
El Greco
Eine seltsame
Kunst-Geschichte von
Bernd Schmidt
© by Bernd Schmidt, Graz 2014.
(ENDFASSUNG: 2015.)
Ewig war ein Längenmaß.
Wann wirbelte das erste Gen im All?
Wieso? Unser Ahn,von den Magnetfeldern
der Sterne hin- und hergerissen? Auch die
Götter kannten ihre eigene Zukunft nicht.
Urs Widmer, Yal, Chnu, Fibittl, Shnö
*
Die Brindille umspülte diesen Felsen,
und auf ihrem an dieser Stelle geweiteten,
klaren, ruhigen Wasser sah man einen
langen, rosafarbenen Streifen, darin sich
Hirn und Blut mischten.
Guy de Maupassant, Die kleine Rocque
*
Eins
Mit dem griechischen Maler Dominikos Theotokopulos, der in Spanien berühmt wurde und den sie seiner Abstammung wegen El Greco nannten, habe ich nichts zu tun. Leider. Oder auch nicht leider. Wer weiß? Kollege El Greco, um 1541 auf Kreta geboren, 1614 in Toledo gestorben, der seine Ausbildung in Venedig absolviert hatte, steht, ob nun anerkannt und verehrt oder scheel angesehen und abgelehnt, für flackernd fahles Licht und in der Bildtiefe unbestimmte, dennoch (oder gerade deshalb) hochdramatische Momente, überhöhtes Maltheater und für schockierende Farbszenen. Am besten allerdings beherrschte er die brokatenen Faltenwürfe missgünstig dreinblickender Kirchenfürsten und dicke Pferdeärsche; doch die malte angeblich einer seiner Gehilfen. (Nein, der mit den Rössern, das war überhaupt nicht El Greco, sondern Diego Rodriguez de Silva y Velázquez, 1599 bis 1660.)
Mit El Greco, diesem griechisch-stämmigen Maler, habe ich nichts zu tun. Nein.
Auch bin ich weder des Spanischen mächtig, noch beherrsche ich die griechische Sprache. Ich wäre also kaum als polyglott, sondern eher schon als sprachlos zu bezeichnen.
Geboren als Kind deutschsprechender Eltern in Norddeutschland, verpflanzt bald darauf nach Griechenland (Santorin, nicht Kreta übrigens), später in Spanien gestrandet, schließlich, immer noch an Mutters Schürzenzipfel, ganz kurz in Helsinki, dann wieder und für etwas länger diesmal in Hamburg … Doch da meine Gesichtsfarbe angeblich an bleiche Oliven erinnerte, bekam ich den Spitznamen El Greco verpasst. Von der Hamburger Grundschul-Lehrerin Montserrat Mörike, deren Familie mütterlicherseits aus Spanien stammte.
Ich frage Sie, was sollte da wohl aus mir werden?!
*
Nein, natürlich, so war es: Also. gemeinsam mit meiner Mutter kam ich (knapp vor meinem Schuleintritt, damals, in den 1950er Jahren), nachdem wir aus Deutschland nach Griechenland und aus Griechenland nach Spanien gelangt waren, also nach einem kleinen Abstecher über Finnland endlich nach Hamburg zurück. Und dann wurde mir – viel später verständlicherweise erst, als ich zu begreifen angefangen hatte, was es mit der väterlichen Unruhe auf sich habe – klar, was mit dem Spitznamen El Greco gemeint sein könnte, dort an der Elbe. Und warum Frau Lehrerin Mörike mich so genannt hatte (weder spöttisch noch sonst wie negativ eingestellt; schon gar nicht freilich – rassistisch).
Überhaupt unser Zurückkommen, unsere Rückkehren, wie man korrekter sagen müsste!
Unser Zurückkommen vollzog sich, egal, wohin wir gerade zurückkehrten (und ob wir überhaupt dort, wohin wir angeblich zurückkamen, schon einmal gewesen waren oder nicht), unser Zurückkommen vollzog sich ab jetzt immer ohne Vater. Ja, ohne meinen Vater. Mit ihm war lediglich der Umzug in die Ägäis vor sich gegangen, wiederum ein paar Jahre zuvor. Alle anderen Um-, Rück- und Wiederkehren vollzogen sich für mich vaterlos. (Zur Erinnerung: Bei unserer Griechenland-Expedition war ich erst zwei oder drei Jahre alt gewesen.)
Jetzt also alles ohne Vater.
Hamburg – Griechenland, mit Vater. Griechenland – Spanien, Spanien – Hamburg, Hamburg – et cetera: Alles ohne Vater.
Irgendwann auch ohne Mutter.
Nur Onkel gab es, in der Mutterzeit, hin und wieder. Freunde (Also: Geliebte) meiner Mutter, die sie sich jedoch hütete, als neue Väter bei mir einzuführen. Nein, kein Vater! Der Abschied von einem Onkel fiele mir, dachte meine Mutter vermutlich, doch erheblich leichter als der neue, der neuerliche, gleichsam immer wieder erneuerte von einem Vater; auch wenn es nicht der Vater gewesen wäre … (Ich weiß nicht, ob sie da richtig lag, meine Frau Mama. Hauptsache, sie lag bei den Onkels richtig.)
Mein Vater war Uhrmacher. Aber nicht aus Hamburg, wo ich, wie schon erwähnt, (und eher zufällig) zur Welt gekommen war. Gegen Ende der 1940er Jahre. Ja, zugegeben: Es hätte auch gut wo anders sein können. Mein Vater, mein ruheloser oststeirischer Vater -)
Seine Unruhe funktioniere nicht richtig, sagte, kam die Rede just auf ihn, meine Mutter später gerne und seufzte dabei vielsagend. Oder besser: viel verschweigend. Und schmallippig.
Und: Er sei seiner kaputten Unruhe wegen ein ruheloser Mensch gewesen.
Ungewöhnlich, nicht nur für einen Uhrmacher … Ich glaube, dass meine gute Mutter meinen Vater nie so recht verstanden hat. Egal, in welchem Stadium ihres Zusammenlebens und Beieinanderseins. Sie trug zudem zeitlebens keine Uhr und stammte, von ihren Eltern und deren Verwandtschaft her, noch dazu aus Czernowitz.
*
Meine Katze, eine blauäugige, getigerte namens Betty, die erfreulicherweise sehr alt wurde, hielt, schon leicht senil, wie sie dann war, oft mitten im Sprung (aufs Bett, auf eine niedrige Kommode oder aufs Sofa) inne. Allem Anschein nach vergaß sie, während sie sprang, was sie eigentlich gewollt hatte – und besonders: wohin. So kam es, dass sie alsbald hundertfach in der ganzen Wohnung herumhing, basislos und wie traumverloren im Raum …
Oder war dieser mein Eindruck dem billigen Fusel geschuldet, den ich damals, umständehalber, zu trinken gezwungen war?!
Also, mein Vater, wie angedeutet, aus der schönen Oststeiermark stammend und Uhrmacher, führte sein Leben lang, das – wie wir (meine Mutter und, unabhängig von ihr, auch ich) später über Umwege erfahren sollten – bis 1980 dauerte, ein unstetes solches. Mal Feuerland, Paris und Berlin, dann New York, Casablanca und Prag. Auch verschlug es in erneut in die Ägäis, dann nach Nigeria. Mal ging er in Peking vor Anker, suchte Havanna auf oder ließ sich nach Singapur und Sydney treiben. Dann sichteten ihn irgendwelche Bekannte sogar in Moskau, in Budapest oder – Entfernungen schienen ihm nichts auszumachen – in San Francisco. Schon erstaunlich für einen 1910 geborenen Uhrmacher aus der Oststeiermark, der den Großteil seines Lebens – zumindest numerisch – in Hamburg verbracht hatte!
Wie es der Art seiner Lenden entsprach, gab es neben mir, Pseudo-El Greco, noch solche und ähnliche Produkte aus Feuerland, Paris, Berlin, New York et cetera, die ich allesamt jedoch nicht kennenlernen zu sollen das Glück hatte.
Er war eben ein toller Hecht, mein alter Herr.
Ach ja, zwischen zwei Positionen meiner alten Katze fand ich eines Tages einen Zeitungsausschnitt, der meinen Vater betraf beziehungsweise auf ihn Bezug nahm.
Doch der half mir auch nicht weiter.
Immerhin, bleiben wir dabei: Mein Vater war ein umtriebiger Mensch. Und ein Liebhaber der Frauen, den auch die Frauen ihrerseits liebten. Bis er jeweils weiterzog. Vermutlich wollte er das gar nicht so sehr; es dürfte ihn eher gedrängt haben. Umgetrieben von den Trieben.
Erinnernd an den legendären französischen Chansonnier und bedeutenden Liedermacher Aristide Bruant (1851 – 1925), den wir besonders gut vom berühmten Plakat des Henri de Toulouse-Lautrec (1864 – 1901) her zu kennen glauben („Aristide Bruant: dans son cabaret“ von 1893), erinnernd also an diesen großen Pariser Komödianten, Kabarettsänger und Nachtklubbesitzer sowie an sein populäres Lied „Belleville – Ménilmontant“, möchte ich zitieren: „Papa c‘ était un lapin / Qui s’app’lait J.-B. Chopin …“ Ja, wenn mein Vater, der unruhige Uhrmacher aus der Oststeiermark, auch keinen roten Schal um den Hals hatte und keinen weiten schwarzen Mantel und keinen Schlapphut wie Bruant trug, er war ein flotter Hecht und hieß Chopin zu recht …, wie es das (übrigens: durchaus sozialkritische) Chanson so farbenreich und eindringlich schildert. (Man google ruhig im Internet danach!)
Nun, die Frauen finden, wie man weiß, an allem möglichen Männlichen Gefallen. (Oder an allem Möglichen, was sie für männlich halten …) Vielleicht graut ihnen ja auch bloß so sehr vor dem Mann an sich, dass sie vorsichtshalber mit Teilen des Männlichen, sozusagen mit Surrogaten, vorlieb nehmen. Sicher ist sicher.
Oder sie greifen überhaupt zu weitgehend ungefährlichen Relikten, abgenutzten Requisiten und sonstigen reichlich schalen Symbolen; halten sich an schwarze Mäntel, an tief in die Augen gezogene Schlapphüte und an feuerrote Schals; delektieren sich an Abgelegtem und Zurückgelassenem; betrauern womöglich unter Umständen ihr Los als vertane Chance, indem sie den ihnen angehängten Kindern zärtlich durchs wuschelige (oder glatte) Haar streichen …
Immerhin, ganz Mutige aus der Damenriege lassen sich weiterhin betören – allein schon durch angeblich so charmantes, aber auch durch total brutales Auftreten. Und das nicht selten sogar, wenn es sich dabei um, im Grunde genommen, wenig attraktive Typen à la Henri Désiré Landru (1869 – 1922) dreht, diesen legendären Heiratsschwindler und Frauenmörder.
Oder um einen (zugegeben, recht gewandt auftretenden) sogenannten Häfenpoeten wie den – als Schriftsteller übrigens eher schmalbrüstigen – Wiener Jack Unterweger (1950 – 1994). Nachdem der nach schwerer Kindheit in jungen Jahren schon mal eine Nutte umgebracht hatte und dafür eingesperrt, schließlich jedoch auf Intervention diverser österreichischer Prominenter und Intellektueller frühzeitig aus der Haft entlassen worden war, wurde Unterweger, wie vielleicht noch erinnerlich, rasch zum ausgesprochenen Liebkind der sogenannten Gesellschaft; wobei besonders die Damenwelt bei seinem Erscheinen regelmäßig ausflippte und auf durchaus exzessive Weise für den in der Regel überaus elegant auftretenden Ex-Knastbruder und nun zum Schriftsteller Avancierten schwärmte.
Später wurde Jack Unterweger in einem aufsehenerregenden Prozess (allerdings lediglich auf Grund von Indizienbeweisen) des erneuten Mordes an mehreren Prostituierten überführt und auch verurteilt. Er, der bis zuletzt seine Täterschaft geleugnet hatte, beging noch am Tag der Urteilsverkündung in seiner Zelle in der Justizanstalt Karlau in Graz Selbstmord, indem er sich mittels Gummizugs seiner Trainingshose erhängte … (Dazu mehr: in Norbert Borrmanns „Lexikon des Verbrechens“, Berlin 2005.)
Nein, so war mein Vater nicht. Aber Uhrmacher. Und unruhig.
Das schon.
Zwei
Der Staat, dieser feige, halb-anonyme Henkersknecht, blutgierig, bigott und scheinheilig, in seinen Forderungen maßlos, von Neid förmlich zerfressen und keine Grenzen der Unterdrückung kennend (schon gar nicht die des guten Geschmacks – was immer das auch sei), der Staat konnte mir schon längst gestohlen bleiben. Wo immer ich mich auch befand (und ich befand mich, weiß Gott!, bald wo …), man wollte etwas von mir: Steuern Abgaben Zins Zinseszins Ablösen Strafen Vorauszahlungen Nachzahlungen Abschlagszahlungen Zehente Robot Leibrenten Schmiergelder Abgeltungen Sicherheiten Geld Geld Geld …
Ich hätte keines? – Dann erachte man es zumindest als nötig, dass ich meinen wahren Namen und alle meine Pseudonyme bekannt gäbe. Für alle Fälle. Und meine diversen Nummern und Aktenzahlen: Geburtsurkundenziffern Matrikelnummern Immatrikulationen sowie Exmatrikulationen Kontonummern Kranken- und Sozialversicherungen Kundennummern Abonnentennummern Rechnungsnummer Auftragsnummern IBAN BIC Passwörter …
Als ob sich mit dem ganzen Plunder überhaupt irgendetwas Besonderes anfangen ließe – bei einem, der quasi nicht anwesend war, der nichts Nennenswertes besaß und nicht einmal über besondere Aussichten verfügte …
Und warum das alles, bitte sehr?
Nun, der Staat tat, was er tat, entweder aus Berechnung heraus oder aus Dummheit. Und es war gar so nicht leicht zu sagen, was davon schwerer wog. Und was sich unangenehmer anfühlte. Mehr Wunden schlug. Bedeutendere Verletzungen hinterließ. Mehr Ungemach schuf. Ganz allgemein: gemeiner war. Unerträglicher und den Wahnsinn fördernder.
Tat der nimmersatte Staat etwas aus purer Berechnung heraus, so traf es die Bürger und machte sie zu – Betroffenen.
Geschah es bloß aus Dummheit, waren die Folgen kaum weniger schlimm.
Blut musste fließen, auf jeden Fall. Blut. Viel Blut. Und Geld. Möglichst viel Geld.
Der Staat, dieser blutegelige Berserker, diese überaus aktive Zapfsäule – Zapfsäule, quasi in die andere Richtung, als man es gewohnt war: nicht gebend, sondern nehmend -, der Staat mit seinen ständig saugenden Schläuchen und Kontra-Kanülen, ein Vampir schlechthin und lichtscheuer Nachtbluttrinker, der Staat also, der sich die meiste Zeit erfolgreich hinter dem angeblichen Recht und dem Abklatsch desselben, nämlich den blutleeren (!) Gesetzen, zu verstecken suchte, fand immer neue, immer noch schlauere, noch lukrativere Wege, über die Staatsbürger, sein Blutvolk sozusagen, mit all der eisernen Strenge seiner (durch jahrhundertelange Tradition darauf spezialisierten) Organe zu herrschen und zu regieren.
Ja, es ging darum, die Bürger auszupressen, auszusaugen und ausbluten zu lassen. Sie zu entkernen. Sie zu versklaven oder sie zumindest zu erniedrigen auf irgendeine obskure Weise. Zuletzt dann: Sie zu töten, weil eben alles mal ein Ende haben müsse. Also auch das Blut des Einzelnen. Und nur das Blut aller solle ewig weiterrauschen! Bis ins letzte mickrigste Glied! (Keine Sorge, an solchen und ähnlichen Gliedern herrschte kaum jemals wirklich Mangel! Dank der Nachfrage!)
Das Blut. Es rauschte und wogte und schlug gegen die Innenwände der längst ausgeleierten und auf bizarrste Art deformierten Adern. Schlag auf Schlag umfloss und umtoste es alles, belieferte Arterien und Venen (oder eben auch nicht …), schoss in Kapillaren und erweiterte ohnedies schon zu enge Hohlräume in tödlicher Gier. Gier des Blutes nach Blut. Nach noch mehr Blut. Immer mehr …, immer noch mehr …
Egal ob monarchistisch oder feudal, ob oligarchisch, plutokratisch oder Partei-diktatorisch, pseudo-demokratisch oder gar Kirchen-gelenkt: Dieser Staat verfügte stets über das erste und das letzte Wort. Dieser Staat hatte das Sagen.
Alpha und Omega gehörten ihm.
Der Staat glich einer Riesenspinne.
Er umspannte, verzurrte und umnetzte seine Bürger mit einem Geflecht von giftigem Spinnenseim. Er nannte dieses fragwürdige Konstrukt zynisch: sozial. Und er schuf sich mit der Zeit wahre Vorratskammern und Speicher, die für Ewigkeiten schier vorhalten würden. Vorratskammern und Speicher, die angefüllt waren bis zum Rand mit jammervollen hohlen Gestalten. Ausgesaugt und ausgetrunken, blutleer, ja: entblutet. Groteske Gestalten von bizarrem, obskur-lächerlichem, makabrem und widernatürlich deformiertem Aussehen, deren Grimassen, eingebrannt förmlich in die im Tod erstarrten Leidenszüge ihrer gepeinigten Antlitze, nichts anderes ausdrückten als Erniedrigung Entmachtung Vernichtung Vernullung Auslöschung Nichtswerdung.
Ja, endgültige Nichtswerdung.
Da hingen wir, ausgesaugt, blutleer und ausgebrannt. Leere, inhaltslose Hülsen. Entmenscht längst schon, entgeistert sogar – und entseelt zuletzt.
Skurrile Totenmasken, fürwahr irgendwie neckisches Spielzeug für die Neu-Säuglinge; für die also, die nunmehr ausgesaugt werden sollten.
Niedlich sahen die aus. Unschuldig und feist. Speckig noch und wülstig. Noch ungelenk und unverbraucht. Hoffnungsvoll womöglich. Immerhin: schweinchenrosig. Und wenn sie sich brav ausschlürfen ließen, wurde ihnen scheinheilig versprochen, dann dürften sie mit uns spielen. (Denn für irgendwas sollten schließlich auch wir alten leeren Säcke noch taugen.)
Mit ein wenig Bangigkeit wohl in den großen überraschten Kinderaugen würden sie uns schubsen und stubsen, die Neu-Säuglinge. Anstoßen, mit aller Kraft, deren ihre kleinen Ärmchen überhaupt nur fähig wären, die fettwülstig-feisten. Ja, mit ein wenig Bangigkeit wohl und mit merkbarem Erstaunen, wenn nicht gar ängstlich: Als gelte es, den ersten Löffel Chop Suey zu kosten, wenn man just nicht aus dem Reich der Mitte stammte.
Süßsaurer Schauer schien sie zu überkommen, die Staatssäuglinge, wenn sie mit uns leeren Bürgerhülsen spielten, wenn sie unsere Hohlheit leise im Windhauch hin und her bewegten wie haarig umsponnene, traurige und klanglos gewordene Mobiles.
Kein Kinderlächeln.
*
Hier, auf dieser Insel, schien es erträglich.
Aber auch nur weil es weit und breit keine Post, keine Polizei und keine Medizin gab, keine Ämter, keine Advokaten und keine Kfz-Werkstätten. Nicht einmal Fernsehen und Rundfunk, Internet und Mobiltelefonie.
Man lebte wie in einer Farbpfütze auf einer riesigen Palette, knapp vor der Bildwerdung, die Auslöschung und Erfüllung in einem zu werden versprach.
Und hätte es nicht auch noch Primula Veris, die angeblich so begabte Malerin gegeben, die in Wahrheit Hertha Schisstoifl hieß, sich indes den blumigen Namen als Pseudonym ihrer dunklen Triebe zugelegt hatte, es hätte Ewigkeiten so bleiben können. Ewigkeiten.
Doch die teuflische Schisstoifl nahte sich, so sehr man sich auch vorsah (oder womöglich in Sicherheit wiegte), wie ein überdimensionierter Pinsel und sog einen, der man gerade mal wieder ganz entspannte Farbpfütze war, gnadenlos in ihr diktatorisches Haarbüschel.
Strich für Strich.
Drei
„Einer der größen Exzentriker manieristischer Kunst war der in Spanien lebende Maler El Greco“, schreibt Gérard du Ry van Beest Holle in seiner „Kunstgeschichte“ (Erlangen 1988). Sie merken, ich muss doch noch einmal auf meinen Quasi-Namensvetter zurückkommen. „Seine Figuren sind ekstatisch bewegt wie vom Zwang epileptischer Anfälle, und die Farben der Gewänder fluoreszieren geisterhaft im flackernden Licht, das er selten als realistische Beleuchtung, sondern meistens als irreales Leuchten darstellt.“ Et cetera, et cetera.
Ach ja: „Im Gegensatz zur Renaissance malt er, als typischer Manierist und damit anknüpfend an mittelalterliche Traditionen, das Wunder als einen mit rationalen Mitteln nicht erfahrbaren Vorgang.“ Und so weiter, und sofort.
El Grecos Ikonographie in Ehren, und auch Herrn Holles Darlegungen, aber – mein verehrter Namensvetter war nun einmal Grieche. Und er war Wahl-Spanier. Und er war – ruhelos. Ein unruhiger Geist also.
Ja, die Unruhe in persona.
Ich sage das, obwohl ich, die blasse Olive hamburgischer, oststeirischer und Czernowitzer Abstammung, mich mit diesem großen Maler niemals vergleichen oder gar messen könnte oder dürfte. Und auch nicht wollte.
Ich sage das mit allem mir notwendig erscheinenden Respekt, zu dem ich nur irgendwie fähig bin. (Und zu dem mich nicht zuletzt aller Abscheu anstachelt, Abscheu angesichts der inferioren Hertha Schisstoifl alias Primula Veris, dieser Haarbüschel-gewordenen Afterkünstlerin und Pinselvergewaltigerin, dieser obszönen Hexe, dieses Abschaums aller Leinwandartistik!)
Ansonsten kann mir naturgemäß auch El Greco, der gute alte Manierist, gestohlen bleiben. Wie selbstredend Kollege Francis Bacon (geboren 1909 in Dublin, gestorben 1992 in Madrid) mit seinen nicht minder manieristisch anmutenden, böse glotzenden, in surrealen Raumkäfigen gefangenen, grässlich deformierten Menschen, diesen nicht selten ebenfalls klerikal verwurzelten Beschädigungs-Absurditäten in seiner Nachfolge. Kaputte Kardinäle und andere devastierte Kuttenträger und und mehrstufig behütete Soutanisten.
Doch Respekt auch ihm. Respekt allen – außer Primula, diesem haarigen Scheusal.
*
Wie bin ich nur auf dieses Eiland gekommen? Wie der schiffbrüchige Robinson Crusoe, diese Literaturfigur Daniel Defoes (1660 – 1731), gestrandet und verloren gegangen? Einsam bis ins Delirium hinein (indes: ganz ohne Fusel und ziellosen Katzensprung!), mir am Donnerstag einen Freitag halluzinierend vor schlottriger Angst? Oder – insgeheim zumindest (und als Freudsche Fehlleistung getarnt) – ein wackerer Kultur-Aussteiger? Bewusster Verweigerer des auch bloß das Erbrechen fördernden Luxus‘ und eines schier globalen Ekels, einer seltsamen und heimtückischen Art von Kultur-Bulimie, wie sie besonders westliche Großstädte in ihrem Würgegriff haben? Und eben diese, im Italienischen so treffend la noia genannte Langeweile, die durchaus die Ausmaße, wie von Alberto Moravia (1907 – 1990) in seinen Rom-Erzählungen und -Romanen aus der Mitte des 20. Jahrhunderts geschildert, annehmen können, sie hätten mich also gepackt?
Nein, verkehrt herum wird es ein Schuh. Die enorme Antipathie ist es, die wie ein verhängnisvoll wirkender Magnet zwischen mir und dieser hinterfotzigen Pseudo-Malerin Primula Veris alias Hertha Schisstoifl herrscht! Sie (die Antipathie) hat mich hierher ge- (besser: ent-)führt! Und sie (die Schisstoifl), dieses Teufel gewordene Haarbüschel trägt die Schuld an aller Unbill! Und ihre mysteriöse Anziehung – diese Anziehung durch Abscheu und Angst!
Jetzt sitze ich, hingepatz, da. Wie bestellt und nicht abgeholt. Ein waghalsiger Farbton, angesiedelt zwischen fettem Ocker, erdiger Siena und schon ziemlich traniger Umbra mit leichten Anspielungen oder Erinnerungen an grünbraune Olive und vornehm tuendes Anthrazit. Scheußlich. (Bloß Zitronengelb fehlte noch!)
Kurze Gnadenfristen. Bis sie sich wieder naht, die Unholdin mit dem Wuschelpinsel. Zum scheußlichen Akt der widerlichen Vereinigung mit der grundierten Leinwand. Kleine Spatien bleiben mir nur; Verschnaufpausen im Schatten der drohenden Richtstätte. Behaglich wohl nur in Maßen und, was die Gemütlichkeit angeht, vergleichbar der, wie sie direkt unter dem Schwert des Damokles herrschen mag. Oder zwischen Einnahme und Verdauung der guten alten Henkersmahlzeit.
Aber – wie ist denn eigentlich sie, diese in der Tat so unrühmliche Hertha Schisstoifl, dieser Antichrist unter den Abbildnerinnen und Abbildnern, hierher, in die Ägäis, gelangt? – Richtig, durch einen der vielen unnötigen Sommerkurse, den meist genauso unnötige Malerinnen und Maler Jahr für Jahr im ach so malerischen Süden anbieten. Sie tun das vorgeblich, um die (noch) brachliegende Kreativität und den künstlerischen Ausdruck begabter Laien, höchst animierter Amateure und grosso modo zur Ekstase fähiger Dilettanten endlich wachzuküssen! Hätte der doch – ach, so lange schon! – insgeheim und ungeäußert vor sich hin geschlummert, freilich, der Erweckung harrend und der Entdeckung längst würdig und wert …
Diese, ach, ach!, so wertvolle Kreativität endlich hervorzukitzeln, anzuregen, zu pflegen und zu schulen, das empfanden sie, die Lehrer, Professoren und Schulungsleiter (selbstlos, ach, ach!, wie sie nun einmal waren), als ihre Aufgabe und wahre Berufung.
In Wahrheit ermöglichten ihnen die großspurig Seminare genannten Ferienwochen, um die es dabei letztlich ging, ihren ohnedies bloß schmal bemessenen Lebensunterhalt das Jahr über; in Wahrheit hielten sie die – de facto letztlich meist fruchtlosen – Erweckungsversuche maroder Talente dabei einigermaßen über Wasser und schützen sie die restliche Zeit hindurch so vor dem Verhungern und Verdursten.
Denn von ihrer kreativen Eigenproduktion, also von dem, was die Vortragenden und Einführenden selbst so künstlerisch absonderten und ablieferten, von diesem meist unbrauchbaren und alles andere als sich zum Verkauf aufdrängenden Werk, hätten sie ja kaum leben können. (Es sei denn, sie waren nebenbei tatsächlich auch noch Kunstlehrer oder gar Professoren an Volkshochschulen und ähnlichen Institutionen.)
Hier, wo die Sonne noch dazu gratis flirrt und dabei angeblich zu allem Überfluss auch noch die Farben verzaubert, überhöht und ver-unwirklicht, hier machen sie nun das, was sie daheim auch nicht besser könnten, wenn es um die Bemalung neuer Möbel mit angeblich alten Bauernmotiven geht oder um Schnellsiedekurse in Aquarellistik, Batik oder Linolschnitt.
So sei, heißt es, allen geholfen: den frustierten Hausfrauen, gescheiterten Bankern, ganz allgemein vom Verlust des Lebenssinns gezeichneten Vertretern in Sachen Unterwäsche und desillusionierten BILLA-Filialleitern auf der einen, den meist namen- und bedeutungslosen Kunstvermittlern und künstlerischen Flachwichsern auf der anderen Seite.
Zudem lässt es sich auf den hübschen Inselchen angenehm leben in Ruhe (schierer Kontemplation), bei Fleischspießchen, Tsatsiki, bei Ouzo und Retsina. Und den Insulanern bringt es auch ein wenig Geld. Zudem erleiden sie durch die fragwürdige und meist wenig fundierte Kunstvermittlung keinerlei nachweisbaren Schaden.
Für die daran beteiligten internationalen Reisebüros und Agenturen repräsentiert das Ganze allemal eine Win Win-Situation. (Solange bloß kein Tsunami kommt oder die nächste selbstverschuldete Banken-, Börsen- oder Weltwirtschaftskrise die ganze EU am Ende doch noch zum Implodieren bringt.)
Ja, und ein gewisser Prof. Willibald Weidenstroh leitete besagten Kurs für angehende, Griechenland-affine Amateur-Aquarellisten, an dem sich auch die wackere Hausfrau Hertha Schisstoifl (spätere Primula Veris) mit unerhörter Leidenschaft beteiligte. Und sie hatte ihr Kursgeld gut angelegt. War es doch ein Urlaub mit ungeahnten Folgen.
Erst umgarnte sie den klapprigen, alten Professor gezielt. Und obwohl ihre Reize knapp als enden wollend zu beschreiben wären, wenn man sie überhaupt beschreiben mochte, hatte sie ihren Willi bald fest im Griff. Nachdem sie alsbald und glücklich den senilen Weidenstroh durch ihre erstaunlich wilden Liebesspiele dahingerafft hatte, nahm sie quasi übergangs- wie fugenlos seine Rolle als klecksender spiritus rector auf der hübschen Insel ein und müllte hinfort gemeinsam mit ihren – meist, wenn überhaupt, dann bloß rudimentär begabten – Gruppen von bunt zusammengewürfelten Seminaristinnen und Seminaristen Sommer für Sommer alles zu, was sich dafür auch nur im Entferntesten anbot.
Frau Primula führte ein strenges Regiment.
Bild um Bild entstand und sah seinen Vorgängern zum Verwechseln ähnlich – wie auch seinen Nachfolgern. Es waren nicht nur die peinlichen Sehnsüchte traumatisierter Burn-Out-Patienten sowie verhinderter Rembrandts, Rubens und Picassos, sondern vielmehr die angstvoll auf Gängiges schielenden Beweise, wozu weitgehende Talent-Freiheit einen doch noch bringen konnte.
Für die Unbedarftheit an Begabung war Hertha Schisstoifl übrigens die beste eigene Werbe-Ikone: ein anti-künstlerisches Testimonial schlechthin.
Man liebte Primula. Man fürchtete sie. Man war ihr hörig.
Ich hasste dieses haarwuschelige Ungeheuer aus tiefster Seele heraus und wünschte es, was weiß ich, wohin. Auf irgendeine Insel! Weg, ganz weit weg jedenfalls!
Auf irgendeine Insel? Nein! Auf eine andere Insel, natürlich!
Wie gesagt: Möglichst weit weg von hier. Weg von mir.
Alle Katzensprünge dieser Welt entfernt von mir und meinem insulanischen Leidenszustand. Dessen niederschmetterndes Ausmaß nun einmal bedingt war durch sie, durch diese obskure Hertha Schisstoifl.
Denn mit diesem Zustand an sich, dessen war ich mir bewusst, könnte ich schon irgendwie zurechtkommen. (Man gewöhnt sich doch an fast alles im Leben …)
Ob manieristisch wie El Greco oder von Langeweile gepeinigt wie Moravia, ob klerikal deformiert oder heilig überhöht. Ob schlotternd vor Höllenangst oder sich apathisch in mein Schicksal fügend und das unter den obwaltenden Umständen immer noch Beste daraus machend – das war mehr oder weniger egal. Nur: Sie musste weg! Primula musste verschwinden! Ein Leben ohne diesen Quälgeist hätte, für sich genommen, schon wieder Qualität … Aber so, wie es war, schien alles für nichts, vergeblich und trist.
Doch diese Schisstoifl hatte mich in ihren Klauen wie eine böse, spitzschnäbelige Chimäre, wie ein scharfkralliger Greif oder ein scheußlicher Basilisk. Und gebannt hatte sie mich, gebannt in ihren Kreis hinein; und solcherart verwandelt in einen halbzerronnenen Farbfleck, einen in Acryl gehaltenen, angesiedelt zwischen den wenig schmeichelhaften Tönen Ocker, Siena, Olive, Umbra und Anthrazit.
Nie war Schmincke-Acryl hinterhältiger gewesen. Freilich: auch nie noch feiner.
Und zugleich: gefährlicher.
*
Ganz allgemein ist die Kunst ein gefährliches Gebiet.
Dabei liegt die Heimtücke des Objekts weniger in den Unwägbarkeiten rundherum verborgen; und auch nicht die Umwelt ist an allem schuld in ihrer sich größtenteils in Ignoranz und Arroganz äußernden Haltung den Kreativen und ihren – zugegeben: oft ziemlich – speziellen Tätigkeiten und Hervorbringungen gegenüber. Egal übrigens, ob es sich um Schöpfertum auf dem Gebiet der bildenden Kunst handelt, ob es um die in aller Regel auch nicht gerade unsensiblen Regionen der Musik geht oder um das weite Terrain der Literatur.
Nein, die Heimtücke liegt nicht zuletzt in den Künstlern selbst. Das können die selbst-schaffenden, quasi: die wahren kreativen Macher sein; oder aber, auch nicht besonders angenehm, die wiedergebenden, die vollstreckenden Artisten.
Erstaunlicherweise findet sich gerade hier sehr oft die wahre Crux; nämlich bei den re-kreativen Künstlerinnen und Künstlern. Bei denen, die eigentlich (bloß) Vermittler sein sollten zwischen dem Erschaffenden und dem potentiellen Publikum. Die als Medium zu wirken hätten also für all das, was der Kreator eben erst erfunden, was er erschaffen, was er aus dem Nichts (oder aus dem Alles) geschöpft; was er durch Intuition, auch durch Geschick oder bewusste Wahl ausgesucht und solcherart in die Welt gesetzt hatte.
Doch sie wollen sich mit der – zugegeben – dienenden Rolle des Vermittlers nicht zufrieden geben. Sie blähen sich förmlich, den schillernd bunten, doch inhaltsleeren Seifenblasen gleich, den Zusehern und Zuhörern entgegen; sie prostituieren sich als von Bedeutung schwangere siebte Zwerge oder Lanzenträger, die sich indes als Hamlets und Fauste fühlen.
So wichtig der besagte siebte Zwerg oder der lange Lanzknecht in seiner Wortlosigkeit auch immer sein mag (oder die dritte Bratsche, der Goldrahmen, die Interpunktion), was auch niemand bestreiten will, so sollte er sich seiner Siebt-Zwergigkeit bewusst sein oder seines stummen Lanzenträgertums, seiner Funktion eben.
Denn jeder Part verfügt da, im Ganzen und Großen, über seine Bedeutung.
So gesehen gibt es – besonders auf dem Theater – tatsächlich keine unwichtigen Rollen. Und in der Literatur keine unnötigen Nebenpersonen; in der Musik keine Phrasen oder Nebenmotive, auf die man so ohne weiteres verzichten könnte; in der Malerei kein noch so mickrig scheinendes Detail, das nicht doch der Betrachtung wert wäre.
Doch die dauernde Aufblähung der Mini-Rolle zur Trägerin der Haupt- und Staatsaktion fällt als Lächerlichkeit zwar auf die Betreffenden, auf Gnom und Lurch, zurück, stört indes das Ganze empfindlich, indem sie die Atmosphäre vergiftet. Dieses penetrante „Seht her, da bin ich, und ich bin großartig!“ verärgert alle anderen – Beteiligte wie Zuseher und Zuhörer. Denn anstatt sich als Teil des gerade vorhin als Ganzes Beschriebenen zu fühlen, der seine fraglos notwendige Funktion zu erfüllen hat (und dem dafür Lob und Anerkennung gebühren!), spielen sich besonders solche Nullitäten oft auf, als hätten sie selbst alles geschaffen und auf die Beine gestellt; in Allgüte, Allwissenheit und Allmacht; Alles hingezaubert oder (wer weiß woher) hervorgeholt, was da nun zu bestaunen sei.
Sie sind zwar bloß am Rand bemerkbar – wie die Scheißespritzer in der zuvor noch so hygienisch sauberen Klosettmuschel -, doch stört ihre Attitüde alle anderen um Qualität und um das Gelingen des Ganzen, des Ganzen und Großen, Bemühten über jede Gebühr.
Ach, mögen sie doch ebenfalls die Insel verlassen.
Am besten gemeinsam mit Primula Veris alias Hertha Schisstoifl.
Vier
Kaum wird erhört der Flehende. Abprallt vielmehr sein Heischen an der kalten Wand des Desinteresses.
So oder so ähnlich könnte man wehklagen. (Literarisch womöglich noch, leicht blödsinnig schon, überhöht.)
Doch man lässt es.
Ich zumindest lasse es.
Mir genügt fürs Erste, dass die Schisstoifl sich mir seit zwei Tagen nicht mehr pinselig und haarbüschelhaft genähert hat. Zwei Tage, in denen ich, aus diesem Grund und solcherart verschont, mein bisheriges Leben (und das bisschen, was vielleicht noch kommen mag) zu überdenken Zeit und Muße hatte. Zeit und Muße! Herrlich!
(Obwohl ich freilich nie sicher sein kann, ob sie nicht doch plötzlich irgendwo – aus dem Nichts vielleicht – auftaucht, sich drohend vor mir aufbaut und meinen halbwegs angenehmen Überlegungen ein abruptes Ende bereitet. Durch den schier tödlichen Plan und seine Umsetzung: Ocker, Siena, Olive, Umbra, Anthrazit …)
Jetzt zumindest glänzt sie einmal durch Abwesenheit, diese Erinnye eigener Untaten, die sie, wie selbstverständlich, auf andere projiziert, um sie umso gnadenloser zu rächen. Diese in der Zwischenzeit recht firm gewordene Mischerin farblicher Gifte und Handhaberin des borstigen wie des glatten Pinsels zu tödlicher Kunstuntat unter dem so trügerisch hoffnungsvoll sich bläuenden griechischen Inselhimmel mit seiner brennend heißen Sonne und seinen harten, dunklen Schatten …
Welch herrliches Gefühl: Bisher zumindest ist sie ausgeblieben.
Sollten meine Wünsche endlich doch erhört worden sein? Und Hertha Schisstoifl bleibt aus, ein für alle Mal?!
Und – wenn ja, dann: von wem wurde mein stummes Flehen erhört?! Wer hat sich meiner erbarmt?!
Neue Fragen. Ständig neue Fragen. Auch wenn sie weg ist, Primula Veris. Diese Verführerin mit dem borstigen Haarbüschelpinsel.
Immerhin, leichter womöglich sind sie zu beantworten, die Fragen, die bohrenden, ohne Schisstoifl. (Wie ganz einfach alles leichter fällt ohne sie.)
Ja, wenn die Probleme überhaupt zu lösen sind, dann in ihrer Abwesenheit. In der Abwesenheit ihrer Wesenheit, sozusagen. (Ich spiele wieder Wort! Es geht mir besser!)
Also: Dum spiro spero.
*
„Er ging schnell dem kleinen Gewässer entlang, das plätscherte, murrte, sprudelte und sich unter einer Wölbung von Weiden über sein begrastes Bett schlängelte. Die großen Steine, die den Lauf hemmten, waren von Wasserwirbeln umrundet, Krawatten gleich, die in einem Knoten von Schaum endeten. Gelegentlich waren es Wasserfälle von einem Fuß Höhe, die, häufig unsichtbar, unter den Blättern, unter den Schlingpflanzen, unter einem grünen Dach zornig oder maßvoll lärmten; und dann, ein wenig weiter, wo die Böschungen zurücktraten, stieß man auf einen friedlichen kleinen See, in dessen grüner Mähne, wie sie sich auf dem Grund stiller Bäche wiegt, Forellen schwammen.“
Eine schöne Beschreibung. Wie auch anders, ist sie doch von einem Meister des Worts, von Guy de Maupassant. Sie stammt aus seiner Novelle „Die kleine Rocque“ (in: „Fünfzig Novellen“, Zürich/München 1993), und der Er des Anfangs ist der Briefträger Médéric Rompel, „den die Leute in der Gegend vertraulich Médéri nannten“. Er führt gleichsam durch die traurige Geschichte von der vergewaltigten und ermordeten zwölfjährigen Rocque, ebnet dem Erzählfluss den Anfang und bereitet letztlich die erstaunliche Pointe vor. Denn kein fremder Strauchdieb und auch keiner aus dem Dorf selbst, den man zur Gruppe der üblichen Verdächtigen hätte zählen können, ist der Ruchlose: Der als so ehrenwert, streng und aufbrausend (ja: jähzornig und gewalttätig) geltende Bürgermeister, der hochgeachtete, beinahe unumschränkte Herrscher über sein Dorf Carvelin, dieser Halbgott namens Renardet, er entpuppt sich als der gleich fieberhaft wie erfolglos gesuchte Unhold, der Kinderschänder und Mörder. Und er stürzt sich zuletzt, halb schon wahnsinnig und im Bewusstsein der Ausweglosigkeit seiner Situation, von den Bildern des toten nackten Kindes verfolgt, von einem alten Turm aus, der neben dem Fluss auf einem Felsen thront, in den Tod.
„Die Brindille umspülte“, schließt Maupassants Meisternovelle, „diesen Felsen, und auf ihrem an dieser Stelle geweiteten, klaren, ruhigen Wasser sah man einen langen, rosafarbenen Streifen, darin sich Hirn und Blut mischten.“
Der entehrte Mörder, der Kindesschänder und Unhold, hat sich selbst gerichtet.
Doch der Turm, von dem er gesprungen ist, steht weiterhin weithin sichtbar da; und der Fels, der ihn zermalmt hat, ragt weiterhin hoch auf; und der Fluss, in den er sich gestürzt hat, fließt weiterhin, als wenn nichts geschehen wäre.
Alles um ihn ist, so scheint es, unbeeindruckt von den menschlichen Tragödien.
Ja, ja, die Beschreibungen. Beschreibungen sind die Landschaftsmalerei der Literatur. Oder die durchkomponierte Alpensymphonie auf Notenpapier statt auf Leinwand, wenn wir auch zur musikalischen Nachbarschaft hin schielen.
Die bildnerische Wiedergabe der uns umgebenden Natur (bis hin zur mehr oder minder raffinierten Fotografie) verströmt immer wieder, wenn sie stimmig ist und echt, wahrhaftig also und Kunst, unerhörten Reiz, dem sich der Betrachter kaum zu entziehen vermag.
Eine Faszination wirkt da, die verzaubert – wie ein Hauch von Parfum oder eine Brise von Rindsuppe. Stärker oft als das Porträt, das Blumenstück oder gar das Stillleben, diese nicht selten satirisch gemeinten oder aber (und noch schlimmer): unfreiwillig komischen Abwandlungen, diese Parodien des Natürlichen; diese vergleichsweise aufgesetzt wirkenden Arrangements, deren Echtheit just in ihrer Unechtheit begründet zu sein scheint. Deren Hinterhältigkeit allemal auf den Betrachter als Entschlüssler (oder dummen Zur-Kenntnis-Nehmer) zurückfallen wird; die nicht selten lächerlich wirken, weil entweder das Abgebildete – etwa angeblich bedeutende Menschen – in Wahrheit lachhaft ist, oder aber die Gruppierungen der Nichtigkeiten bestenfalls drollig aussehen, ansonsten jedoch unnötiger Mumpitz sind …
Auf die Spitze der Geschmacklosigkeit getrieben zum Beispiel in monumentalen Jagd- und Schlachtengemälden, die – meist zwar handwerklich optimal gelungen! – von der Komposition her und dramaturgisch indes den rund-glänzenden Pferdearsch dem Antlitz des siegreichen Prinzen Eugen (oder dem des Alexander et cetera) gleichsetzen, wenn nicht sogar vorziehen; und ansonsten hauptsächlich vom Kontrast zwischen hell und dunkel, blutig und unversehrt, farbstark und kühl, glänzend und abschattiert leben. Nach der Schablone des x mal gesehenen, längst schon zum Allgemeingut der Erinnerung verkommenen Gewohnheitsbildes abgemalte Kopie der Kopie. Vom Inhalt her weitgehend wertlos, leider, trotz aller um Wirkung wissender Meisterschaft in der sorgfältigen Fabrikation.
Die Landschaft dagegen, egal, ob nun literarisch geschildert, musikalisch dargestellt (was eher seltener der Fall sein mag) oder eben bildnerisch, sie bleibt – wenn sie gut gemacht ist, wovon wir ausgehen wollen – weitgehend sie selbst. Ins Bild hinein gerettete Natur. Nicht ins Viereck (oder Oval) des Rahmens gezwungenes Stück, sondern vielmehr Ausschnitt, der das Ganze repräsentiert und für es steht in überzeugender Art und Weise.
Ein Teil zwar nur, aber einer, an dem sich das große Ganze exemplifiziert.
Fünf
Noch ein Wort über meinen Vater, den zur Unruhe gewordenen Uhrmacher. Oder besser: ein paar Sätze. Immerhin, einen Versuch, ihm ein bisschen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sollte ich doch wohl unternehmen; auch wenn es schwer fällt nach all dem, was ich über ihn und sein interfamiliäres Verhalten so in Erfahrung gebracht habe. Frage nicht …
„Dein Vater ist der Krieg aller Dinge“, pflegte Onkel Theobald, ein Bruder meiner Mutter und Historiker von Beruf, zu sagen, kam die Rede (was allerdings nur sehr selten geschah) auf meinen damals längst verschollenen, vielleicht sogar schon verstorbenen alten Herrn.
„Er und seine Unruhe …“, seufzte, beipflichtend, dann stets Tante Agathe. Dann nippte sie, ein wenig verlegen hüstelnd, an ihrem Gläschen Eierlikör (der Marke Spitz).
„Ach ja …“, sagte meine Mutter dann meist, ein wenig zerstreut.
Ach?, dachte ich fragend. Und ging in den Garten (oder in die Dünen, auf eine Eisscholle oder Wasauchimmer), um an meinem Schneemann (oder -) weiterzubauen.
Sie waren unersprießlich. Nicht nur Theobald, der selbsternannte Privatgelehrte und früh aus dem Schuldienst geschiedene, nervlich ziemlich bediente Pädagoge, und seine dumm-putige Ehefrau, diese Geheim-Schnapsdrossel und spitzmündige Moralistin Agathe, dieses Relikt aus (allem Anschein nach) besseren Zeiten, das sich als einzigen Reiz den Hustenreiz hinüber hatte retten können ins Altenteil.
Ich verstand zwar die Anspielung auf den Heraklit zugesprochenen Gedankengang, der angeblich in engem Zusammenhang mit dessen berühmten Panta rhei zu sehen sei, wie es hieß, längst noch nicht. Und auch, dass alles fließe (außer dem Eierlikör meiner Mutter, nämlich in den Schlund der überflüssigen Tante), war mir herzlich egal. Sollte doch der Krieg der Vater aller Dinge und mein Vater der Krieg aller Dinge sein, wenn schon! Fest stand, dass Vater, mein angeblich so unruhiger Vater, nach Hamburg-Griechenland aufgehört hatte, im Verbund mit meiner Mutter und mir zu verweilen. Griechenland-Spanien geschah, wie eingangs ausgeführt, schon ohne ihn; und auch die übrige Herumzieherei absolvierten meine Mutter und ich ohne ihn.
Obwohl ich ihn mitunter gebraucht hätte. Sehr sogar.
Nicht dass er mir zu etwas rate (oder von etwas abrate), wäre für mich von beinahe elementarer Bedeutung gewesen; und auch ums Austauschen, wie man Jahrzehnte später und in modischer Anlehnung an das dumme Psychologen-Gewäsch gern sagte (ähnlich wie, dass man sich einbringen möge, bevor man dann ans Verwirklichen schreite, et cetera), ging es mir. Nein, ganz allgemein hätte ich eben auch eines Vaters bedurft, und wäre es vielleicht nur eine Art Vaterfigur gewesen, ein besserer Popanz also, der – mal liebevoll, mal ganz Establishment-arschig – mit mir ein paar Fragen durchging. Oder auch nicht. Immerhin aber vorhanden gewesen wäre …
Doch wo andere einen Vater hatten (Vati, Papa, Paps et cetera), tat sich bei mir ein familiäres Vakuum auf. Da war nichts. Absolut nichts.
Butter ist durch nichts zu ersetzen, lautete irgendwann in den 1960ern ein Werbeslogan. Also war Nichts das Äquivalent für Butter.
Doch was, bitte, war die Entsprechung für meinen nicht-vorhandenen Herrn Papa?!
Da war nichts. Der alte El Greco fehlte. Zumindest mir.
Meine Mutter sah das vielleicht anders. Deshalb auch die oben schon einmal erwähnten Onkels. Doch die halfen mir nicht weiter. (Im Nachhinein resümiert: Darüber durfte ich wohl sogar noch froh sein, denn man hörte da von anderen Mitschülern, Kollegen oder Kommilitonen, so einiges … Also lieber keine fürsorglichen Fast-Väter und Reserve-Papas, die ihre dreckigen Finger womöglich überall hatten! Und ihre schwarzen Gedanken!)
Immerhin, die meisten von Mutters Freunden ignorierten mich in aller Freundlichkeit. Und wären sie handgreiflich geworden, hätte ihnen ohnedies meine Frau Mama den Garaus gemacht. (Zumindest hätte sie ihnen gezeigt, wo der Bartl den Most holt.)
Seltsamer Weise schien sich kaum einer der Onkels um mich und meinen weiteren Werdegang zu kümmern. Und das mag mir auf mancherlei Art sogar zum Vorteil gereicht haben; lernte ich doch bei Zeiten schon, mich, allein auf mich gestellt, durchzuschlagen, wenn es sein sollte. Und es sollte.
Übrigens: Mit dem blöden Heraklit-Ausspruch vom Krieg als Vater aller Dinge wollte der saudumme Onkel Theobald ja auch nur seine angebliche Bildung unter Beweis stellen. Dass es ihm nicht gelang und er solcherart bloß seine Dummheit weiter konturiert hat, sodass sie nun nur noch deutlicher sichtbar wurde, fiel mir damals aus verständlichen Gründen überhaupt nicht weiter auf. Heute freilich weiß ich es. (So wie ich auch den Zusammenhang zwischen dem Spitz-Eierlikör und Tante Agathes eigenartigem Benehmen damals längst noch nicht so recht ausmachen und schon gar nicht bewerten konnte. Sie hüstelte sich ohnedies weitgehend sinnlos durchs Leben, so viel hatte ich auch zu dieser Zeit schon mitgekriegt. Ja, das schon.
Aber sonst?!
Außerdem, wie hätte ein beinahe nie, dann gar nicht mehr anwesender Vater der Krieg aller Dinge (oder umgekehrt) sein sollen? Und wenn er es, angenommen, gewesen wäre: Wie hätte man es von außen feststellen können?!
Fragen über Fragen.
Kurz: Mir fehlte mein Vater. Und, da ich früh gelernt hatte, ihn quasi zu ersetzen – durch Phantasie, Kunst, Hirngespinste … -, gab ich mich bereitwillig mit diesen von mir aus mir heraus geschaffenen Vater-Surrogaten zufrieden. Ja, ich fragte mich sogar des öfteren, ob ich es nicht besser hätte, gesegnet mit meinen so vielschichtigen und mannigfaltigen Phantasie-Vätern als mancher meiner Mitschüler, die nicht selten von väterlichen Schlägen gezeichnet in die Schule kamen, die Rowdys als Papas hatten oder Knallköpfe, Säufer und Hurenböcke, korrupte Kummunalpolitiker und dickleibige Generaldirektoren, alles verzockende Traumtänzer oder im Dauerrammeln befindliche Luftikusse …
Ich konnte mir jederzeit und aufs Neue meinen Vater selber fabrizieren.
Und das tat ich auch.
*
Und so endete alles: In einem meiner Spezialträume saß mein Vater dann als fesch herausgeputzte Bauchrednerpuppe auf meinem Schoß. Das alles auf der elegant arrangierten Varieté-Bühne, in vollem Scheinwerferlicht!
Und er, mein Vater, plapperte brav meine Gedanken nach.
Da merkte ich erst, wie beschränkt sogar mein Denken sich anhörte.
Und der Ventriloquist schämte sich für den eigenen puppigen Vater auf seinen Knien.
Fazit: Kein Atemzug, kein einziger mehr, entströmte ab nun dem Puppenmund – wie auch meiner diesbezüglichen Sprechöffnung. Und auch durch andere Fugen meines Körpers drang nichts mehr nach draußen.
Seither herrscht Stille. Wohltuende Stille.
E N D E