Kinder Simon und Pocahontas (wie und warum jetzt dieser Name?!) mehr schlecht als recht durch. Bis es Montag mit einem Mal zu blöd war, immer der soziale Arsch zu sein, als den zumindest er sich sah. Da ließ sich der erfolglose Maler und Bildhauer, durchaus passend, nämlich in der Nacht des Jahrtausend-Wechsels 1999/2000 zu den Schlägen der Pummerin, die aus dem Radio erklangen, aus dem Fenster fallen. Das Datum hätte Glück versprochen, hieß es nachher. Und dem sei er wohl auf der Spur gewesen …

Später animierte ein Cousin der Mutter, der Onkel Robert, selbst Manager in einem internationalen Konzern, den jungen – zugegeben: leicht schwärmerisch veranlagten – Simon zum Studium der Betriebswirtschaft. Er führte ihn außerdem bei einer Studentenverbindung im Rahmen des Cartellverbandes der katholischen österreichischen Studentenverbibdungen (ÖCV) ein und animierte ihn zu religio, scientia, patria und amicitia sowie zum (quantitativ freilich eher sinnlosen) Biertrinken.

Und jetzt? Die Beschäftigung mit dem Finanzwesen et cetera hatte Simon nach kürzester Zeit schon gelangweilt und eigentlich zutiefst frustriert. Zudem war die Beziehung zu seiner Kurzzeit-Freundin Marion ziemlich geräuschvoll in die Brüche gegangen.

Und jetzt? Seit einem Jahr, seit 2015 also, schuftete er als eine Art Knecht auf dem Mühlbauerhof des Johann Wilhelm Völsung im oststeirischen St. Laurenzen an der Fernitz. Ja, Simon war Agrar-Praktikant geworden.

Vielleicht waren es die Gene – von den Großeltern, von Wotan und Hildegard, her? Oder der immerhin mit Kunst assoziierbare Drang seiner Eltern nach Freiheit und Natürlichkeit gewesen? (Ohne hier explizit auf Johann Wolfgang von Goethe sowie Friedrich von Schiller und deren Verhältnis zu den Begriffen des Natur- beziehungsweise des Gedankengenies [und auf alle die daraus entstehenden oder damit verbundenen Applikationen und Komplikationen] eingehen zu wollen, sei der Punkt somit immerhin gestreift …)

Jedenfalls wusste Simon Horch – egal, wie schwer das Leben als Dienstbote, als Agrar-Praktikant, des versoffenen, dauernd geilen und gewalttätigen Johann Wilhelm Völsung auch immer sein möchte -, hier war sein neues Zuhause. Hier.

Denn hier hatte er, wie er glaubte, die Liebe seines Lebens gefunden – das Kalb Agatha.

Nun, just dieser vorälplerischen Liaison standen indes allerhand Hindernisse im Weg. Da war zunächst Agathas Eigenart, ihre Zuneigung kaum je so ganz deutlich durchblicken zu lassen. Agatha zickte (wenn dieser Ausdruck gestattet ist). Sie zierte sich und spielte die Prüde, die Unnahbare … Dann gab es noch ein kaum überwindbares Hindernis in Gestalt des Dienstgebers, des unguten Großbauern Johann Wilhelm Völsung. Gemeinsam mit der Ablehnung durch die Mutterkuh Hekáte sollte das als Konglomerat der Schwierigkeiten eigentlich genügen. Oder?!

Besonders Völsung selbst ging Simon Horch gewaltig auf den Sack. Dieser vierschrötige, oft genug besoffene Mensch war so um die fünfundvierzig Jahre alt, seelisch total verlottert und moralisch entsprechend verkommen. Und Völsung, der nicht selten auch seine Frau Gertrude, die Kinder Johann, Christiane, Waltraud und Gerhard sowie das Vieh und sogar das Getreide drosch, hatte doch tatsächlich – so ging zumindest die Mär – besagtes anmutig rötlichblond-gelocktes Kälbchen Agatha mit der durchaus attraktiven, in sattem Beige gehaltenen Mutterkuh Hekáte gezeugt (die außerdem für ihre kontinuierlich außergewöhnlich hohe Milchleistung bekannt war).

Und der fürchterliche Landwirt hütete seinen halbtierischen Nachwuchs denn auch wie seinen Augapfel. Offiziell schien zwar ein gewisser Stier Hektor als Samenspender in den genossenschaftlichen Unterlagen auf; doch in Wahrheit hatte nicht er, dieser stramme, mehrfach schon bei Wettbewerben ausgezeichnete, von Samenfülle und Gesundheit strotzende Bulle, sondern der sexuell und auch sonst überaus umtriebige, ansonsten jedoch versoffene Bauer, bekannt noch dazu als übler Zocker und Freund des Hasardspiels, in diesem Fall selbst das Werk der Fortpflanzung in Gang gesetzt. (Was es nicht alles gibt!)

Doch auch die Kuh Hekáte, wie angedeutet, eine schmucke beigefarbene tüchtige Milchlieferantin, wollte streng genommen nichts von Simon als künftigen Lebensgefährten ihrer hübschen kälbischen Tochter wissen. Jetzt zumindest noch nicht. Er sollte erst einmal beweisen, wo denn seine Fähigkeiten eigentlich steckten; dieser junge Mann da, den es aus der Stadt daher verschlagen hatte wie einen Wind nach dem Genuss von zu feuchtem Klee. Ja, Simon sollte zeigen, was er tatsächlich drauf hatte – und wie er so ticke.

Es ging Hekáte, kurz gesagt, darum: Was konnte dieser ziemlich schüchterne Ex-Städter ihrer hübschen Tochter wirklich bieten? Oder hatte Horch womöglich bloß irgendwelche Flausen im Kopf? Wenn nicht gar noch Schlimmeres vor? (Als Lustobjekt mit Folgen hatte sie immerhin mit dem Vater ihrer Tochter Agatha, dem fürchterlichen Völsung, ihre diesbezüglichen schlechten Erfahrungen machen müssen …)

Es war ein Dilemma, in dem sich Simon Horch da befand. (Eigentlich: ein Trilemma …)

Irgendwie schien sich die ganze Welt gegen ihn verschworen zu haben. Einschließlich des angeblich lieben Gottes, an den er jedoch ohnedies nicht glaubte. (Und das nicht etwa wegen der komplexen Theodizee [siehe: Gottfried Wilhelm Leibniz und Konsorten!], sondern in erster Linie wegen seines kirchen- und religionslosen Status‘, der ihm von den Großeltern und Eltern her geblieben war; und an dem er auch nicht vorhatte, etwas zu ändern.)

Ja, es schien sich in der Tat die ganze Welt gegen ihn verschworen zu haben. Gegen ihn! Just gegen Simon Horch! Und das, obwohl allein schon die oststeirische Gegend mit ihrer beruhigenden Hügelsanftheit und ihren dunklen Waldgeborgenheitsversprechen sowie in ihrer insgesamt so lieblichen Ländlichkeit ansonsten durchaus besänftigend und beinahe sedativ und alle Schmerzen lindernd auf ihn wirkte …

Zudem: Wo, wenn nicht auf dem Lande konnte sich sodomitisches Tun so organisch, so naturnah, ja: natürlich vollziehen lassen? Und nach den Höhen eines vergleichsweise Lorbeer versprechenden rein-menschlichen Inzest hatte Simon ohnedies nie gestrebt.

Nein, nein, ein Leben mit dem anmutigen Kalb Agatha, das wäre durchaus o. k. gewesen. Nur – sie für sich haben, das wollte er eben. Sie ganz für sich allein haben …

Nicht

Nicht so sehr das vermeintlich Abartige ist es, was die Leute angesichts der ödipalen, inzestuösen und – beinahe schon naturgemäß abschreckend – sodomitischen Inklinationen erschaudern lässt; in erster Linie ist es wohl das Phänomen des Außergewöhnlichen. Denn mit seiner Mutter schläft nun einmal nicht jeder junge Mann (und auch seinen Vater bringt nicht bald wer so mir nichts dir nichts um die Ecke; wenn es sich nicht just um eine antike Weggabelung handelt). Es einmal so mit der Schwester zu treiben, mag schon eher vorkommen, geziemt sich indes ebenfalls nicht unbedingt.

Wenn es nun aber außerfamiliär partout nicht klappen will (und auch im Internet nicht)? Bleiben ja doch nur die Tiere.

Doch – was schert mich Kalb, was schert mich Hund? Auch die Sodomie eröffnet in Wahrheit ein weites Feld einigermaßen variantenreicher Betätigungen. Freilich – sie bedeutet weitgehend eine Einschränkung und entspricht gleichsam dem Befahren eines als ein wenig inferior geltenden Nebengeleises auf der Landkarte der Sexualität. Denn während sich, wie wir annehmen wollen, der den Inzest Betreibende (zumindest: moralisch oder sittlich [vielleicht sogar: philosophisch?]) eine Art neues Universum und quasi solipsistisch seinen speziellen erotischen Frei-Raum schafft, kreiert der Sodomist dagegen bloß eine Menagerie oder einen Zoo für sich. Immerhin ist auch das etwas.

Doch der Sinn, seien wir ehrlich, stünde uns – hätten wir die Wahl – denn doch nach anderem als nach dem Kälblein Agathe; und sei es noch so lieblich. (Nicht grundlos lassen sich allein in der Literaturgeschichte so viele Fälle von vollzogenem und verhindertem, bedauertem und ersehntem, ertrotztem und gesühntem Inzest aufzählen. Denn das Thema ist bei weitem anregender als etwa Rebell, Goldgier oder Inseldasein. [Siehe: Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur. 4. Aufl. Stuttgart 1992, S. 399 ff.; übrigens, auch im Internet gibt es da einiges Erbauliches nachzulesen.])

Außerdem: Läuft nicht just der Sodomit ständig Gefahr, auch wenn er in Wahrheit noch so tierlieb (sic!) sein mag, als Tierquäler zu wirken? Und: Sind auf dem Gebiet der Sodomie nicht allein durch die Größenverhältnisse und körperliche Gegebenheiten der Entfaltung des sexuellen Triebes manche allzu engen Grenzen gesetzt? (Deshalb scheiden Fische und Krustentiere, aber auch viele Reptilien sowie die meisten Insekten als Sexualpartner des Menschen aus; und sogar das Vögeln mit Vögeln hat angeblich so seine Tücken …)

Zurück zum eigentlichen Inzest. Nicht immer und überall stand die Gesellschaft der Geschwisterliebe sowie der Verbindung zwischen Vater und Tochter oder Mutter und Sohn derartig ablehnend gegenüber wie in der Jetztzeit (und im Westen). Nicht von ungefähr galt zum Beispiel die Geschwisterehe – abgesehen von den tradierten Religionen in manchen Kulturen, von den Griechen und Ägyptern bis zu den Azteken, wo sie ohnedies gang und gäbe war – auch in Herrscherhäusern lange als Pflicht (und nicht als Tabu). Da mochten, wie die heutige Gen-Forschung allerdings hinlänglich beweist, naturgemäß auch damals schon potenziell erbschädigende Folgen gedroht haben; der Glaube an die besondere Qualität des blauen Blutes, die man nun einmal gewohnt war, über dem allgemeinen Niveau anzusetzen, verhalf hierbei der Tradition dennoch die längste Zeit hindurch zu ihrem zweifelhaften Recht.

Außerdem firmierte – man denke an manche europäische Herrscherhäuser! – sogar die weitestgehende Verblödung als potentielle Folge ständiger engster Verbindung spezieller Herrscherhäuser durchaus noch unter Gottesgnadentum.

Doch auch die unmäßige Zuneigung zischen Mutter und Sohn (oder Vater und Tochter), wie sie die antike griechische Tragödie um Ödipus nachzeichnet, strotzt für unsereins – zumindest theoretisch – immerhin vor einiger durchaus erstaunlicher Attraktivität; immerhin stand sie außerdem Namen-gebend Pate für den von Sigmund Freud psychoanalytisch untersuchten und dokumentierten diesbezüglichen Komplex … Und das verleiht der Sache – zumindest in gewisser Weise – schon einiges an Renommee.

Freilich, manche Söhne würden sich etwas Schöneres vorstellen können, als die eigene Mutter zu besteigen. Und manche Töchter hielten es auch eher mit dem flinken weiblichen Wesen aus dem Märchen „Allerleirauh“, das den geilen väterlichen Nachstellungen zu entkommen versucht nach Leibeskräften.

Doch sind das nicht eher die Ausnahmen?

Ach, muss es nicht herrlich sein für den Jüngling, partiell wieder in die Mutter hineinzukriechen, da sich die Welt ihm gegenüber (nach anfänglicher Umgarnung und Verhätschelung) meist als vergleichsweise kalt und ablehnend erwiesen hat? Oder: Ist der Vater nicht eher der heldenhafte Verteidiger des jungen Mädchens, seiner Integrität und seines Lebens, als irgendein dahergelaufener, mit Testosteron aufgepumpter Lustmolch? Oder: Wäre die Schwester (der Bruder), innig bekannt seit Kindesbeinen, nicht der passende Gespons, wenn es denn schon einen solchen geben musste?!

Nein. Die Gesellschaft, diese grausame, unendlich dumme Hydra, sie verbaut, nicht zuletzt übrigens: indem sie obskure (Moral-)Gesetze erlässt und sich auf hanebüchene kirchliche Interdikte beruft, die einmalige Chance zum gemütlichen sexuellen Miteinander innerhalb der Familie.

Wer da nicht resignierend für immer auf Handbetrieb umsteigen möchte, dem bleibt in der Tat nur der Weg zu des Menschen zweitnächsten Verwandten unter den Geschöpfen, zu den liebenswerten Tieren.

Also doch Agatha, das Kalb.

Freilich, mit der sogenannten Gesellschaft kam Simon Horch bei seiner Arbeit, hier am Mühlbauerhof des bösartigen Johann Wilhelm Völsung, ohnedies kaum in Berührung. Mit dem herrischen, meist betrunkenen Landwirt, manchmal mit dessen verhärmter Frau Gertrud und den ebenfalls eher schreckhaften als aufgeweckten Kindern Johann, Christiane, Waltraud und Gerhard, die zwischen fünf und zwanzig Jahren zählten und im Allgemeinen kaum den Mund aufbrachten außer zu einem unwirschen Gruß oder einer arbeitsbezogenen Frage und Antwort. Nein, das war keine Ansprache. Außerdem kochte Gertrud nur mäßig gut.

Einmal höchstens in der Woche, traditionellerweise immer noch am Freitagabend, durfte der Praktikant wie die anderen Dienstboten des Tyrannen Völsung (zwei alte Knechte sprachlich unergründbarer Herkunft und etwaige Erntehelfer später dann, im Sommer, der erst vor der Tür gestanden war, als Simon hier auftauchte vor zwei, drei Monaten) in den Ort und ins Wirtshaus gehen. Die Auswahl an Lokalitäten war gering: entweder ins Restaurant des Viersterne-Hotels „Großleithner“, das weitgehend unerschwinglich war, oder in die „Rote Traube“, ein – später wird das noch thematisiert – eher heruntergekommenes Etablissement.

Hier hatte er auch seinen bisher einzigen Freund kennengelernt, den Totengräber. Der Hubert Gruber, den man allgemein den Totengruber nannte, entpuppte sich alsbald als durchaus gebildeter Gesprächspartner – wenn er erst einmal aufgetaut war. Und dem Totengruber vertraute sich Simon als einzigem im schaurigen Ort St. Laurenzen an der Fernitz an; sogar von seiner Zuneigung zum Kälbchen Agatha getraute er sich, dem Hubert gegenüber offen zu sprechen. Denn in ihm sah Simon gewissermaßen eine verwandte Seele

Man habe ihr den Namen Agatha gegeben, erzählte ihm der Totengruber beim Bier, weil der von der Genossenschaft aus für die Namensgebung des Zuchtvieh-Nachwuchses Zuständige da namenstechnisch eine gewisse Präferenz hege. Der landwirtschaftliche Ingenieur Franz Xaver Tandler, ein zwar wenig gesprächiger, in sich verschlossener Junggeselle, doch ein ziemlich gebildeter und belesener Mann, sei verantwortlich für die Kontrolle der gleichbleibenden Milchqualität sowie für die der Aufzucht von möglichst sortenreinen Jungtieren im ganzen Bezirk. Und außerdem habe ihn, den gestrengen Prüfmeister, die Genossenschaft auch mit der Namensgebung des tierischen Nachwuchses betraut.

Nun, dieser ziemlich knochentrockene, wenig gesellige (sah man von seinem recht ordentlichen Ziehharmonika-Spiel einmal ab, zu dem er sich nach getaner Arbeit am betreffenden Hof mitunter hinreißen ließ) und sehr zurückhaltende Mann habe nun einmal ein ausgesprochenes Faible für den Hellenismus. Und überdies für vokale Gleichklänge, Alliterationen und Ähnliches; auch für Namenssymbolik und für die Tauglichkeit für eine gewisse genealogische Harmonie, wie er es selbst ausdrücke …

Da der Vater des Kalbes – zumindest: offiziell – der lendengewaltige Stier Hektor war (wie sein Bruder Paris ein Sohn des letzten Königs von Troja, Príamos [des Gatten der Hekábe]), und die Mutter Hekáte (benannt nach der chthonischen Volksgöttin) hieß, entschied sich Tandler bei der Taufe des Tieres für einen ebenfalls griechischen Namen mit einem gewissen vokalen Gleichklang: für Agatha, was außerdem die Gute bedeute.

Freilich, fuhr der Totengruber mit einem süffisanten Lächeln in seinen Ausführungen fort, wäre Ing. Tandler weniger gräkophil und dafür etwa ein praktizierender Goethe-Anhänger, so hätte er statt Agatha vielleicht den Namen Eugenie gewählt; nach der unglücklichen Heldin in Goethes Tragödie „Die natürliche Tochter“, die im Jahr 1803 mit mäßigem Erfolg an der Weimarer Hofbühne uraufgeführt worden war.

Gut, auch Eugenie hätte nicht gerade schlecht geklungen; auch wenn der Zusammenhang mit Hekáte und Hektor freilich weniger augenscheinlich gewesen wäre. Stammte das historische Vorbild der Eugenie doch aus Frankreich im 18. Jahrhundert. Sie, die illegitime Prinzessin Stephanie Louise de Bourbon-Conti, war die 1762 geborene Tochter des Prinzen Ludwig Franz Bourbon-Conti und der Herzogin von Mazarin, der man die versprochene Anerkennung bei Hofe vorenthielt …

Immerhin, man bestellte noch ein paar Biere, die von der – zugegeben: wenig attraktiven – Kellnerin Chantal mit geringem Engagement und eher gelangweilt serviert wurden.

Freilich

Freilich, um zu erklären, wie Simon, der Held dieser Prosa, überhaupt an seine Agatha gekommen ist, dazu bedarf es eines etwas weiteren Ausholens. (Doch das war ohnedies zu erwarten.) Nun, denn.

Dass man Simons Eltern als verkrachte Künstlerexistenzen bezeichnen musste, ist schon erwähnt worden. Sie waren zwar einigermaßen liebenswert, doch in erster Linie verschroben, skurril und am besten noch als sozial-bizarr zu bezeichnen gewesen. Wie ja auch seine Großeltern väterlicherseits ihre Leben als originelle, nicht gerade besonders lebenstüchtige Hippies gefristet hatten; während die mütterliche Seite, quasi zum Ausgleich, stockkonservativ, angepasst und etepetete bis zur Unleidlichkeit war. (Bloß der schon erwähnte Onkel Robert, der Manager, war tolerant. In gewisser Weise hielt er sich die übrige Familie wie ein Aristokrat im 18. Jahrhundert seine jagdbaren Tiere, afrikanischen Diener oder wunderlichen Pflanzen.

Simons Vorliebe für das Tierische hatte sich früh schon gezeigt – in ganz besonders ausgeprägter Tierliebe. Dass er Vegetarier, ja: Veganer werden würde, überraschte eigentlich niemanden. Doch, wie gesagt, an dieser Familie konnte so gut wie nichts mehr die anderen überraschen; selbst Kleptomanie, Pyromanie oder sonst irgendeine Manie wäre höchstens als neuerlicher Beweis der Eigenart der kuriosen Sippe durchgegangen …

Simon jedenfalls ließ sich von klein auf von allerlei Getier umwuseln – von Katzen, Hunden, Meerschweinchen und Hamstern etwa – und umzwitschern; von diversen Kanarienvögeln, farbenfrohen Wellensittichen und sogar von einem (durch ihn selbst gesundgepflegten) umfänglichen Uhu. Nichts war ihm zu gering, nichts zu prächtig … Er liebte sie alle beinahe gleich und umsorgte seinen Zoo tadellos. (Und das, obschon es ihm eigentlich zuwider lief, dass er seine geliebten Tiere mit anderen, weniger geliebten füttern musste.)

Kein Wunder, dass der knapp 20jährige Aussteiger jetzt, hier, auf dem Land, ebenso rasch Anschluss an die Tierwelt gefunden hatte. Und das erst wenige Monate alte, indes munter vor sich hin wachsende Kälbchen Agatha, es hatte ihm vom ersten mal Hinschauen schon überaus gut gefallen. Was heißt überaus gut gefallen?! Es war – zumindest von Simons Seite her – Liebe auf den ersten Blick gewesen.

Als sie sich, später dann, dazu äußern konnte, sprach Agatha von einer am Anfang noch etwas ambivalenten Stimmung ihrerseits. Zu sehr schreckte sie, die heranwachsende Kuh, alles Menschliche in ihrem Umfeld immer wieder aufs Neue. Besonders natürlich die polternde Anwesenheit ihres Vaters, des brutalen Völsung; und die Art, wie er mit Mutter Hekáte umging. (Gut, dass Agatha nicht sehen und miterleben musste, wie sich der furchtbare Landwirt seiner leidenden und schutzlosen Frau Gertrude [übrigens, einer geborenen Pflauminger] gegenüber benahm! Der Schock wäre dann wohl noch viel tiefer gesessen!)

Man erinnere sich der schönen, zugleich so viel Glück und Zuversicht wie ahnungsvolle Trauer verheißenden Stellen aus Umberto Ecos (1932 – 2016) Roman „Baudolino“ (2000), die beschreiben, wie der aufgeweckte Held aus der Zeit Kaiser Friedrich I. Barbarossas die wunderbare Ziegenfrau Hypatia samt ihrem Begleit-Einhorn kennenlernt. Und auch, dass Baudolino mit ihr ein ganz spezielles Zwitter-Geschöpf zeugt …

Simon, der Ecos Roman allerdings nicht gelesen hatte und daher auch nichts von den Weißen Hunnen, den bizarren Monstern – etwa den einbeinigen Skiapoden, den Ponkiern [mit dem Penis und den Hoden an der Brust] oder den einäugigen Giganten – wusste, Simon war von Agatha in gleicher Weise fasziniert wie Baudolino von seiner Hypatia. (Agatha hatte, allem Anschein nach, zudem kein Einhorn [namens Akazio] neben oder hinter sich, das sie bewachen hätte können.)

Agathas gestrenge Mutter, Hekáte, in Sorge um ihr Kind, zudem voller Eifersucht und gestörten Moralvorstellungen – immerhin hatte sie das Kalb mit dem Landwirt Völsung gezeugt, was ihrer kuhischen Meinung nach, diesen Weiberer und Widerling zu einer – zu ihrer – unbestrittenen Instanz gemacht hatte! -, Agathas Mutter also war ein echter Argus und wollte es partout nicht dulden, dass sich Simon um das allerliebste Tierchen bemühte.

Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich ständig neue Beweise seiner Liebe für das herrliche Kälbchen auszudenken. (Mehr für die Mutterkuh, zugegeben. Denn in ihren Augen galt es, Positiva zu sammeln. Dabei hätte es eigentlich schon ausreichen müssen, kein solches Scheusal zu sein, wie es der Schürzen- und Felljäger, Säufer und Tyrann Johann Wilhelm Völsung war. Doch der rabiate Großbauer wurde nun einmal ringsum im Ort und den jüngst eingemeindeten Nachbar-Kommunen respektiert, war ein Intimfreund des – im Übrigen: ähnlich liederlichen – Bürgermeisters Georg Alminger und genoss quasi Narrenfreiheit. Nicht nur im Stall daheim, wo er so gut wie mit jeder der 30 Kühe eine Affäre gehabt hatte … Freilich meist ohne Folgen in Form niedlicher Kälber.)

Mut!

Mut war keine Mangelware für Simon. (Jaja, die Gene …) Also getraute er sich unter Umständen auch manchen Kampf zu – und sei es einer gegen Windmühlen! -, ging es darum, sich selbst oder anderen von den Schwachen zu mehr Rechten und mehr Ansehen zu verhelfen. Doch gerade darin hatte just er, der letztrangige Knecht und Landwirtschafts-Praktikant, kein gutes Blatt. Er, das beschissene schwächste Glied in der Existenzkette.

Und nicht nur im Mühlbauerhof und angesichts seines brutalen Dienstherrn Johann Wilhelm Völsung, diese Menschen- wie Tier- und Pflanzenschinders.

Das begann schon damit, dass man dem jungen Mann zunächst sogar im Wirtshaus „Zur roten Traube“ nur sehr ungern Einlass gewährte – als Fremdling, der er war. Wenn ihn nicht ein weiterer Außenseiter, der Totengräber Hubert Gruber, den alle den Totengruber nannten, unter seine Fittiche genommen hätte, wäre Simon vermutlich nicht einmal zur Tür der mittelklassigen Kaschemme hineingekommen. Doch obschon ziemlich heruntergekommen, schien die „Traube“ Gott weiß was von sich als Etablissement zu halten. (Beziehungsweise die Wirtsleute Egon und Anita Zeugler schienen das zu tun. Wie gesagt, obschon die von Dreck starrende und ziemlich heruntergekommene Gaststätte alles andere denn attraktiv zu nennen war: Sie strahlte anscheinend irgend etwas Besonderes aus. Vielleicht weil hier vor vielen Jahren ein Mord geschehen war …?!)

Dank der Hilfe des neugewonnenen Freundes Hubert war es Simon dann also gelungen, in das Wirtshaus zu gelangen. Und schließlich erklärte sich die wenig attraktive Kellnerin Chantal sogar bereit, die beiden notigen Außenseiter zu bedienen. Also versorgte sie die beiden Männer mit Bier und Gulasch. (Zugegeben: Das Bier war schal, das Gulasch eine Zumutung. Und Chantal? Die passte sich durchaus erfolgreich dem kulinarischen Niveau an. Ach ja: Aus der schon ziemlich angeschlagen wirkenden alten Musikbox leierten Elvis Presley und Peter Kraus ihre [dereinst doch so erfrischenden] US-amerikanischen beziehungsweise bundesdeutschen Rock’n’Roll-Hadern …)

Und noch etwas: Im Windschatten des Totengrubers und des Agrar-Praktikanten hatten sogar drei der verschreckten Nordafrikaner das Lokal geentert, die lange schon angstvoll vor dem Haus herumgelungert waren. Ali, Mustapha und Hohamad gehörten zu den zwanzig Asylanten – fünf Frauen, zehn Männer und fünf Kinder -, die Pfarrer Georg Harm aus Nächstenliebe in der alten Scheune des Pfarrhauses untergebracht hatte.

Mit den – nicht selten sich verbrüdernden, dann wieder wild zerstrittenen – Zech-Genossenschaften in der „Roten Traube“ verhielt es sich tatsächlich nicht anders, als es schon die teilweise abgebröckelte Fassade des desolaten Wirtshauses versprochen hatte: Hier herrschten längst schon pure Destruktion und kontinuierlicher Abstieg in jeglicher Hinsicht vor – geistig, körperlich und vor allem: moralisch.

Proportional dazu war allerdings der Pegel des Fremdenhasses und der Ablehnung alles irgendwie Fremden oder zumindest anders und ungewohnt Wirkenden gegenüber gestiegen.

Kurz: Man hätte sich hier, bei einiger literarischer Vorliebe am Skurrilen und Bizarren, auch am Angsteinflößenden und Schrecklichen, ohne weiters in ein Ambiente versetzt sehen können, das zwischen Auerbachs Keller aus Johann Wolfgang von Goethes „Faust“ und dem Dorf-Stammtisch aus dem Anton-Wildgans-Versepos „Kirbisch“ schwankte – oder beide Suff-Folien übereinander legte. Oder aber hätte man sich in der Landschenke wähnen können, in der ein eigenbrötlerischer Jäger und ein versoffener Vagabund mittels Schnaps um den herrlichen Hund des letzteren feilschen, wie so anschaulich in Marie von Ebner-Eschenbachs Novelle „Krambambuli“ beschrieben …

Da saßen sie, grölten und spuckten, die Siebels und Brandners mit dem vierschrötigen Selcher Fürbass Romanus Ägid und dem Revierjäger Hopp schier um die Wette …

Freilich, das (wohl in Ermangelung eines besseren Gedächtnisses) so übertrieben vergoldet wirkende Gestern kontrastierte gerade fast in allen Belangen mit dem banal-fürchterlichen Heute. Egal, ob man sich die globale Flüchtlings-Situation im Zusammenhang mit dem schon fünf Jahre andauernden Bürgerkrieg in Syrien zu Gemüte führte, die besonders dem Demokratie-Bewusstsein und der Humanität just in den ziemlich übersättigten Wohlstandsländern der Europäischen Union zum Prüfstein wurde; oder ob man, berechtigt besorgt, den allgemeinen Rechtsruck in verschiedenen Nationen beobachtete; oder ob man dem ausgebrannten Neokapitalismus dabei zusah, wie er seine letzten Zuckungen vollführte: Es stand schlecht um die vermutlich traurige Zukunft. Und die reichte schließlich ins besorgniserregende Heute zurück; wie das Gestern mit angeblichem Fortschrittsfeuer der 1960er, 1970er und 1980er immer noch nach vorne hinein glomm.

Da saßen sie also beisammen, die Außenseiter, Simon und der etwa 40jährige Totengruber. Vor sich ihre Biere, neben sich die – zum Teil rivalisierenden, dann wieder gemeinsam fraternisierende Chöre anstimmenden – Einheimischen. Im Hintergrund die schweigsamen Asylanten bei Mineral oder Cola, das ihnen der Herr Pfarrer in Bausch und Bogen immer zu Wochenbeginn schon für den Freitagabend spendierte.

Ja, der Herr Pfarrer. Er hieß Eberhard Harm, ging gegen die Fünfzig, trank viel und folgenreich, fühlte sich jedoch durchaus stark aus einer sozialen Ader gespeist; und er war der Halbbruder des Totengräbers Hubert Gruber. Beider Mutter, Veronika Krautwaschl, war sich nämlich, was die Männer betraf, nie so recht sicher gewesen, ob sie nun den oder den bevorzugen, dem oder dem doch besser einen Korb geben oder vielleicht eine andere Variante wählen sollte … So hatte sie zuletzt fünf Kinder von ebenso vielen Vätern. (Wobei sowohl der kurz darauf verunglückte Gregor Harm als auch der ihr ebenfalls bald abhanden gekommene Karl Gruber ihren betreffenden Söhnen ihre Namen zu geben bereit gewesen waren. Gebracht hatte das freiich auch nicht viel.)

Und so hatte die fast schon bigotte Frau zuletzt froh sein können, dass einer ihrer Söhne Priester zu werden versprach – wegen der Absolution und so (falls sie doch nicht so ganz richtig gehandelt haben mochte … Egal, sie erlebte Ebarhards Primiz ohnedies nicht: Der Krebs raffte die eigentlich noch recht junge Frau einige Jahre zuvor schon dahin.)

Ja, der Eberhard sei ein anständiger Bursche, meinte der Totengruber beim vierten oder fünften Krügel Bier. Und machte Simon schon gespannt auf den solcherart gelobten Gottesmann. (Obwohl sich Horch aus der Kirche, wie schon erwähnt) kaum etwas machte und, nicht zuletzt bedingt durch die Hippie-Großeltern und die Künstler-Eltern, ohnedies ohne religiöses Bekenntnis aufgewachsen war. [Womit keineswegs gesagt sein soll, dass alle Hippies Atheisten oder alle Künstler Gottlose seien! Und auch der Umkehrschluss ginge wohl ins Leere …])

Er könne einem immerhin Mut machen, der Eberhard. Ja. So sagte der Totengruber. Mit ihm ein paar Gläser vom Selbstgebrannten trinken, das müsse man unbedingt. Der Klare stamme nämlich vom Wutzler Franz, und der mache weit und breit den besten Obstler. Und: Ohne Schnaps käme nämlich keine einigermaßen heimelige Seelenatmosphäre zustande, schloss Gruber seinen diesmal erstaunlich ausgiebigen Sermon.

Und sie bestellten noch eine Runde.

Da flog das erste Krügel in Richtung Asylantentisch. Gejole ertönte. Und dummes Gelächter. Bald schon war die Schlägerei voll im Gang. Blut floss, derbe Flüche erschollen – und die weitgehend konfusen Wirtsleute Anita und Egon Zeugler liefen, aufgescheuchten Hühnern nicht unähnlich, durch die desolaten Räumlichkeiten, bevor sie sich dazu entschlossen, doch besser gleich die Polizei zu verständigen.

Man solle sich möglichst rasch aus dem Staub machen, riet der gewohnt unerschütterliche Totengruber. Gleichzeitig steckte er der gerade vorbeiflitzenden Chantal einen Fünfzig-Euro-Schein in den wenig reizvollen Ausschnitt. Das veranlasste die ziemlich unbrauchbare Servierkraft zu einem Lächeln, das sie aus schlecht gepflegten Zahnreihen entließ, da sie die Situation eindeutig missdeutete … Doch da waren Simon Horch und sein neuer Freund Hubert Gruber schon bei der Hintertür draußen.

Nach kurzer Zeit hörte man dann die Sirenen der Polizei. Und wen, so meinte der Totengruber, die Amtsorgane, wenn sie im Auftrag von Bürgermeister Georg Alminger unterwegs waren, einmal in ihren Fängen hatten, der wäre praktisch chancenlos. Egal, ob schuldig oder unschuldig … Es genügte, irgendwo dabei zu sein.

Da war man bald auf der Abschussliste.

Nein, noch mehr Zores wollte sich auch Simon Horch nicht unbedingt einhandeln. Nein.

Ein Kreuz

Ein Kreuz sei es, gab der rundliche Pfarrer Harm mit der Schnapsnase, den rötlichen, von grauen Strähnen durchzogenen Haaren und den aufmerksamen, fast schon nervös hin- und hergehenden Augen hinter den dicken Brillengläsern unumwunden zu. Solche Sachen, wie die hässliche Schlägerei am Vortag in der „Traube“, bei der drei seiner Schützlinge so schwer verprügelt worden waren, dass sie medizinischer Pflege bedurften, die sollte es einfach nicht geben. Aber – die Welt …, der Mensch … (Als wäre Gott tatsächlich abwesend …)

Hochwürden, wie den durchaus beliebten Pfarrherrn hierorts besonders die alten Leute immer noch und traditionsverbunden nannten, schenkte aus der dickbauchigen grünen Flasche die mittelgroßen Wassergläser ziemlich voll, die vor ihm, seinem Halbbruder Hubert und dem jungen Gast platziert waren. Wenn schon, denn schon, lautete die ungeschriebene Devise Eberhard Harms. Wenn schon, denn schon.

Ja, der Mensch …

Ansonsten entpuppte sich des Totengrubers Halbbruder tatsächlich als recht gemütliches Haus. Außerdem war der durchaus nicht unsympathische Priester richtiggehend eloquent und sogar in Maßen gebildet, dazu vielseitig interessiert und mit jeder Menge Empathie ausgestattet, wie man sie manch anderen sogenannten Würdenträgern nur gewünscht hätte …

Von Pfarrer Harm erfuhr Simon zudem einiges Neues über seinen Arbeitgeber, den bösen Landwirt Johann Wilhelm Völsung vulgo Mühlbauer. Und dass dieser – offiziell natürlich durchaus angesehene – Großbauer in Wahrheit keinen allzu guten Ruf im Ort (und darüber hinaus) genoss. Nein, er wolle da nichts austratschen, meinte der Priester, ein wenig verschwörerisch, beim sechsten oder siebten Glas Schnaps, aber er sei schon ein schlimmer Finger, der Völsung. Ja. Und sogar in St. Laurenzen an der Fernitz, wo es immerhin einige spezielle Exemplare aus Gottes weitverzweigten Tiergarten gäbe, könne Völsung mit Fug und Recht durchaus als besonderes Beispiel eines alles andere denn ungefährlichen Kerls gelten …

Die Frage nach der vermutlich sodomischen Herkunft des Kälbleins namens Agataha ersparte sich Simon Horch vorsichtshalber. (Man war zudem gerade erst bei der zweiten bauchigen grünen Schnapsflasche angelangt.) Und auch von seiner eigenen Leidenschaft ließ er nichts verlauten. (Das hier, das war ja schließlich keine Beichte! Außerdem – – -)

Also widmeten sich die drei Diskutanten, Harm, Gruber und Horch, bald schon weniger sensiblen Gebieten; etwa der prekären Weltlage, den düsteren Aussichten auf dem Finanzsektor und innerhalb der Weltwirtschaft und dem Flüchtlingsproblem beziehungsweise der weitgehend unwürdigen und inhumanen Lösungsversuche, wie sie von Seiten der Europäischen Union und der Türkei gerade ausgemauschelt worden waren.

Ja, doch, das hochgeistige (und nicht minder hochprozentige) Triumvirat diskutierte recht zünftig über die Gesellschaft, die immer noch blindwütig das goldene Kalb eines ungewissen, ja: fragwürdigen Fortschritts umtanzte. (Bei der Erwähnung des goldenen Kalbes wurde es Simon kurz bang ums Herz …)

Ja, es waren düstere Aussichten, stellten alle drei Herren, der junge Atheist (oder besser: Agnostiker), der das Totengeschäft in und auswendig kennende Skeptiker und der mittelalte Pfarrer, quasi unisono fest. Auch wenn just diese eigentlich finsteren Zeiten mit noch finstereren Prognosen für das Morgen von den Politikern, von ihren Spindoktoren und zwielichtigen Beratern, von den grosso modo unnützen Coaches und giftigen Ohrenbläsern äußerst werbewirksam in den lichtesten und grellsten Farben geschildert wurden!

Man kam auf das soziale Engagement des Einzelnen zu sprechen, das, à la longue gesehen, der einzige Ausweg aus dem Dilemma sein konnte. Denn auf jeden einzelnen Menschen kam es an, da die Staaten, wieder einmal (oder immer noch) in ihren antiquierten Nationalismen befangen, lediglich Politik betrieben, anstatt sich der Notleidenden und Schutzbefohlenen anzunehmen. Das entwürdige Schauspiel, das die EU gerade in der Flüchtlingsfrage zeigte, bewies dies. War es nicht eine Schande, mehr Einsatz darauf zu verwenden, die juristischen Winkelzüge (oder die Umgehung der bestehenden Konventionen) auf ihre Tauglichkeit hin prüfen zu lassen, als den Ärmsten der Armen tatsächlich zu helfen?! (Der potenzielle Prozentsatz an Verbrechern, der sich auch unter den Migranten fände, entsprach übrigens vermutlich einem ähnlichen unter der Bevölkerung der Länder, in die emigriert wurde.)

Die Politik, die man da von Europa aus, protegiert von Russland und den USA, betrieb, sie würde folgerichtig wieder einmal in die Vernichtung ganzer Ethnien münden. Eine ethische Ermattung – übrigens auch der Kirche und der diversen kirchlichen Gruppierungen egal welcher Religionen – habe, so der Pfarrer in erstaunlich offener Sprache, die besten Voraussetzung für einen allgemeinen Niedergang auch der wirtschaftlichen Grundlagen des Lebens geschaffen. Mit dem voraussehbaren Versiegen der diversen Ressourcen werde, über kurz oder lang und fast automatisch, auch ein solches der moralischen Haltungen einhergehen. Die Welt, längst am Rande des Abgrundes taumelnd, stürze womöglich schon bald und endgültig denselben hinunter. Und allenthalben hielten manche dieses Taumeln womöglich noch für einen Freudentanz zu Ehren der Profite und positiven Börsen-Bilanzen ihrer Banken, Versicherungen und halbseidenen Syndikate!

Es war ein – trotz der Mengen an Schnaps – ernüchterndes Gespräch, das die drei Männer führten und in das, es abschließend, die Pfarrassistentin hineinplatze mit der wichtigen Mitteilung, die Diözese erwarte des Pfarrers umgehenden Anruf in der peinlichen Asylanten-Angelegenheit im Zusammenhang mit der Wirtshaus-Rauferei vom Vortag. (Außerdem habe schon der total verärgerte Bürgermeister Georg Alminger interveniert …)

Übrigens: Mit der Pfarrassistentin, einer gewissen Doris Rumkuscher, versuchte der ob des schwierigen Verhältnisses mit dem Kalb Agatha schon einigermaßen frustrierte Simon Horch in der Folge noch anzubinden. Doch die Tendelei versandete, eher sie sich überhaupt halbwegs entwickeln hatte können. Nicht so sehr, weil Doris eigentlich vergeben war (an den Junglehrer Gregor Hammerschmied, der auch als tüchtiger Organist die Sonntagsmesse verschönern half), sondern seiner allgemeinen Genervtheit in Liebessachen wegen.

Nein, Simon – das wurde ihm allmählich klar – war nun einmal nicht für bleibende Beziehungen geschaffen. Weder mit Studentinnen, noch mit Rindern. Oder mit Pfarrassistentinnen.

Außerdem plagten Simon Horch in letzter Zeit ziemlich böse Träume. Da standen die Bilder auf aus der Vergangenheit. Seine Hippie-Großeltern tanzten high, nackt und blumenbekränzt mit ihrer Clique und brachen in ritueller Gemeinsamkeit abschließend und selig lallend Langspielplatten der Beatles und der Rolling Stones. Dann nahmen sie mundgerechte Stückchen ihrer geheiligten Scheiben ein, als wäre es die Kommunion. Ganz oben hockte, einem irgendwie missgebildeten Hierophanten oder sonst einem Tarot-Oberpriester gleich, der zerknautsche luftgekühlte Zweizylinder-Viertakt-Boxermotor aus der Todes-Ente, dem Citroën 2CV der Großeltern … Zu allen diesen optischen Eindrücken kamen noch akustische: Es erscholl Orgelmusik von Johann Sebastian Bach, verfremdet von Emerson, Lake & Palmer … Zwischendurch hörte und sah Simon (obwohl ihm streng genommen längst das Hören und Sehen vergangen hätten sein sollen!) sogar Pink Floyd, wie sie von ihrem nachts Damenwäsche klauenden Fetischisten aus der „Arnold Lane“ sangen oder gar von „Lucifer Sam“ …

Dann wieder kam das Kalb Agatha ins Traumbild, wie es vom Bauern Völsung malträtiert wurde, blöd beäugt von Mutter Hekáte, diesem diesmal zwittrigen Pseudo-Argus, wie sie in einem riesigen Trog, gefüllt mit ihrer eigenen Milch, badete, bis die weiße Flüssigkeit zu Butter wurde … Oder die St. Laurenzenerinnen und St. Laurenzener genderten zunächst sich und ihren Gemeinderat, das überkommene Patriarchat endlich mutig ignorierend, dermaßen vor sich hin, dass es eine abartige Freude war. Dann freilich ging es an ein überaus munteres Gebumse mit Hirsch und Reh, Auerhahn und Stier, Eber, Sau und Eule. Sogar die Kellnerin Chantal bekam einen Königspudel ab … Kurz: Die Zwitterwesen hatten sich längst durchgesetzt; egal, wie Charles Darwin auch immer dazu stehen mochte. Freilich, dass ein deutliches Ansteigen des tierischen Elements da womöglich insgesamt irgendein Plus an Moral gebracht hätte, konnte man jedoch einigermaßen guten Gewissens auch nicht behaupten. (Goethes „Faust“-Mephistopheles mag hierin dann also – wieder einmal – geirrt haben, zumindest in Sachen Schein des Himmelslichts …)

Ja: Das Zwitterwesen hatte sich, zumindest in Simon Horchs Traumgefügen, durchgesetzt und zum Normalfall weiterentwickelt. Die Grenzen zwischen Regel und Ausnahme schienen aufgehoben, und das Monströse war dergestalt längst nicht mehr etwa eine skurrile Mutation, sondern vielmehr die künftige Norm.

Und außerdem sei es, wie sein Freund Hubert, der Totengruber, neulich tiefsinnig gesagt hatte, egal, ob sich der Mensch mit dem Schimpansen paare oder mit der Schlingpflanze: Hauptsache, er hielt sich von Seinesgleichen möglichst fern …

Jedenfalls hatte Simon bald (zumindest in seinen Albträumen) den festen Eindruck, der hominide Anteil an der Menschheit, zumal der in St. Laurenzen an der Fernitz, sei ein eher geringer. Und wenn der Mensch schon ein Zerrbild des Schöpfers sein sollte (an den er, Gott sei Dank!, nicht glaubte), dann tanzten hier die Zerrbilder des Zerrbilds ihren Walpurgisnacht-Reigen, dass es eine saumäßig horrible Freude war!

Dann erwachte Simon Horch von einem Schuss. Oder von einer Motorrad-Fehlzündung. Oder: Es war ein uralter Citroën 2CV, der da fehlgestartet war?! Wie auch immer.

Und kurz darauf krähte einer der Hähne einen neuen Tag ein. (Es würde einer der letzten sein, die Simon an diesem wenig wirtlichen Ort zuzubringen vorhatte.)

Bürgermeister

Bürgermeister Georg L. Alminger war der durchaus passende Exponent der herrschenden Politikerklasse für den Posten in St. Laurenzen an der Fernitz. Durch Jahre schon Direktor der Bankfiliale, Boss des Maschinenrings und der Molkerei, Abgeordneter zum Landtag und Obmann diverser Vereine sowie des Tourismusverbandes, war Alminger mit seinen knapp 50 Jahren ein Karrierist von oststeirischem Schrot und Korn. Dass sein Sohn und Erbe, der knapp 20jährige Roman, der in der Landeshauptstadt studierte, nicht wirklich sein Fleisch und Blut, sondern den Lenden des umtriebigen Scheusals Johann Wilhelm Völsung entsprungen war, galt zwar allgemein als offenes Geheimnis; doch konnte der selbst als Sch+ürzenjäger verschrieene Bürgermeister damit ohne weiters und gut leben. Immerhin hatte auch er in der Gegeng seinen Samenfäden gezogen und seine genetischen Spuren hinterlassen …

Bei der kürzlich erst erfolgten Zusammenlegung von fünf Nachbargemeinden war St. Laurenzen an der Fernitz ohne große Diskussionen zur Hauptgemeinde des neuen Verbundes ernannt worden, dem außerdem Murnitz, St. Franzen ob dem Illkogel, Sauberg und Rundbach am Kamm angehörten.

Jetzt wirkte Alminger verständlicherweise noch saturierter als zu vor. Und auch die weitgehend ermauschelte, diffus gehandhabte Gemeindepolitik veränderte sich kaum. Zudem: Hatte früher jeder der genannten Orte seine beschissenen Abwässer in die Fladnitz entsorgt, so tat man es jetzt über einen sündteure gemeinsame sogenannte Kläranlage, deren Zustandekommen (unter intensiver monitärer Unterstützung aus Landesmitteln) allerdings als weitestgehend ungeklärt galt. Nicht von ungefähr wurde dieses Großprojekt, an dem nicht nur Bürgermeister Georg Alminger, sondern auch seine Amtskolleginnen und -kollegen in Murnitz, in St. Franzen ob dem Illkogel, in Sauberg und in Rundbach am Kamm finanziell kräftig mitgeschnitten hatten, hinter vorgehaltener Hand allgemein die Unkläranlage genannt.

Ja, jetzt freilich brannte der Hut. Und deshalb hatte sich der Bürgermeister sogleich an den Pfarrer gewandt. Denn dass sich dessen Asylanten – das waren die paar Syrer, Afghanen und Nordafrikaner nicht gerade zur Freude des Ortsvorstehers – in der Kommune herumtrieben und schließlich sogar in Gasthausschlägereien involvierten waren, gefiel dem ersten Mann in der Gemeinde gar nicht. Aus der Landesregierung hatte man schon mahnende Fragen an ihn gerichtet, und vor allem: die Partei war irritiert … Immerhin, touristisch und, was den inneren Frieden betraf, da stand doch allerhand auf dem Spiel!

Der Pfarrer hatte erwidert, dass seine Asylanten nicht seine Asylanten, sondern die der Diözese seien, er ihnen folglich bloß eine Wohnstatt zur Verfügung stelle. Außerdem hätten sich die drei Afrikaner völlig unauffällig verhalten, bevor sie von den randalierenden St. Laurenzern attackiert worden wären.

Wie könnten sich Afrikaner überhaupt völlig unauffällig verhalten, wollte da der Bürgermeister wissen. Immerhin fielen die doch allein schon wegen ihres Andersseins auf. Und überhaupt – mit der Hautfarbe …

Weil sie schwarz seien, fragte der Pfarrer (vom Schnaps noch innerlich aufgekratzt) retour? Dies dürfe doch just ihm, dem Orstvorsteher, als einem Schwarzen, also: als einem Mitglied der Volkspartei, der Schwarzen eben, nicht so unangenehm sein?!

Da drosch der Bürgermeister den Hörer auf die Gabel.

Ja, mit dem Landeshauptmann würde er reden! Und der würde es dem Bischof sagen! Dann würde der den widerborstigen Pfarrer Harm schon zur Räson bringen! Der gar nicht harmlose Harm mit seinen Negern, der würde schon sehen, wohin er mit seiner Willkommenspolitik komme! Der würde – (Ein bisschen viel Würde für so wenig substanzielle Gedanken, finden Sie nicht auch?!)

Ärger also, nichts als Ärger, dachte Alminger. Der Ärger hatte jedoch auch sein Gutes. Da musste er wenigstens nicht dauernd an diesen saudummen Lohengrin Zirbler denken, der seit geraumer Zeit schon seiner Tochter Isabella nachstieg! Verhindern, politisch verhindern können hatte er den Sozialisten Zirbler als Direktor der Volksschule leider nicht; dazu waren seine Dienstbeschreibung, seine Ausbildung und sein Engagement für die Allgemeinheit zu überzeugend. Aber seine Tochter wollte er ihm sicher nicht zur Frau geben. Diesen Lohengrin als Schwiegersohn?! Nein, das mit Sicherheit nicht! Außerdem: Wie konnte einer Lohengrin mit Vornamen heißen – und Sozialdemokrat sein?!

Alminger schäumte innerlich.

Aber dass Manuela, seine Tochter, sich ausgerechnet in den Pädagogen verlieben hatte müssen! Beim Volkstanz hatte es gefunkt. Beim Volkstanz! Und seither überschüttete der Zirbler die Manuela mit Geschenken und ihn, den Schwiegervater in spe, mit Anträgen.

Es war eine Schande!

Und jetzt auch noch die Asylanten und der ach so in Nächstenliebe gebadete Pfarrer Harm!

Leckt mich doch alle, dachte Alminger und goss sich einen mehrfachen Schnaps aus der Flasche im geheimen Schreibtischfach ein.

Freunde

Freunde, also echte Freunde sind grundsätzlich eher etwas Rares. Gut: Einerseits gehören Freunde einfach dazu im Leben. Andererseits umnebelt den Begriff fast immer eine Wolke der Unbestimmtheit. Zudem wird das Phänomen Freundschaft, das an sich durchaus positiv besetzt ist, ein wenig in seinem Wert herabgemindert durch den Umstand, dass auch unbeliebte, ja: verhasste Menschen in aller Regel über Freunde verfügen. Denn ohne Freunde geht es eben nicht.

Just böse Menschen brauchen Freunde, allein schon, um ihre Übeltaten eben nicht allein vollbringen zu müssen. Und wegen der gemeinsamen Leichen im Keller, die dann für alle Zeit quasi als ein gegenseitiges Pfand der Freundschaft nachwirken.

Wenn dann ein paar Leute so ordentlich schön viele Leichen im Keller haben und außerdem gegenseitig möglichst alles über ihre schiefen Karrieren und äußerst verschlungemen Lebenswege wissen, ist der Freude kaum mehr ein Ende. Denn dann können sie in aller Regel gar nicht anders, als eisern zusammenhalten.

Das war auch in St. Laurenzen an der Fernitz nicht anders als anderswo.

Und so verfügte zum Beispiel der in Wahrheit äußerst unbeliebte korrupte Bürgermeister Georg Alminger über eine Handvoll guter Freunde, die sich allesamt durch mindestens genauso viel Dreck am Stecken auszeichneten, wie ihn der Ortsvorsteher für sich hätte reklamieren müssen, wäre ihm der Sinn nach solchen fragwürdigen Ehren gestanden. (Doch es ging diesbezüglich wohl mehr ums Vertuschen, gewiss.)

Almingers curriculum vitae hätte manchem Schwerverbrecher zur Ehre gedient, wäre es öffentlich geworden. Er hatte vom Beginn seiner Laufbahn an getrickst, bestochen, geschmiert und genommen. Er hatte alle hineingelegt, seine Partei wie seine Dienststelle in der Genossenschaft, beim Maschinenring, in der Gemeinde und überall dort, wo er noch – meist rasch in der Führungsebene – tätig war. Er hatte seine unschönen Finger weitestgehend überall drinnen. Und sie waren nie leer. Geschweige denn: rein.

Einer der Freunde von erster Stunde an war, erraten!, der Mühlbauer vulgo Johann Wilhelm Völsung. Nicht der Umstand, dass sie einander schon von der Schule her kannten, war für ihre spätere Freundschaft ausschlaggebend – es gab in St. Laurenzen klarerweise ja nur die eine Volksschule -, sondern, dass einander auch ihre späteren Karrieren nicht selten kreuzten. So gingen beide jungen Männer eine Zeit lang immer wieder mit den selben Mädchen, schwängerten auch schon mal die eine oder andere; wobei allerdings der Völsung auch damals schon der Umtriebigere war. Und: Man mischte außerdem – fast schon brüderlich – in so manchem kommunalen Sautrog gemeinsam um. Was der eine anstellte, bescheinigte mit zunehmenden Vollmachten der andere im Nachhinein. Eine Hand wusch die andere, und es war kein Wunder, dass letzten Endes beide schmutzig blieben.

Im Herrn Apotheker, dem zugereisten Matthias Marderthaler aus München, erwuchs den beiden Falotten schließlich der optimale dritte Mann in ihrem unschönen Bund. Der Pharmazeut vom Strand der Isar brachte das nötige Knowhow mit für ausgeklügelte Coups, wobei sich alle drei Gauner bereichern konnten. Zu Lasten der dummen St. Laurenzener.

Ja, und wenn sie einen zusätzlichen Mann fürs Grobe brauchten, so konnten Alminger & Co., als wären sie die Mafia, noch auf den heruntergekommenen Wirt, auf den Egon Zeugler, zurückgreifen. Der leider merkbar versoffene Gastronom, der schon bessere Zeiten erlebt hatte, musste für so manche Schweinerei herhalten, die sich entweder im schmuddeligen Hinterzimmer seiner Kaschemme „Zur roten Traube“ abspielte oder sonst wo. Den Zeugler hatte der verbrecherische Bürgermeister nämlich in der Tat total in der Hand. Und da ging es im Wortsinn um Leichen im Keller … (Doch würde uns, das zu erörtern, hier ohne Zweifel zu weit vom Kern der Erzählung rund um Simon Horch und sein geliebtes Kälbchen Agatha abbringen. Und wenn wir ansonsten auch kaum eine Chance zu einem skriptoralen Mäander auslassen, so wollen wir doch – – – et cetera.)

Kurz, wenn der Gemeinde-Gauner Alminger gemeinsam mit dem Pharmazie-Gauner Marderthaler und dem Agrar-Gauner Völsung (eventuell unter Mitwirkung des Gastronomie-Gauners Zeugler) daran gingen, eine ihrer ungesetzlichen Unternehmungen zu starten, war zumindest eines klar: Wie die Sache an sich auch immer ausgehen sollte, ihnen würde niemand etwas nachweisen können. So schlau war das Böse in ihnen immerhin und so gewandt. Vielleicht schwang da sogar ein Anflug von Genialität mit?

Nun, ja. Hm.

Immerhin ging es den Unholden gewaltig gegen den Strich, wenn auch andere (und womöglich mit Erfolg!) Schlimmes planten, durchführten und damit womöglich auch noch reüssierten. Das traf die Beutelschneider und Bösewichter quasi in ihrer Gaunerehre.

Da ließen sie nicht mit sich spaßen.

Horch

Horch, was kommt von draußen ‚rein …?“, heißt es im Volkslied, das (laut Wikipedia) aus dem Badisch-Pfälzischen stammt und Vers für Vers mit einem wenig sinnhaften Hollari, hollaro schließt. Die erste dumme Strophe versucht uns weiszumachen, dass es sich bei dem, was da von draußen ‚reinkommt (oder eben nicht ‚reinkommt), unbedingt um des Ich-Erzählers Feinsliebchen handeln müsse.

Doch dann, nach der überraschenden Wendung: „Geht vorbei und schaut nicht ‚rein [Hollari, hollaro!]“, folgt immerhin die Einsicht: „Wird’s wohl nicht gewesen sein [Hollaridio!]“ Genug der Volkskultur.

Wir freilich haben jetzt längere Zeit schon nichts von Simon Horch gehört und seiner eben auch nicht gerade unproblematischen Liebe zum Kälbchen Agatha, das inzwischen zur stattlichen Jungkuh herangewachsen ist. Wie sie so da steht auf ihren wohlgeformten hellbraunen Beinen, die den ebenso wohlgestalteten Körper mit dem ausgesprochen schönen Kopf tragen, aus dem die großen dunklen Augen mit den langen rötlichbraunen Wimpern aufmerksam, ein wenig neugierig sogar, in die Welt sehen … Er, Simon, ist immer noch hingerissen, wenn er beim Ausmisten des riesigen Stalles bei der Geliebten verweilt, die allerdings nach wie vor ihr ziemlich herzloses Spiel mit ihm treibt und in gewisser Weise auf seinen Gefühlen herumtrampelt auf den vier zierlichen Hufen.

Wäre Simon Horch ein Poet, er würde seiner Agatha Oden dichten oder ihre Anmut in Sonetten beschreiben. Distichen würde er verfassen und Stanzen formen, manche Ballade würde er von ihr handeln lassen – etwa von Gefahren, in die sie geraten war und aus denen er sie heldenmütig errettete!

Wäre er Komponist, er gösse Agatha, sozusagen, in Sonaten und Ouvertüren, in manche Humoreske und in manches Impromptu. In dem einen oder anderen Nocturno setzte er sie, so er es vermöchte, in schöne Töne, und Fanfaren erklängen und Symphonien nur ihr zu Ehren!

Wäre er des Zeichnens oder gar des Malens mächtig, er verewigte seine Herzallerliebste in allen nur möglichen Techniken: In Öl auf Leinwand, als Fresko an die Wand, oder als Graphik, mit brennendem Herzen gar als Kaltnadelradierung.

Aber Simon hatte von seinen durchaus lausigen Künstlereltern nicht mehr als deren lausige Kunstfertigkeit ererbt. Und so war es nichts mit Musik, Malerei oder Dichtung.

Immerhin: Simon Horch verfügte über jede Menge von Ausdauer. Und so investierte er alle seine Gedanken in das Kalb Agatha, überlegte sich Möglichkeiten, wie er sowohl die Argus-äugige Kuhmutter Hekáte als auch den verbrecherischen Großbauern Völsung überlisten konnte, hin und wieder auch nachts in der Geliebten Nähe zu verbringen. Und sei es auch nur beim Hofhund Rex, dessen Freundschaft er sich durch reichliche Zuwendungen in Form von Knackwürsten erkauft hatte.

Oder Simon schwang sich ins Gebälk des Heustadels, der über dem Kuhstall situiert war, und sang durch die Luke hinunter. Dabei entging er öfters nur knapp den Hufen der anderen Rindviecher, die den ungebetenen Gast nicht zu Unrecht als Störung ihrer heiligen Ruhe empfanden. Immerhin hatten sie zu verdauen und zu schlafen.

Jedenfalls unternahm Simon alles Mögliche, um in der Nähe seiner Agagtha zu sein.

Dabei fiel ihm, so weit er das in der Dunkelheit unterscheiden konnte, einmal zu seinem Schrecken auf, dass sich da ein gewisser Mario Furian (der in der Folge weiter unten noch etwas genauer zu beschreiben sein wird) ebenfalls zielstrebig hin zum Stall schlich. So weit Simon wusste, hatte der nichtsnutzige Bursch vor Zeiten kurz ebenfalls einmal beim Völsung gearbeitet. Über Mario ging das Gerücht, dass seine Mutter, eine gewesene Kellnerin in der „Roten Traube“, ihren unehelichen Sohn gar von einem Araberhengst empfangen habe. Und der sei später, aus einer anderen, ähnlich gelagerten Affäre, als Wallach hervorgegangen. Zuletzt vermutlich habe man aus Marios Erzeuger Wurst gemacht.

Nun jedoch schien das ganze Interesse des jungen Mannes mit der erstaunlichen Deszendenz dem schönen Kälbchen da zu gelten. Simons schönem Kälbchen. Zumindest wirkte er wie gebannt von Agatha, von der er, beinahe schon sabbernd, kein Auge ließ …

Oha, dachte Horch. Auch noch ein Nebenbuhler?!

Dieser Mario, verdammt!

Gut, die meiste Zeit schlug sich der arbeitsscheue Patron ohnehin vazierend und mer schlecht als recht durch. Als Stellungsloser, der allerdings auch nicht besonders interessiert an einer Veränderung dieses Zustands zu sein schien. Zumindest hätte niemand so ohne weiters bestätigt, dass Marios Verhältnis zur Arbeit ein besonders enges gewesen wäre.

Na, und dann, zwischendurch, landete der Bursche halt wieder für einige Zeit im Gefängnis, weil er allem Anschein nach sogar für die kleinen Diebstähle und Gaunereien, die er gewöhnlich beging, zu blöd war und immer wieder dabei erwischt wurde.

Doch, ja, dieses Kälbchen im Stall des Großbauern Völsung stachelte seine Bergierden an. Vor allem die sexuellen (obwohl Mario ansonsten eher auf Mädchen stand als auf weibliche Tiere); aber auch die des Besitzens und der Dominanz. Denn als einer, der sich bisher immer wieder so ziemlich am Ende der sozialen Kurve (und gleichsam in permanenter Bedeutungslosigkeit) wiedergefunden hatte, stachelte diese augenscheinliche Unschuld und Schwäche, wie sie das hübsche Jungtier ausstrahlte, gewaltig an. Ja, der Umstand machte ihn – geil. Und über die Lüsternheit hinaus begierig nach Macht …

Im Unterschied zu Simon Horchs zärtlicher Zuneigung und schmachtender Liebe, die schon ein wenig an mittelalterliche Minne erinnern mochte, glich Mario Furians fahrige Entflammtheit schon eher einem heißen Grill. Da drohte das Feuer sogar das Objekt der Begierde gleich mitzuverbrennen.

So stark unterschieden sich Simon und Mario in ihrem Buhlen um das Kälbchen Agatha.

Und sie selbst, sie, die Umworbene?

Agatha hielt die zwei hin. Sie verstand es, beide jungen Männer auf Trab zu halten in diesem metaphorischen Turnier, das da um den Preis ihrer Liebe und Zuneigung ausgefochten wurde. Und in dem, zumindest aus ihrer (zwischen kindlicher Naivität und fraulich-satter Koketterie changierenden) Sicht die Kontrahenten durchaus gleiche Chancen verdienten.

Und: Agatha zierte sich. Nicht, weil sie sich um die Chancen der beiden Verehrer (noch) nicht im Klaren war; vielmehr, weil sie die Liebe (ebenso noch) für ein Spiel hielt.

Aber – war die Liebe tatsächlich ein Spiel? Oder könnte aus ihr nicht viel mehr bald schon blutigster Ernst werden?!

Jedenfalls loderte da ein gefährliches Feuer. Und rund um den schwelenden Brand der Gefühle zog, einem scharfen Wachhund gleich, der alte Völsung seine immer enger werdenden Kreise.

Eine Zeitbombe tickte da.

Ja, ganz zurecht hatte Simon Horch kein gutes Gefühl. Und die Erscheinung des unnötigen Tagediebes Mario Furian verfolgte ihn bis in seine Träume, die ohnedies nicht besonders angenehme waren in letzter Zeit. Nein, gar nicht angenehme Träume waren das.

Aber, dass ausgerechnet so ein Arsch da mitmischen musste wie dieser Mario! Es mit dem alten versoffenen Bauern aufzunehmen, hätte Simon noch irgendwie eingeleuchtet: Den alten Sagen seiner Kindheit entsprechend, wären das späte, durchaus vertraute Abbildungen der recht spannenden Kämpfe eines edlen Ritters (= er) mit dem Drachen (= Völsung) gewesen.

Aber – mit diesem Nemos, mit Mario?!

Mario Furian war, zugegeben, allein schon eine ungut Figur. Doch erst gemeinsam mit seinem Busenfreund, dem Bruno Engerling (genannt: der schwarze Engerling), entfaltete sich die ganze Bandbreite der Hinterlist und abgründigen Schlechtigkeit so richtig. Die beiden waren ein Gespann von schier alles bezwingender Abscheulichkeit. Dabei eigentlich inferior und, was ihren Geist betraf, fast schon als mickrig zu bezeichnen.

Mario, der kraushaarige Bursche mit dem fahrigen Blick und dem zusammengestauchten Gesicht dunklen Teints auf einem schmalen Körper, an dem auch sonst alles irgendwie unbestimmt schlenkerte und ohne jedwedes Ziel zu sein schien.

Dazu Bruno, der gleich verschlagen wie schlau wirkte, flachshaarig und eher blassgesichtig zwar, doch mit einem gewalttätigen Zug um den Mund. Und: mit muskulösen Armen und ebensolchen Beinen. Die sehnigen Arme gingen in klobige Hände über, denen man besser nicht zu nahe kam.

Obwohl sie so verschieden waren (oder gerade deshalb?), ergänzten die beiden falschen Fuffziger einander auf das Beste. Und sie waren denn auch überall präsent, wo es etwas Schlimmes auszubrüten oder anzustellen gab. Wer sich ihrer, wie etwa der Bürgermeister Alminger – freilich über Mittelsmänner! – zu bedienen wusste, hatte immerhin pflichttreue, brutale Domestiken zur Hand, auf die hundertprozentig Verlass war; wenn bloß die Kasse stimmte.

O ja, Mario und der schwarze Engerling hatten fast immer etwas Schlimmes am Laufen. Sie standen quasi für ein bald schon hereinbrechendes Unheil, wenn sie nur wo auftauchten. Sie fungierten wie apokalyptische Reiter – nur ohne Pferd und bloß zu zweit, der Mario Furian und der schwarze Bruno Engerling. Dass sie nichts desto trotz ihr mehr oder weniger beschissenes Leben lang zu nichts Nennenswertem kamen (weder geistig noch materiell), schien bloß ein Klischee zu beweisen. Dass nämlich Heimtücke und Brutalität allein auf Dauer keinen Lorbeer einbringen. Nicht einmal Liebstöckel. (Wobei hier ausdrücklich vermerkt sei, wie hoch wir Lorbeer, Liebstöckel und all die anderen so nützlichen und gesunden Kräuter und Küchenpflanzen ansonsten einschätzen!)

Nein, sie würden immer – im Grund genommen – arme Schweine bleiben, der Mario Furian und der Bruno Engerling. Wie alle die Millionen Furians und Engerlings dieser Welt, die böses anrichten, selbst indes kaum jemals Nutznießer irgendeines Schach- oder Winkelzugs werden. Egal ob sie kleine Taschendiebe sind, Wallenstein oder Alexander heißen, Adolf Hitler oder – – –

Zuletzt

Zuletzt plant dann der schwarze Engerling, dieses, oben bereits beschriebene lichtscheue Element besonderer Ausprägung, gemeinsam mit dem unsicheren Mario Furian, der bekanntermaßen und seit ewig schon ein ausgesprochener Erzfeind des alten Völsung gewesen ist, einen ganz großen Coup. Engerling und Furian, der bisher zudem als Simons Konkurrent um die Gunst des Kälbchens Agatha aufgetreten ist, planen nicht mehr und nicht weniger, als einen großen Brand zu legen, dem, ausgehend von Johann Wilhelm Völsungs Mühlbauerhof, im Optimalfall der ganze Ort zum Opfer fallen soll!

Die beiden Verbrecher sind gut ausgerüstet. Und schlau, wie nur nichtsnutzige Menschen schlau sein können. Freilich – sie sind nicht schlau genug.

Immerhin, sie haben eine ganze Reihe von Benzinkanistern und Zündschnüre, jede Menge. Dann: Brandbeschleuniger. Und Heimtücke, ebenfalls jede Menge.

Es ist Nacht. Die beiden Halunken schleichen sich an. Sie wieseln umher. Das Adrenalin ist ganz weit oben, das kann man wohl glauben … Da und dort legen sie ihr explosives Netzwerk. Wie Spinnen sind sie am Werk. Vorsichtig und zielgerichtet.

Und dann: Wumm!

Noch so ein Wahnsinnsplan. Und zwar gleichzeitig, im Schlafzimmer des Johann Wilhelm Völsung, der sich schlaflos hin und her wälzt. Der furchtbare Mühlbauer beschließt in einem Anfall von Wut über Gott und die Welt, am besten gleich am nächsten Tag das Kälbchen Agatha an den Schlächter zu geben! Denn plötzlich halluziniert er in diesem weitgehend unschuldigen Wesen den Auslöser all der Unbill, die sein ganzes bisheriges Leben bestimmt und ausmacht.

Da tritt die Katastrophe tatsächlich ein. Der Brand hebt an. Ja! Wumm!

Und Völsung? Der ist wie im Fieber. Ihm geht es bloß um sein familiäres Wirrwarr. Daher muss das Kalb weg. So rasch wie nur möglich!

Er merkt nicht einmal so recht, was um ihn herum geschieht. Da schreit die Ehefrau und rennt aufgeregt, die Kinder (soweit sie noch im Haus sind) im Schlepptau! Die Katzen und Hunde suchen in Panik das Weite. Die Vögel kreischen. Die Tiere in den Stallungen muhen, quieken und brüllen voller Todesangst!

Vom Brand, von den mannigfachen Verwirrungen durch das Geschehen des Brandes bemerkt Völsung jedoch beinahe nichts. Dagegen ist er apathisch. Wie gebannt. Unfähig zu denken oder gar, etwas zu tun. Schon gar – das Richtige zu tun.

Denn in ihm ist etwas, das ihn schier zur Verzweiflung bringt und ihm den restlichen Verstand raubt. (Er wird zwar später, wieder zu sich gekommen, wo wirken, als hätte er einen kühlen Kopf bewahrt. Und er wird auch die Brandschäden, die ohnedies von der Versicherung gedeckt werden, ohne Schwierigkeiten überstehen. Doch es ist ihm mit einem Mal alles da zu viel. Und bevor sich selbst aufhängt, opfert er lieber das Kalb. Welchem bösen, dunklen Gott er es opfert? Er weiß es nicht … Nein, er weiß es wirklich nicht. Doch was weiß dieser dauergeile, fast immer betrunkene Trottel überhaupt?!)

Der Brand. Ja, der Brand! Herrschaften, da ist einer, der das Banner immer hoch hält, das Banner, worauf steht: Einer für alle, alle für einen! Ja, er: Lohengrin Zirbler. Der wackere Direktor der Volksschule von St. Laurenzen an der Fernitz ist nicht ohne Grund auch Hauptmann der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr. (Auch wenn der neidige Ämterkommulierer, Bürgermeister Georg L. Alminger – das L. stehe eigentlich für Ludwig, sagt er selbst; es stehe für Luzifer denken indes viele im Ort … -, wenn also auch Alminger nur allzu gern sogar noch die Lorbeeren für diesen angesehenen Posten einheimsen würde, man hat nun einmal den jüngeren [und wesentlich verlässlicheren] Zirbler mit der Obsorge um die Gemeinde in Brand- und Katastrophenfällen betraut.)

Und Zirbler ist mit seinen Leuten im Nu zur Stelle. Die vereinten Wehren von St. Laurenzen an der Fernitz, aus Murnitz und St. Franzen ob dem Illkogel, aus Sauberg und Rundbach am Kamm löschen in großartiger, bewährter Zusammenarbeit in kurzer Zeit den Brand. Alle Menschen können gerettet werden, auch das ganze Vieh, kein einziges Stück kommt zu Tode. Lediglich die Brandstifter selbst haben sich nicht rechtzeitig außer Reichweite bringen können. Mario Furian und der schwarze Bruno Engerling, von Benzin durchtränkt und mit Brandbeschleuniger kontaminiert, sind Opfer wie corpora delicti in einem …

Und eigentlich ist kaum jemand in St. Laurenzen, der den beiden Vagabunden und Kriminellen eine Träne nachweinen würde. (Nur Pfarrer Eberhard Harm schließt sie pflichtbewusst in sein Gebets-Round-Up mit ein, das er, gezeichnet vom abendlichen Selbstgebrannten, da noch herunter-psalmodiert vor dem Schlafengehen.)

Simon Horch, nachdem er noch kurz mit seinem Freund, dem Totengruber, bei einem kleinen Umtrunk im Haus des Hubert gesprochen hat, nimmt jedoch sein Bündel und verlässt den unwirtlichen Ort. Brandgeruch hängt noch allenthalben in der Luft. Er geht.

Er weiß, dass er sein Kalb Agatha nie mehr wieder sehen wird. (Da er kein Fleisch isst, wird er mit dem potenziellen Schnitzel, das sie alsbald sein wird, nicht einmal auf diese Weise kommunizieren können.)

Simon Horch wendet endgültig seine Schritte weg von St. Laurenzen an der Fernitz. Wohin? Das steht in den Sternen, die über ihm am Himmelszelt prangen.

Und er dreht sich nicht um.

E N D E

Literatur und Quellen (Auswahl):

Bill Anderton, Tarot. Das Gehimnis der Zulunft entdecken. Neuhausen am Rheinfall 1997.

Bibliographisches Institut (Hg.), Weltbild Taschenlexikon in 10 Bänden. Mannheim 2006.

Ernst Bruckmüller (Hg.), Österreich Lexikon in drei Bänden. Wien 2004.

Hermann Breitenbach (Hg.), Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Stuttgart 1988.

Attila Csampai/Dietmar Holland (Hg.), Der Konzertführer von 1700 bis zur Gegenwart. Reinbek bei Hamburg 1987.

Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder ie Erhaltung begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein. Köln 2002.

Marie von Ebner-Eschenbach, Krambambuli und andere Erzählungen. Stuttgart 2001.

Umberto Eco, Baudolino.

Elisabeth Frenzel, Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 4. Aufl. Stuttgart 1992.

Karl Heinemann (Hg.), Goethes Werke. 15. Bd. Leipzig und Wien o. J.

Internet.

Stefan Link, Wörterbuch der Antike. Mit Berücksichtigung ihres Fortwirkens. 11. Aufl. Stuttgart 2002.

N. N., Vornamen von A bis Z. Über 10.000 Namen. Ein Lexikon mit Erläuterungen zu Herkunft und Bedeutung. Köln o. J.

Guy Peeliaert/Nik Cohn/Ingeborg Schober, Rock Dreams. Die Geschichte der Popmusik. Rock Lexikon. München 1973.

Heinz Rölleke (Hg.), Die wahren Märchen der Brüder Grimm. Frankfurt am Main 2003.

Rüdiger Safranski, Goethe. Kunstwerk des Lebens. München 2013.

Ders., Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2015.

Ders., Romantik. Eine deutsche Affäre. 5. Aufl. Frankfurt am Main 2013.

Ders.(Hg.), Schiller als Philosoph. Eine Anthologie. Berlin 2005.

Ders., Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus. Frankfurt am Main 2016.

Friedrich Schillers sämmtliche Werke. 26 Bde. Wien 1816 f.

Lilly Wildgans (Hg.), Anton Wildgans: Sämtliche Werke. 8 Bde. Wien – Salzburg o. J. (1949.)

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