
Ein Freund
brenzliger
Situationen
Darstellung einer halbwegs
gefinkelten Fiktion von
Bernd Schmidt
© by Bernd Schmidt, Graz 2015.
(ENDFASSUNG: 2016.)
Derweilen träumte ich, was alle Verlierer
träumen: eines Tages ein Buch zu schreiben,
das mir Ruhm und Reichtum einbringen würde.
Umberto Eco, NullNummer
*
…
Oh Dank! Oh Glück! Oh Zuversicht!
Man kennt mich nicht! Man kennt mich nicht!
…
Stefan Zweig, Ballade von einem Traum
*
Simon
Er war immer schon ein Freund brenzliger Situationen. Der im letzten Moment nicht vom Dach gefallene Ziegel, das Neugeborene, das fast in den Weiher geworfen worden wäre (hätte man nicht die Zeugung des Kindes doch noch unterlassen), das nicht um die nächtliche Straßenecke brausende Auto auf bedenklicher Amokfahrt.
Wohlgemerkt: Er war ein Freund brenzliger Situationen, denen letzten Endes jedoch kein Feuer innewohnte. Er war ein Liebhaber der Situationen, die in Wahrheit bloß brenzlig aussahen. Brenzlig wirkten, ohne es zu sein.
Das war alles sein Element.
Und in dem war er denn auch.
Immerhin, wie gut macht es sich doch, wenn etwas, das sich später womöglich als Unglück herausstellen könnte, erst gar nicht passiert?! Anders gesagt: Wenn eine Katastrophe überhaupt ausbleibt?! Wenn irgendetwas erst gar nicht eintritt?! Sich etwas, eventuell als schlimm zu Empfindendes – mitsamt allen, es betreffenden Ahnungen – quasi in Luft auflöst?! Kurz: Sich gröberes Ungemach per Sidestep vertschüsst wie der Hurrikan in Bertolt Brechts und Kurt Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“?!
Wenn es insgesamt nur wie brenzlig wirkende Situationen gibt also, doch keine wirklich brennenden Probleme, keine scheußlichen Unfälle oder gar Katastrophen?!
Weniger schön war es freilich, wenn besagte Unglücke allesamt (oder auch bloß teilweise) dann, eines unschönen Tages, tatsächlich eintrafen. Sich nämlich in diesem Fall als einer der wahren Retter, taffen Helfer und größten Wohltäter in die Brust zu werfen, war dann verständlicherweise zu wenig. Da galt es dann nämlich in der Tat, Farbe zu bekennen; seinen Mann zu stehen; womöglich sogar ein Held zu sein …
Doch wäre das dann für Leute vom Kaliber eines Simon Haselstamm überhaupt machbar? Könnten Angeber wie Simon, Blender und Heldentum vortäuschende Maulhelden, überhaupt reüssieren, wenn sich die Situationen nicht bloß als brenzlich, sondern die Probleme als durchaus brennend darstellten?
Ja – wie …?
Nun, egal, wie es dann ausgehen mag, lassen wir es auf uns zukommen und freuen wir uns am brenzligen Geruch, nicht wahr, Simon? (Denn um diesen Simon Haselstamm geht es hier. Unter anderem.)
Simon Haselstamm spielte gern den Wohltäter. Ja, er tat mit Vorliebe so, als wäre er so etwas wie der Messias. (Lasset die Gebeugten und Verhutzelten zu mir kommen, denn ihrer ist die Konditorei an der nächsten Ecke!) Und das, obschon er sich gleichsam ständig – schlimmstenfalls – neben den realen gefährlichen Ereignissen aufhielt. In respektvollem Abstand. Nicht in der direkten Gefahrenzone oder Schusslinie. Und manchmal erst gar nicht dort war, wo etwas passieren hätte können. Wenn er in gehörigem Abstand von den Missgeschicken auf Beobachtungs- oder Horchposten lag; wenn er nachher schaurig-schön davon erzählen und die ach so gefährlichen Momente farbenfroh und lebendig schildern konnte.
Vermutlich inständig betend um das Ausbleiben aller möglicher Unbill und sogar der diversen normalen Schicksalsschläge, so lagerte er abseits der Gefahrenherde unter gemütlichen und flauschigen Decken. Letzten Endes – wenn überhaupt, dann – bloß am Rand beteiligt. Aber selbstredend nicht betroffen. Anständig unanständig … So war er eben, der Simon.
Gewiss! Ich, Gabriel Neunkirchner, ich weiß, wovon ich hier spreche!
Habe ich doch mit ihm, mit diesem Schattenmann und Schönredner, mit diesem Feigling und Opportunisten, kurz: mit Simon Haselstamm, gemeinsam alle vier Klassen der Volksschule besucht. (Und dieser Bildungshürdenlauf verlief, nebenbei gesagt, wenig ehrenvoll. Doch lassen wir das besser …) Deshalb getraue ich mich auch, gleichsam als Augen- und Ohrenzeuge, hier als Referent des Geschehenen aufzutreten. (Aber: Vielleicht stammt der Text ohnedies wieder einmal von meinem [um eine Spur älteren] Zwillingsbruder Eduard? Eduard und ich sind nämlich Eineiige und auch sonst und im Allgemeinen ein Herz und eine Seele … Und: Wir haben dieses Spiel, nämlich uns zwischendurch für den jeweils anderen auszugeben, schon in der Volksschulzeit ganz gut beherrscht: Wer im betreffenden Fach kompetenter war, lieferte die geforderte Arbeit ab, gab die entsprechende Antwort oder ließ überhaupt die rigorosen Prüfungen über sich ergehen. An des diesbezüglich unvorbereiteten Bruders Stelle. Man kann sagen, dass diese Arbeitsteilung durchaus zu unser beider Wohl und Frommen geschah. – Was den vorliegenden Text betrifft, wollen wir daher lieber, wenn es irgendwo einmal um den Verfasser geht, das übliche wir anwenden, den Pluralis modestiae also. [Selbstverständlich nicht den maiestatis!])
Himmel! Diese skurrilen vier Klassen Volksschule, die man in unserem halb-vergammelten Geburtsort, in diesem knapp 1000-Seelen zählenden dreckigen Nachkriegskaff Frauenweiden an der Bramsel (unweit von St. Pankrazen an der Salm), damals – in den frühen 1950er Jahren – besuchen hatte sollen zum Behufe der Elementarbildung! (Diese sogenannte Bildung, deren man in Frauenweiden [Gemeinde Frehling] teilhaftig hätte werden können, wäre einem überhaupt der Sinn nach solchem gestanden, schien freilich weder elementar noch etwas wert zu sein. Nein, ganz und gar nicht. Sie war – nehmt alles nur in allem – nämlich für die Katz‘ [ohne einer solchen auch nur im Entferntesten nahetreten zu wollen!]. Jaja.)
Schon unsere alte, hinkende, aber weitgehend gütige Lehrerin Eva-Maria Schloder, dieses fast blinde, halbverfallene und übelriechende Rinderskelett, versuchte der nachmalige Pseudo-Retter aus angeblichen brenzligen Situationen, der kommende Verführer, Simon Haselstamm also, diese kleine, fiese Ratte mit dem maliziösen Lächeln und dem zum Dicksein neigenden Zwergenkörper, schon die alte Schloder versuchte er also in Permanenz schier an den Rand der Verzweiflung zu bringen. Und oft und oft gelang es ihm. Durch seine hinterhältigen Eskapaden. Durch sein dümmliches Mienenspiel. Durch sein Dasein allein schon, sein feistes.
Doch sogar den abgebrühten Direktor Hadubrand Schwundsackl, der die Schloder-Klassen (auch die, in der Simon und wir anderen Alterskollegen der Schulpflicht gemäß dem Unterricht beizuwohnen angehalten waren) widerwillig genug selber übernehmen hatte müssen, brachte er an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Sogar den Schwundsackl.
Das war nach dem plötzlichen Tod der ewig schon vor sich hin-kränkelnden Eva-Maria Schloder. Und in Ermangelung eines vielleicht noch untauglicheren Mitglieds aus des windigen Schulleiters sowohl geistig als auch dem äußeren Erscheinungsbild nach total ausgemergeltem Lehrkörper. Nein, einen noch weniger tauglichen Ersatz für die alte, halb-schwindsüchtige Gurke konnte es gar nicht geben, als ihn der abgewrackte Schulmann und Afterpädagoge selbst darstellte.
Nun, das mit dem direktoralen Nervenkollaps, also, das wollte etwas heißen: Denn der im Grund längst überfällige Schwundsackl, dieser ewig-gestrige Arsch, der war ein gestandener alter Nazi. Außerdem war er, während des Tausendjährigen Reiches (das, Gott sei es gedankt, letztlich doch nicht ganz so lange angedauert hatte) bei der Waffen-SS gewesen. Und dieser jämmerliche tiefbraune Grottenolm, dieses überflüssige NS-Relikt, Schwundsackl, war zurecht als wilder Hund bekannt und allenthalben sogar (und wohl auch zu Recht) gefürchtet!
Doch – alles kein Problem für Simon. Nein.
O er war ein Unhold. Der Simon.
Wir wurden naturgemäß koedukativ unterrichtet, Mädchen und Burschen, bunt gemischt. Die Mitschüler, so ab der dritten Klasse, besonders die älteren Repetenten, die waren damals alle hinter der Sonja her. Die blonde Sonja, Weitlahner mit Familiennamen, die war aber auch eine Wucht … Und die Sonja hatte ihrerseits eine kleinere Schwester, die blonde Sylvia. Die ging aber noch in den Kindergarten. Ja, die Sylvia, die würde später dann eine recht wichtige Rolle im Leben des Simon Haselstamm spielen. Später dann.
Die Sonja? Ihre Spur verlor sich eines Tages. Im Steinwender Wald. Beim Forsthaus.
Aber der Simon, der hatte (zumindest in Maßen) Geist. Früh schon zeigte sich das.
Denn der Bursche philosophierte oft so vor sich hin. Nur so. Schon als Knabe. Ja, Simon Haselstamm philosophierte. Einfach so. Nur so vor sich hin.
Und wir anderen? Wir verstanden quasi absolut kein Wort davon, was der Simon da so vor sich hin spintisierte, wie man sagte.
„Wie in Wahrheit bei der Geburt bereits der Vorgang des Sterbens einsetzt, so liegen auch beim Urknall schon die besseren Zeiten des Universums fraglos hinter uns.“ Das und ähnliche unverständliche (oder zumindest fatalistische) Sachen stieß er hervor, der Simon. Früh schon. Aus heiterem Philosophen-Himmel. Wenn er sich gerade in der passenden Stimmung glaubte.
Und obschon sein Hirn vielleicht auch bloß das eines Schmalspurdenkers war: Für einen Freund brenzliger Situationen, die möglichst keine sein sollten, reichte es allemal.
Ach ja: Ein Bild evozierte Simon Haselstamm immer wieder in seinem Leben, als wäre das vielleicht gar etwas Leitmotivisches. Er deutete an (wenn er einmal in der oben beschriebenen Stimmung war und es ihn trotzdem gelüstete, mit uns, den anderen, zu sprechen), was noch – irgendwann, später, dereinst … passieren würde. „Irgendwann einmal, am passendsten: eines schönen, sonnigen Spätsommertags, dann, mitten auf einer weiten, blühenden Wiese, da werde ich eine Treppe finden, die hinauf, die da einfach nach oben führen wird. Die mich hinauf, nach oben führen wird …“
Hinauf?! Nach oben?!
Was konnte mit diesen weitestgehend unklaren, irgendwie: verschwommenen, konturlosen und daher unverständlichen Worten gemeint sein?
Ja, ob das überhaupt jemand interpretieren könnte, im Ansatz wenigstens?
So fragten wir uns. (Also, unser dümmlicher Katechet, der Pfarrer Anton Hinterpfannleitner, der würde es mit Sicherheit nicht kapieren. – Ja, eine Predigt könnte er allenfalls drüber halten. Aber – verstehen?! Niemals!))
„Dann bin ich weg“, fuhr Simon Haselstamm bei solchen Gelegenheiten (und wenn sich ein Kreis von ahnungslos lauschenden Kameraden um ihn gebildet hatte) salbungsvoll fort.
Und: „Für immer. (Oder fünf Minuten weniger als immer.)“
Beispielweise Rudi
Von anderem Kaliber (und doch, genau genommen, auch nur ein ziemliches Arschloch) war da schon der Rudi Montör. Ja, genau, der angebliche Musiker, DJ und so. Der Rapper, später dann. Altrocker, insgesamt. Denn auch der ziemlich blöde Rudi war in unsere gemeinsame Volksschulklasse gegangen.
Und damals schon hauptsächlich durch Ignoranz und passive Resistenz allem gegenüber aufgefallen, was auch nur im Entferntesten mit Wissen, Bildung oder Geist zu tun haben hätte können. (Und angesichts unserer miesen Lehrkräfte à la Hadubrand Schwundsackl oder Eva-Maria Schloder war das ohnedies denkbar wenig …)
Immerhin, wenigstens war der Rudi Montör kein Freund brenzliger Situationen. Eher schon brenzliger Kabel, wenn es beim Lärmmachen einmal besonders heiß herging. Oder wenn er gerade high war. Oder sternhagelvoll wie die berühmte Haubitze. Oder beides. Da glühten schon mal die Mikrofone, oder es ging ein Mischpult in Flammen auf. Samt dem es bedienenden, meist ebenfalls bis oben hin zugedröhnten fremden Technik-Fuzzi.
Rudi Montör und seine „Asphalt Kakerlaken“: Wenn die sich wo zeigten, wurde in aller Regel und sicherheitshalber Alarmstufe Rot ausgerufen! („Rette sich, wer kann!“, lautete die Devise. Und: „Fort, so lange noch Zeit ist!“ – „Ist schon zu sp -“)
Rudi Montör und die „Asphalt Kakerlaken“ … O ja sie galten bei besonders minimalhirnigen Hornochsen sehr bald schon als die, sozusagen: ultimative Boygroup. (Lokal, versteht sich, hin und wieder vielleicht: regional; von bundesweit oder gar international nicht zu reden …) Boygroup! Und überhaupt –
Also, Boygroup, so nannte man die Pop-Bands zur Mitte der 1960er Jahre zunächst natürlich noch nicht. Aber später hätten sie sich dieses Prädikat ohne Zweifel verdient gehabt. Nämlich: von den eher geringfügigen Gehirn-Volumina her. Doch da waren sie eben schon angegraute Altspatzen und aus den Spielhöschen der Boygroups längst herausgewachsen …
Man stelle sich das einmal vor! Die Herren Kakerlaken gingen, schneller als du papp hättest sagen können, gemeinsam altersmäßig gut und gern in die Jahrhunderte. (Weil ja auch du und alle anderen sagenhaft schnell erwachsen wurden. Und alt. Und senil.)
Ja, jeder der fürchterlichen Kakerlaken für sich hätte gut und gern allein schon als ein jammeraltes Urgestein der Geschmacklosigkeit gelten können. Abgetakelt. Ruinös. Aber in den Augen von mancher strohdummen Tussi, die klarerweise auch nicht mehr so ganz taufrisch war, eben doch immer noch – megaphat!
Die Kakerlaken. Sie waren immerfort noch brav und treuherzig das, was sie dereinst beschlossen hatten, fürderhin vorzugeben zu sein (egal, was sich sonst auf der Welt auch tun werde oder nicht): schwarzgekleidete, silberberingte Grufties von erschreckender Hässlichkeit. (Dabei im Grund herzensgut und alles andere als aggressiv. Aggressiv?! Dazu wären sie – übrigens: schon mit vierzig dann – viel zu wackelig auf den dünnen Altmännerbeinen gewesen …) Aber sie verfügten dabei nun einmal über weitaus ekelhaftere Raukehlen als Joe Cocker, Johnny Cash und Tom Waits zusammen. Und so traten sie denn auch in Erscheinung: als eine Cocker-Cash-Waits-akusto-optische Katastrophe.
Doch, doch, die Kakerlaken! Zugegeben, diese fünf jämmerlichen Gestalten brachten immer noch, bis jetzt, nach fast 50 Jahren, jede digitale Schepperkiste bedenklich zum Wummern. Egal, ob mit ihren alten Hadern – man erinnere sich nur an „Blöder Slowfox“, „Nebel im Hirn“, an das, zugegeben: recht ordentlich subversiv-destruktive „Rock Me, Prunzelpurzel“ und besonders an den schauerlichen, leicht bluesig-groovigen Mundart-Song „Häng di auf, Guggi!“, der es Mitte der 1980er sogar einmal fast in die Charts geschafft hätte! – oder mit ihren Scheußlichkeiten jüngeren Datums; etwa mit ihrem post-merkantilistischen „Veräußerungs-Rap“, ihren schaurigen „Extraktiv-Balladen“ oder mit den grausigen, obskur-düsteren und regelrecht Finanz-technisch beklommen-machenden „Wallstreet-Hymnen in Black“… Ja, du geile Alleneune!
Grundsätzlich darf gesagt werden: Hätte Rudi Montör über etwas mehr Hirn (und damit verbunden: über Intellektualität) verfügt und wären die „Asphalt Kakerlaken“ als Personen und Menschenwesen nicht grosso modo so grindig und unbedarft gewesen – sie hätten das Zeug dazu gehabt, tatsächlich den Finger an den Puls der Zeit zu drücken. Und das Gebiet der Sozialkritik wäre so vielleicht bald ihr Monopol geworden. Doch: Hätte, wäre …
Vielleicht wären sie sogar dazu imstand gewesen, etwas Nachhaltiges im Bereich des Wirtschaftskabaretts beizutragen. Doch wäre in solch einem Fall mindestens ein Hauch von historischem, politischem und sozialwissenschaftlichem Wissen vonnöten gewesen. Eine von einem ihrer besseren Ideenlieferanten angedachte Vertonung von Niccolò Machiavellis schandbarem Erziehungsregelment „Il Principe“ zum Beispiel scheiterte schlicht und ergreifend – an der Dummheit der Protagonisten. Die Chance blieb solcherart, wie viele andere auch, ungenützt. Brachland. Für nichts.
Aber so ist das Leben. Eben.
Und erst live! Da war was los! Du scheißt dich an! Die Girls aller Altersklassen kreischten, warfen mit Slipeinlagen und, so sie so was überhaupt trugen: mit ihren Textil-sparsamen BHs um sich. Und die (angeblich) männlichen Fans betranken sich schon vor einem anstehenden Event Rudis und der Kakerlaken zumeist sinnlos.
Dann der große Moment: Bühnenlicht an, gebündeltes UV-Licht dazu, wetteifernd mit infernalischen Infrarot-Strahlenbahnen und Laser-Scheiß! Aber dann erst: mindestens hundertausend ein und denselben Phon-Orgasmus erheischende Watt aus den Container-großen Lautsprecherboxen! Doch zuletzt, irgendwie als tragische Summe und erstaunlich mickriges Endprodukt all der (gleich sinnlosen wie schweißtreibenden) Bemühungen: Scheiße pur! Einfach riesenhafte, stinkende, braunpappige Durchfall-Scheiße pur!
Aber: Die Kakerlaken, so hieß es in aller Regel, später dann, seien wieder einmal wahre Garanten für Hörstürze en masse gewesen!
Himmel! Da zwirbelten sich sogar die längst schon ausgeleierten Schallknospen im Durchschnittsmittelohr. Und kein verglotztes Glupschauge blieb angesichts ihrer miesen Bühnenshow noch länger trocken. Sanfter Rachiticus!
Dieser total irre Sound legte sich magnetogriffig über alles das retro-dadadistische oder postmodern-pseudo-akusto-grammatische Geknote, wo es allenthalben noch wucherte in wüster Trockenheit abgestorbener Hörgier.
Oja, die kakerlakischen Stimmbandwürmer warfen, vor Geilheit zuckend, angehörs ihrer eigenen Afterschall-Maienklänge ihre zuvor noch ekstatisch durchpulsten kretinösen Glieder von sich wie die biblischen Lahmen ihre nunmehr endgültig unnütz gewordenen Krücken. Hammerzehige Breitseiten mit Uralt-Pizzabelag und Cola-Gegaukel wabberten wellenartig übers Feld, bis die Höridioten zuletzt in eine weitgehend geistesgestört wirkende, sozusagen: in eine katatonische Hingabe verfielen. Muskelgelähmt. Hirnleer. Ausgezuckt. Heavy Crystal!
Kontrollverlust allenthalben und zielunscharf-spastische Bewegungsimitation …
Ob das Publikum tobte? Oder ob es vielleicht angewidert war? Am Ende: sanft entschlummert? Die Ohren längst aus simultanem Selbsterhaltungstrieb heraus mit eigenen, mitgebrachten Player-Tönen angemüllt?
Die Meinungen gingen in diesem Punkt – nicht zuletzt bedingt durch die alkoholischen und toxischen Begleitumstände der Konzerte und Auftritte – in aller Regel ziemlich auseinander.
Allerdings gegen eines muss man sich entschieden verwahren: Rudi Montör und die „Asphalt Kakerlaken“ agierten kaum schlechter als andere, bekanntere Rockformationen. Stilbildend waren sie klarerweise nicht (weder am Beginn ihrer fragwürdigen Karriere, noch später dann).
Sie schienen überhaupt merkbar und lediglich darauf aus zu sein, wenigstens als müder Abklatsch und äußerst schwache Imitation anderer, prominenterer Gruppen am allgemeinen Kuchen mit Zuckerguss, als welcher sich die sogenannte Pop-Musik-Industrie längst schon zum größten Teil gerierte, ein bisschen mitnaschen zu dürfen. Ein bisschen – wenigstens …
Und das taten sie dann, wenn sich die Möglichkeit dazu zwischendurch einmal tatsächlich bot, auch gierig und mit sabbernden Lefzen.
Übrigens: Was sich da auf dem Gebiet der Populärmusik so tat, war rein gar nichts gegen die noch weitaus niederträchtiger arbeitende, total-mafios strukturierte sogenannte volkstümliche und die Schlager-Musik! (Doch, keine Bange, auch die Klassik gebärdete sich längst schon unmoralisch bis zum Geht-nicht-mehr! Man munkelte sogar, das hochberühmte „Wiener Neujahrskonzert“ werde schon vor dem offiziellen Mitschnitt auf CD gepresst …)
Immerhin, Rudi & Co. legten es nicht im mindesten darauf an, als fernöstliche (oder amerikanisch-westliche) Musik-Gurus zu gelten. Und auch als irgendwie pseudo-religiös imprägnierte Frohbotschafter eines besseren, tieferen, veganen oder zumindest vegetarischen Lebens gaben sie sich nicht aus. Ihr Mainstream hatte – Mainstream-Charakter.
Auch waren Rudi und seine Kakerlaken weder einer der vielen obskuren, per Internet naturgemäß noch besser florierenden Weltverschwörungstheorien auf der Spur; noch hätten sie daran gezweifelt, dass auch die Sache mit dem heiligen Gral letzten Endes ein aufgelegter Schmonz sei. (Wenn sei den Gral überhaupt in ihre Überlegungen einbezogen hätten …)
Nein, nein. Sie dröhnten sich mit ein bisschen Drogen zu, bliesen sich mit viel Alkohol den Schädel voll und das Hirn weg. Aber sonst waren sie durchaus handzahm. Auch wenn ihre massig-scheußlichen Silberringe, ihre psychedelisch inspirierten Tattoos und die an den Tag und an die Nacht gelegten Manieren von Proleten etwas anderes suggerieren mochten. Lediglich dem Umstand, dass es den Ausdruck Bobos noch gar nicht gab, verdankten die Brüder es, nicht so genannt zu werden.
Als zumindest mittelgroßes Problem erwies sich allerdings, noch dazu in den immer noch merkbar post-nationalsozialistischen, dazu wahlweise super-katholisch- oder protestantisch-prüden Jahren knapp vor der beziehungsweise zeitgleich mit der – angeblichen ja doch auch sexuellen! – Revolution von 1968, Rudi Montörs sogleich misstrauisch als zumindest exotisch eingestuftes Geschlechtsleben.
Doch Rudi Montör war nun mal homosexuell. Und dieses, sein Schwulsein wurde alsbald im ganzen Ort zu einer irgendwie leidigen Angelegenheit hochstilisiert. (Obwohl es grundsätzlich ja niemanden anderen etwas anging als ihn und vielleicht noch den jeweiligen Partner, mit dem es Rudi gerade trieb. Minderjährige belästigte er zudem ohnedies nicht.)
Freilich: Spätzünder Montör, selbst vor relativ kurzer Zeit erst mit dem Umstand seiner diesbezüglichen, angeblich von irgendeiner gottgewollten Norm (so äußerste sich zumindest der unbrauchbare Pfarrer Anton Hinterpfannleitner) abweichenden sexuellen Orientierung konfrontiert, konnte sich dennoch die Aufregung nicht erklären. Pimmel, Arsch und Hirn!
Immerhin fragten sich manche der wenigen Hardcore-Fans des stets im silbrig-glänzenden, ein wenig an Elvis Presley orientierten Outfit auftretenden Rudi und seiner schwarz gestylten „Asphalt Kakerlaken“ (etwas naiv und allen Ernstes), warum denn ausgerechnet dem Rudi Haschisch, Koks und Alkohol nicht genügen sollten?
Verdammt, mussten es zusätzlich auch noch Männer sein? Konnte ihr Idol nicht Vorlieb nehmen mit ein paar hysterischen Girlies, die sich nach einem Auftritt im Bierzelt dann draußen im Freien oder im schäbigen Hotelzimmer prima vögeln ließen?!
Rudi war indes Romantiker. (Während seine „Asphalt Kakerlaken“, harte Burschen durch und durch, voll im Mainstream und ergo auf den allzeit-bereiten Mädels lagen …) Er gönnte sich nun mal seine schnuckeligen Callboys und kuriosen Strichjungen zum warmen Apres.
Aber, wie gesagt, die Zeit war allem Anschein nach noch nicht reif dafür, solche Dinge offen als das zu benennen, was sie nun einmal sind. Und das Arschficken galt ebenfalls noch nicht als Smalltalk-taugliches Thema. Man wollte partout nicht akzeptieren, dass Rudi Montör diesbezüglich etwas aus der Reihe der übrigen Szene-Kasperln und Dauerbumser tanzte. Bisexualität und Androgynie à la David Bowie wären möglicherweise eher akzeptiert worden.
Zunächst hatte sich Montör, wie angedeutet, selbst schwer getan mit der Einsicht in seine Lebensweise als Schwuler. Das belastete ihn – nicht aus intellektueller Reflexion oder etwa aus anerzogener moralischer Enge heraus (er war keineswegs geistvoll und kannte eigentlich auch keine Moral), sondern, weil ihm das Phänomen seiner sexuellen Vorliebe an sich die gern zur Schau gestellte Attitüde des Naturburschen entscheidend erschwerte. Und als solcher liebte er es, seine Auftritte zu gestalten: als alerter Bergfex im Glitzergewand …
Zwar traf es ihn vermutlich nicht ganz so elementar wie wenige Jahrzehnte zuvor noch etwa den Meister aller schwulen Dandys, den dekadent-arroganten Oscar Wilde, der als bekennender Sodomit angeklagt, verurteilt und zuletzt menschlich wie existenziell gebrochen und ruiniert sterben sollte. Oder andere Größen der Literatur, Musik und bildenden Kunst, die zum Teil ohne Zweifel schwer an ihrer Veranlagung zu tragen hatten und daher meist bestrebt waren, ihre sexuelle Orientierung bestmöglich zu kaschieren und zu tarnen.
Indes musste auch Rudi eine Art sozialer Bürde mit sich herumschleppen, und dieses Stigma, das durch seine geschlechtliche Ausrichtung bedingt war, belastete ihn letztlich.
Das mag bei ihm vielleicht graduell anders gewesen sein als zum Beispiel bei André Gide, Arthur Rimbaud oder Paul Verlaine. Freilich auch anders als beim schier ein langes Leben lang insgeheim unter seiner Veranlagung leidenden Thomas und dem aufmüpfig-trotzigen Klaus Mann, der durch seine Sohnschaft zusätzlich gestraft war …
Und anders auch als beim weltmännisch auftretenden heimlichen Exhibitionisten Stefan Zweig, den das Entdeckt-Werden stimulierte – wie ihn die eigene Wahrnehmung des Phänomens gleichzeitig fast zu Tode erschreckte.
Ja, das belastete auch den um sein Publikum buhlenden Rocker. Denn Rudi Montör, wie die anderen wesentlich Prominenteren alle auch, lief ständig Gefahr, womöglich doch noch von der (einer überaus prüden, gleich antiquierten wie stringenten Doppelmoral unterworfenen) Gesellschaftlich geächtet zu werden. Von einer Gesellschaft, deren Anerkennung ihm wie den übrigen warmen Kollegen indes so wichtig war.
Wenige Jahrzehnte später dann freilich, als die Welle der Outings Tsunami-gleich sowohl über die Küsschen-Küsschen!-Gesellschaft als auch über die Kunstszene (so die beiden Comunities nicht ohnehin identisch waren) hereinbrach, sich bald mal ein Kreativer als im falschen Körper geboren besang und die gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften sowie die buntschillernden Patchwork-Familien Schwammerl-ähnlich aus dem Boden sprossen, da wäre den meisten auch Rudis sexuelle Ausrichtung am Ende doch noch Wurst gewesen. Aber da steckte Montör, was sein Geschlechtsleben betraf, bereits weitgehend in der Pensionsphase.
Da war er gleichsam totaliter jenseits von Gut und Böse (auch ohne Friedrich Nietzsche!) und hielt sich allein schon aus Gründen der Bequemlichkeit von fremden Betten fern. Zumindest hatte sein Schwanzeinsatz längst – wenn überhaupt, dann – etwas zunehmend Minimalistisches an sich. (O welch geile Sprachfigur: zunehmend minimalistisch …!)
Übrigens, auch nach seinen inzwischen schon ziemlich senilen Altrockern, den nunmehr völlig vergammelten „Asphalt Kakerlaken“, diesen in so trauriger Weise überzeugenden Nebochanten der Populärmusik, krähte längst kein Hahn mehr. Weder digital noch analog.
Bald schon war es um ihre Auftritte, aber auch um die nicht minder fragwürdigen Musik-Kassetten, CDs und DVDs, kurz: um Rudi Montör und seine nunmehr restlos zerknitterten und zerbeulten „Asphalt Kakerlaken“, diese ehemals immerhin manches grindige Bierzeltfest halbwegs durchstrahlenden Mitglieder der heimisch-provinziellen Pop-Szene, dann ganz still geworden; und kein buchstäblicher Hahn krähte nach den weitgehend Abgewrackten.
In der Tat, das Resümee fiel entsprechend ernüchternd aus.
Letzten Endes, frei nach William Shakespeare: Viel Lärm um nichts. Oder, um Georg Christoph Lichtenberg zu zitieren: Ein Messer ohne Klinge, an welchem der Stiel fehlt.
Der Pfarrer
Ganz ohne eine etwas längere Erwähnung von Pfarrer Anton Hinterpfannleitner (wir wiesen auf ihn zwar zweimal schon kurz hin) soll es jedoch hier nicht abgehen. Dazu ist unser Groll, diesem selbstgefälligen und weitestgehend indolenten Kirchenmann gegenüber denn doch zu ausgeprägt. Stellt Hinterpfannleitner immerhin durchaus beispielhaft den Typus dar, der sich – in Anlehnung an den pointierten Angriff des Satirikers Karl Kraus auf die ihm verhasste Psychoanalyse – für die Therapie derjenigen Krankheit hält, die er selber repräsentiert …
Denn der engstirnige Gottesmann, den es da vor Zeiten nach Frauenweiden an der Bramsel verschlagen hatte (die Kleinpfarren Hinterklaus, St. Laurenzen am Pfüat und Grundling hatte er später dann nebenbei noch [mehr schlecht und recht] mitzubetreuen), kann gut und gern als abschreckendes Beispiel dafür gelten, wie sich nun einmal manche schwache Priester in höchstem Maße ungeschickt, ja: schier abschreckend und glaubensfeindlich zu benehmen verstanden. Und verstehen. (Denn von seinem kürzlich konsekrierten [oder: inthronisierten? Nein: kanonisierten? In-ordinierten? wie auch immer …] Nach-Nachfolger, einem gewissen Ugawe Obi M’toto, einem ansonsten recht tüchtigen jungen Pater aus Ghana, vernimmt man auch schon eher Erstaunliches, um nicht zusagen: Skurriles. [Dazwischen, nach Hinterpfannleitners Tod im Jahr 1998 hatte übrigens, bis 2005, ein Pater Luitpold Immengrün vom Zisterzienserstift Murboden sein wenig ergiebiges Provisorium zelebriert.)
Gewachsen aus dem schimmlig-pickigen katholischen Dung, der von Papst Pius XII. (Eugenio Pacelli) und seinen Vorgängern her stark nachwirkte, so gerierte sich da auch noch Jahre nach 1945 besonders die katholische Priesterkaste. Lediglich die erstarkenden islamistischen Fundamentalisten würden ihr, Jahrzehnte später dann, immerhin: ziemlich lautstark und zuletzt: unübersehbar, schaurigste Konkurrenz machen.
Dann, unter möglichst großräumiger Umgehung des wesentlich aufgeschlossener agierenden Papstes Johannes XIII. (Angelo Giuseppe Roncalli), der mit dem von ihm initiierten Zweiten Vatikanischen Konzil (mit Beginn im Jahr 1962) immerhin einigen Staub aufwirbelte, führte die Priesterschaft ihre – jederzeit brav Beifall blökenden – Schäfchen unter Paul VI. (Giovanni Battista Montini), Johannes Paul II. (Karol Wojtyła) und Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger) in die weitestgehend schon durch Neo-Kapitalismus und Wirtschaftsoptimierung bestimmten Jahrzehnte der beinahe weltweiten, globalen Konjunktur. Und zugleich ins finsterste Glaubensmittelalter zurück. Johannes Paul I. (Albino Luciano) regierte anno 1978 nur einen knappen Monat; zu kurz, als dass sich Profundes über ihn sagen ließe. Und über den Argentinier mit italienischen Wurzeln, Jorge Mario Bergoglio, als Nachfolger auf Petri Stuhl, Franziskus? Auch über den seit Frühjahr 2013 Amtierenden getraut man sich, noch kein einigermaßen fundiertes Urteil abzugeben. Zu widersprüchlich sind da die Signale.
Parallel zum Neuerstarken des (bereits leicht skurril wirkenden) Konservatismus bewahrte man im Vatikan, konsequent rückwärtsgewandt, zumindest die Überreste früherer Macht auf – in Wahrheit längst großteils verlorenem – Terrain. Stets gut Freund mit Faschisten, National(sozial)isten und Imperialisten, dazu unerbittlich in der Rolle der Kommunisten-Jäger und jeglicher Freiheits- und Befreiungsbestrebung (etwa in Lateinamerika) gegenüber strikt ablehnend eingestellt, kochte die Priesterschaft, meist ohne nennenswert auf außer-kirchliche Entwicklungen zu reagieren, ihr unheiliges Süppchen am Herdfeuer der jeweils Mächtigen.
Ohne Antworten auf die brennende Fragen der nun doch allein schon aus Gründen der Vernunft zu befürwortenden Geburtenregelung, der – Herrgott! bitte schön, endlich! zu empfehlenden – Empfängnisverhütung, des – Himmel! – ebenso endlich zu tolerierenden vorehelichen – Geschlechtsverkehrs oder betreffend den – letztlich ohnedies unweigerlichen – Verzicht auf den unseligen Zölibat zu geben, segelte man weiterhin auf der eingefahrenen Route hochmütiger Selbstsicherheit. Als Sprit diente der lägst schon mit merkbarer Schlagseite dahin-schippernden Schaluppe immer noch und in durchaus altbekannter Weise die Angst: dieses wohl wirkungsvollste aller Druckmittel, das sich durch zwei christliche Jahrtausende schon bestens bewährt hatte. Zur allgemeinen Seelenpein der Normalgläubigen.
O ja, auf die Albtraumbilder eines Hieronymus Bosch war immer noch Verlass. Und auch auf das krasse Dunkel, das die Retro-Mystiker und Post-Pietisten sowie eine Handvoll unverbesserlicher Neo-Neo-Scholastiker zu verbreiten imstande waren und womit sie die immerhin mögliche Helle eines als liebend zu denkenden Gottes erbarmungslos zupinselten mit der Höllenfarbe ihrer selbstherrlichen und intoleranten Bestrafungs- und Sühne-Geilheit.
Der Geist dieser in sich (und sui generis) so extrem undemokratische Priesterschaft stimmte, nun zwar in den Körpern ihrer Nachfolger, auch siebzig Jahre nach Kriegsende, immer wieder in den Chor der geistig Mittelmäßigen ein; wenn er nicht ohnehin gleich die Funktion der Stimmführung oder gar des diktatorischen Dirigenten übernahm … Schon zwei Generationen von sogenannten Dienern Gottes, die freilich allesamt in demselben vatikanischen Mief aufgezogen worden waren, hatten inzwischen in Rom nach wie vor das Sagen gehabt. Und wenn die Zeichen nicht trogen, wuchs womöglich gerade eine weitere heran. (Egal, ob mit Billigung von Papst Franziskus oder gegen seinen Willen …)
Ja, doch, die angeblich so würdigen Soutanen-Träger, sie waren immer gegen alles, was Umschwung oder auch bloß Toleranz anderen Meinungen gegenüber signalisiert hatte. Gralshüter des Überkommenen, fühlten sie sich auch weiterhin ausschließlich dem Erhalt ihrer geistigen wie weltlichen Pfründe und der Verteidigung althergebrachter Pseudo-Regeln und weitgehend obsoleter Bestimmungen verpflichtet. Wie obskur auch immer die sein mochten und herangeschleift an den wenigen, vielleicht als besonders bizarre Reliquien noch erhaltenen Greisenhaaren der längst abgestorbenen sogenannten Kirchenväter.
Es war ein Klüngel selbstgefälliger oder mindestens dummer Tunichtgute, meist zu allem Überfluss auch noch unfähig zu jeglicher echter Empathie.
So einer war der Pfarrer von Frauenweiden an der Bramsel, besagter Anton Hinterpfannleitner, ein Leben lang gewesen. Ein all die Zeit gar gelehriger Duckmäuser und schlauer Hinterbänkler, sammelte er schon damals im Priesterseminar als gerissener Mitläufer und schlau-berechnender Arschkriecher genug an Erfahrungen im Umgang mit einer übermächtigen kirchlichen Hierarchie und ihren meist durchaus unguten Repräsentanten.
In diesem von vorauseilendem Gehorsam sowie von den Techniken des Nach-oben-Buckelns und Nach-unten-Tretens bestimmten System, das seinerseits auf das Strengste determiniert wurde von einer die Menschen zunächst einmal grundsätzlich verachtenden Rhetorik und Didaktik, dabei dialektisch in jesuitischer Schärfe geschult (wie auch von einer entsprechenden Pragmatik im möglichst stringenten Umgang mit den Mitteln der Macht gekennzeichnet), in diesem System fand sich der ansonsten eher stumpfsinnige und alles andere denn überwache Klein-Geist Anton Hinterpfannleitner bestens zurecht.
Kein Wunder (sic!), dass unser wackerer Holzfäller des Herrn bald schon ins ach so ersprießliche Pfarrleben hineingeworfen wurde, wo es just brodelte, wallte und wogte, dort, im tiefschwarzen Seelen-Tann … Kurz, dass ihn sogleich die ländliche Praxis angewandten Priestertums machtvoll umfasste nach dem Willen seines hochwürdigsten Herrn Bischofs und des höchst rühmlichen Ordinariats. Zwar war Frauenweiden an der Bramsel weder Lourdes noch Maria Zell, doch eröffneten sich Anton Hinterpfannleitner hierorts durchaus erbauliche Aussichten. Gerierte sich die Pfarre doch immerhin auch als eine mittelprächtige Wirk- und Pilgerstätte unser aller Lieben Frau, der Mutter Gottes. Amen.
Er gehörte mit seiner Priesterweihe anno 1952 dazu, der Pfarrer Anton Hinterpfannleitner. Gemeinsam mit dem ehemaligen NS-Ortsgruppenleiter und nunmehrigen ÖVP-Bürgermeister Sieghart Rupf und dem schon überproportional ausführlich behandelten Schuldirektor Hadubrand Schwundsackl, diesem Nazi-Arsch, durfte er sich selbstredend zu den Honoratioren des – objektiv betrachtet: wenig illustren – Ortes zählen. Ergänzt wurde das ziemlich infernalische Trio noch durch den alten Distriktsarzt Dr. Adolf Winterspür und den pensionierten Apotheker Magister Heinrich Lustermann. (Diesem wurden überhaupt dunkle Machenschaften im Dunstkreis einer ehemaligen Außenstelle des NS-Konzentrationslagers Mauthausen nachgesagt, und jener soll angeblich sogar an scheußlichen Euthanasie-Projekten mitgewirkt haben. Dicitur.)
Ja, das war Frauenweiden an der Bramsel.
Da passt es durchaus dazu, das auch vor Jahrhunderten schon die gefürchteten Herren von Pfurzhagen-Schauerkram, wieder einiger hundert Jahre früher mit Sicherheit ausgemachte Raubritter, hier als erpresserische Steuereintreiber und unerbittliche Zinznehmer zugange waren. Zu ihren im Lauf der Zeit sukzessive ergaunerten überreichen Besitzungen hatten auch die üppigen Forste und bestandsstarken Jagden Donnersbach und Klein Frühberg sowie die (freilich schon längst zur Ruine gewordene) benachbarte Burg Rossenheym gehört. Und deren bemooste Steinhaufen, wahrscheinlich die Reste des ehemaligen Burgfrieds, auch ein paar bizarr aufragende Stützgerippe und die übriggebliebenen Teile der Mauer ragten immer noch als beredte Zeugen alter (indes vermutlich auch kaum besserer) Zeiten in die Landschaft.
Das Festival
Klar doch, jedes Kaff braucht seine Festspiele. Im Sommer. Und seine putzig beschneiten Gebirge (oder, wenn solche nicht vorhanden sind, dann wenigstens ein paar hübsche, überzuckerte Hügel). Im Winter. Mit Kunst-Schnee, Pisten, Liftanlagen und Einkehrhütten.
Das sagen zumindest die Touristiker und Werbefachleute. Die Skilehrer, Personal-Trainer und Mental-Coaches. Auch die Psychotherapeutinnen und Logopäden. Und selbstredend auch die Eiserzeuger sowie die findigen Wanderschuhhersteller und Outdoor-Wear-Designer.
Und dann braucht jedes Schweine-Nest – Lokale. Lokale mit Kolorit, gelt ja?! Urig. Gemütlich. Bis – charmant. Aus Zirbenholz, mit Bambus oder sogar ein bisserl plüschig. Marmoren, gläsern und/oder aus Messing und Ebenholz. Oder bemoost. Je nachdem.
Lokale, in der Tat von inferiorer und rein lokaler Bedeutung zwar, doch unbedingt im Trend. Gaststätten und Wirtshäuser, grell-flimmrige Discos und aufgemotzte Stadln, schummrige Hotelbars und abartig scheußliche Restaurants, gegen die Auerbachs Keller in Goethes faustischer Schilderung im Vergleich durchaus als ein Juwel gemütlicher Gastlichkeit kontrastieren könnte. Im alpinen Ranking der Geschmacklosigkeiten und beim rasenden Roulette der Magen-Umdrehungen.
„Mein Frehling lob‘ ich mir! / Es ist ein klein Paris, das bildet seine Leute.“ Das hätte, ganz ohne Frage, Kevin Ramses Schmollgruber, der Chef des Touristik-Büros auf Bezirksebene, so geäußert, wären ihm Paris und Leipzig, Faust und Mephisto sowie Auerbachs Keller auch nur ansatzweise ein Begriff gewesen. (Doch auch den Ansatz kannte er nur vom angesetzten Schnaps und Likör her, der Kevin, dieser braungebrannte Alpin-Depp mit den ausgeprägten Fremdenverkehrs-Ambitionen. Und dem übergroßen Sexualtrieb.)
So aber übernahm Schmollgruber bloß diensteifrig die (zugegeben: an sich ziemlich maue) Idee der sogenannten Allenthalben-Sommerspiele – soll heißen: allenthalben Sommerspiele veranstalten, wo auch immer eine Ruine vor sich hin bröckelt (wir erinnern uns: Burg Rossenheym!), ein halbverfallener Bauernhof hinter sich her morscht oder ein biologisch längst fast schon gekippter See mit Mühe und zur Not zum Panorama dienen könnte.
Ja, denn so etwas, das wollen die Fremden – angeblich! Doch, ja! Da drauf stehen sie! (Besonders im strikten Verbund mit Urlaub auf dem Bauernhof, Kräuterkennenlernen, Selber-Bioeier-Ausbrüten, Original-Fensterln und Skiwandern.)
Ich, Eduard Neunkirchner, will – als recht guter Freund des damals jungen Kevin und nunmehr als einer der beiden Chronisten – der Wahrheit die Ehre geben: So dumm, wie ihn mein Bruder Gabriel gern hinstellt, war der Kevin Ramses Schmollgruber auch wieder nicht. Zumindest nicht blöder als andere. Im Gegenteil! Saugeil immer, aber nicht saublöd!
Vorschlag: Wir wollen Schmollgruber als durchschnittlich unbedarft einstufen. – Danke.
Festspiele! Geschmacklich allerdings grenzwertig. Höchst-pseudo-ambitioniert und mit einer wahrlich zu Herzen gehenden dilettantischen Kunsthalbfertigkeit zelebriert, dass der Sau grausert‘, wenn sie’s sehen möcht‘! Ein zünftiges Operettenfestival! Singspiele! Musicals! So Sachen von Johann Strauß, Ralph Benatzky, Robert Stolz und Fred Raymond! Von Udo Jürgens, John Kander und Andrew Lloyd Webber! Wuchtig, fruchtig, hammermäßig!
Jaja, ganz so wie die grindige Gastronomie möge auch das Laientheater aus seiner Mördergrube ein Herz machen (oder so ähnlich), formulierte der zuständige – zugegeben: in erster Linie Rennstrecken- und Autocluster-affine – Landesrat seine mahnende Forderung an die Touristiker. „Tut endlich etwas für die Kultur, liebe Leute! Denn auf Dauer immer nur betteln allein, das genügt nicht, Herrschaften!“
Also: Operettensommer. Singsspielfestival. Musicalherbst. Blablabla. Große Wörter, fettgedruckte Namen. Dümmliche Projekte. Kurz: Insgesamt umso dünnere Ausbeute …
Denn so dünn, wie sich wie der durchschnittliche orchestrale Hinter – oder Untergrund hier darbot, so schäbig wirkte ganz allgemein auch die Talent-Auslese der mitwirkenden Amateure. Doch sie, die durchaus animierten Laien, sie taten, was sie nachweisbar nicht konnten, immerhin sehr gern. Und deshalb floss, sozusagen, jede Menge Herzblut …
Dann bot man, wie es sich in solchen Fällen gehört, ein paar angeblich echte Stars auf, gewesene Bühnengrößen, auch Gesichter, die man bis zum Überdruss schon von Film und Fernsehehen her kannte, und einige abgetakelte Gesangskapazitäten. Alles, was ich eben erst in Salzburg, Bregenz oder Mörbisch ausgebrüllt hatte, kam für entsprechend überhöhte Gagen her, um auch in der süd-oststeirischen Provinz noch ein bisschen mehr Geld zu scheffeln.
Und die Kulinarik? Bitte schön, wie schaut es auf diesem Gebiet aus?
Jedenfalls feierte das bewährte scheußliche Resopal der 1950er Jahre fröhliche Urständ‘ in so mancher aufgemotzten Gasthausstube. Jetzt allerdings adaptiert in den strengen Formen angeblich nordischen Designs, kombiniert mit buntglänzender japanischer Glaskunst oder vorgegaukelt indigener Keramik. Oder erst recht wieder aus Murano.
(Wie ich eben einem Anruf auf meinem Mobiltelefon entnehme, geht es meinem Bruder, Eduard, der seit Monaten schon an einer schweren Krankheit laboriert, zusehends schlechter. Also übernehme ich, Gabriel Neunkirchner, wieder die ehrenvolle Funktion, als Chronist über meist unehrenvolle Geschehnisse zu berichten. [Obwohl ich mich, ehrlich gesagt, auch nicht besonders gesund fühle …] Nun, man wird sehen. – Halt‘ durch, Edi!)
Darin offerierte sich natürlich, wie in besagten guten alten Zeiten, als sich mit einem Mal alles im Schatten des Wurlitzers abgespielt hatte, auch das überaus illustre Küchenangebot. Mit wahren Kalorien-Preziosen aus der Abteilung Hirtenspieß, Zigeunerschnitzel und Huhn Hawaii war Am Beginn des 21. Jahrhunderts naturgemäß kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Immerhin, ein paar leicht verhatschte Vorboten der pseudo-asiatischen Küche hatte es zwischendurch sogar hierorts schon gegeben. Denn zur Schlitzohrigkeit gesellte sich – sozusagen: direkt auf spielerische Weise – bald schon die Schlitzaugigkeit! Ja, doch!
Und im (weiter unten dann erwähnten) Wirtshaus „Zum Schwarzen Adler“ in Rülpsen an der Blasen rotierte sogar bald schon nach den weltweiten Millenniumsfeiern ein Fisch-Laufband, sprich: das erste Running Sushi der Süd-Oststeiermark!
Die Gasthäuser zeichnete mit einem Mal ein einheitlicher Pariser Bistro-Charakter aus, wie man ihn quasi global überall vorfinden konnte: von London und Belgrad bis Moskau und Helsinki, von Tokio und Berlin bis New York und Rom. Nur in Paris nun nicht mehr.
Ach ja: Dazu war tatsächlich der frühe Same schon in den stilistisch so bizarren bis grottenhässlichen, den insgesamt weitestgehend abwegigen Innenarchitektur-Ideen der 1950er Jahre gelegt worden. Als allenthalben die frühen TV-Apparate den Herrgottswinkel zu ersetzen begannen und wo nun der heilige Resopal in all seinen Varianten angebetet wurde.
Apropos 1950er. Auch die nicht weniger argen 1960er steuerten merkbar ihre noch immer glimmenden schwundhirnigen Kunststoff-Geistesblitze bei. Und diese schon ziemlich tiefe, gefährlich brodelnde und höllisch gurgelnde Geschmacks-Jauche schwappte spielend über von den daran naht- wie ersatzlos angehängten Sichtbeton-, Stahl- und Chrom-Scheußlichkeiten der 1970er und 1980er in die 1990er Jahre. Manches Discotheken-Infernum – hier kommen sogar wieder der oben schon unrühmlich erwähnte Rudi Montör und seine beschissenen „Asphalt Kakerlaken“ ins Spiel! – durfte wieder locken mit Live-Sound oder DJ-Gespeibe, as you like it. Auf jeden Fall jedoch mit Retro (und Post-Retro)!
O es war und ist eine Pracht!
Doch den nicht-vorhandenen Vogel schoss allemal die Festival-Pest allüberall ab.
Und jetzt ist auch noch mein Bruder Eduard gestorben … Mir, Gabriel Neunkirchner, bleibt auch nichts erspart. (Wir seufzen still, aber resignierend.)
Der Jubel!
Zum Jubeln gibt es im Leben – je nach Einstellung zur Welt, zu den Mitmenschen und überhaupt – nicht allzu oft Grund. Wer sich allerdings über alles freut, unabhängig davon, ob es angenehm ist oder schadet, gut oder weh tut, der wird sich über kurz oder lang die Abqualifikation als Idiot gefallen lassen müssen. Zumindest das Attest, etwa für einen Politiker zu taugen, nicht indes für ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft.
Doch der Rohrbacher Hans hatte, so schien es zumindest den übrigen Frauenweidenern zwischendurch, immerhin einige Anlässe, sich glücklich zu schätzen. Doch. Ja.
Der rothaarige Rohrbacher Hans (mit den vielen Sommersprossen) gehörte übrigens auch zur Bande des – zugegeben: ziemlich lichtscheuen – Fiala Otto, damals, in unser aller Volksschulzeit, also in den frühen 1950er Jahren. Wie der leicht stotternde Kronsteiner Felix, der zudem lange Zeit hindurch als Bettnässer verschrieen war (was besonders unangenehm auffiel, wenn er bei Freunden übernachtete …), dann der als Kind schon leicht paranoide, aber herzensgute Hüttenbrenner Max und auch der Birnhuber Franz, dieser immer schon eher lichtscheue Kerl. Außerdem dabei noch der stets aufgeregte, irgendwie fahrig (oder zerfahren?) wirkende Gundolfinger Herbert. Und natürlich auch wir, die Rohrbacher-Zwillinge, Eduard und Gabriel.
Ja, wir setzten damals alle unsere Vornamen hinter die Nachnamen. Grundsätzlich. Das war nun einmal so üblich in Frauenweiden an der Bramsel. Aber eigentlich überall anders auch, zumindest in der Süd-Oststeiermark.
Und angeredet haben wir einander dann erst recht mit „Du da!“
Es herrschte die sogenannte schwere Zeit, damals. Nur die Jahre davor, die bis 1945 also, die galten, besonders unter den älteren Frauenweidenern, aber auch den übrigen Erwachsenen aus Frehling, Neustadt, Henningen und Rülpsen an der Blasen, freilich als noch schwerer. Entbehrungsreicher. Härter. (Aber halt schon auch irgendwie – heldenhafter, gelt ja?!)
Ja, insgeheim und wenn die Männer halbwegs besoffen in den Gasthäusern hockten – egal, ob im „Roten Hirschen“ in Frauenweiden an der Bramsel, im „Goldenen Krug“ in Neustadt oder im „Schwarzen Adler“ in Rülpsen an der Blasen oder sonst wo -, da konnten sie just dieser Zeit, da der Adolf mit seinen braunen Granden geherrscht und regiert hatte über alles und jedes (mit eiserner Hand und zu aller Heil, natürlich!), dann freilich doch wieder schier unendlich Vieles an Schönem abgewinnen. Zumindest gab es genug, woran man sich gern erinnerte. Und darunter befand sich eben sogar – angeblich – Heldenmäßiges. Jaja.
Ihre Gesinnung und ihre Überzeugung, die waren außerdem von solcher Art gewesen, wie es die Zeiten geboten hatten. Und so waren sie geblieben, die Gesinnung und die Überzeugung, auch nachher. Denn: Auf ihre Gesinnung und auf ihre Überzeugung war stets Verlass gewesen. (Hart wie Krupp-Stahl, zäh wie Leder und so weiter …!)
Besonders der Pucher Schorsch, bald schon Obmann des örtlichen Kameradschaftsbundes und stark involviert in die politische Arbeit des vor Kurzem erst gegründeten Verbandes der Unabhängigen, der Vorgängerpartei der FPÖ, schwärmte intensiv von der deutschen Heldenära unterm Hitler. Im Suff dann sogar sehr lautstark. Er besang, er begrölte, sozusagen, die große Zeit, als noch er – der Vater vom Schorsch, der Heinrich Pucher (nein, natürlich nicht der Hitler!) – NSDAP-Ortsgruppenleiter in Frehling gewesen war. (Der alte Pucher hatte sich nach 1945 [und nach erfolgter Entnazifizierung] sukzessive versoffen und war bald darauf an seiner in überzeugender Weise erworbenen Leberzirrhose krepiert.)
Also, wie sie, die Alten, in der glorreichen Zeit damals, die paar Juden aus der Gegend massakriert hatten, das blieb lange noch ein immer wieder taugliches Gesprächsthema bei den Gelagen der Ewiggestrigen, als wäre es eine Heldentat gewesen … Genau, und die dreckigen Zigeuner, deren hatte man sich natürlich auch entsprechend angenommen! Aber im Fokus waren selbstredend die abschaumigen Juden gestanden. „Herr Obersturmbannführer, melde gehorsamst: Frehling ist judenfrei!“ – „Danke! Wegtreten!“
Da jubelte ihr hinterhältig-einfältiges Herz und ihr von Bier, Wein und Slibowitz umsäuseltes Klein-Hirn! Da schwollen sie förmlich an, diese mickrigen Läuse, miese Mitläufer, diese stumpfen Verbrecher und duckmausrigen Zur-Seite-Seher; da schwollen sie an zu wahren golden schillernden Dreckkäfern der eigenen Überheblichkeit. Einer Überheblichkeit, die keinerlei geschichtlichen oder politischen Wandel kannte oder gar anerkannte.
Einmal war man, sonst vielleicht selber fast immer getreten und missachtet oder zumindest übersehen, einmal im Leben war man wer gewesen! Ein Rädchen zwar nur, gewiss, aber ein Rädchen in welch großartigem Ganzen! Zu Respektspersonen hatten sie sich aufgeschwungen sogar! Waren Teilhaber geworden an der Macht, egal, wie menschenverachtend und von Grund auf verbrecherisch dieses NS-System auch immer gewesen sein mochte, dem es zu dienen galt mit ganzer Hingabe: Man gehörte dazu! Man war Teil dieses glorreichen großdeutschen Projekts! Ein Übermensch, jeder für sich, quasi! Scheiß dich an!
Also – wenn das kein Grund zum Jubeln gewesen war, dann weiß ich auch nicht!
Also hatte man gejubelt.
Und wenn wieder einmal von einem der Ihren, vom Sohn, vom Bruder, vom Vater vielleicht, keine Feldpostkarte mehr, stattdessen aber ein heeresamtliches Schreiben eintrudelte, das von des Betreffenden heldenhaftem Ableben im nimmermüden Ringen mit dem nichtswürdigen Feind Zeugnis gab, war das zwar kein direkter Anlass zum Jubeln, nein, aber zum Stolz!
Die Männer waren stolz auf ihre Helden. Und die Frauen weinten und drehten dabei ehrfurchtsvoll das Mutterkreuz in den abgearbeiteten Händen.
Die Kinder spielten Soldaten. Oder Reichstag zu Nürnberg. Oder sonst was Feines.
O man war von Stolz erfüllt.
Ja! Denn unser Stolz heißt Ehre! Und unsere Treue heißt – (oder so ähnlich).
Zum Jubeln gab es auch dort kaum Grund, dort, im kleinen gelben Haus mit dem löchrigen Dach, dem schiefen Schornstein und dem ordentlichen Garten. Nein. Bei den Rohrbachers war es nicht anders als bei den anderen Familien in Frauenweiden an der Bramsel (oder in Neustadt oder Rülpsen an der Blasen oder sonst wo). Die meisten Männer waren an einer der zahlreichen Fronten und hofften, als die raschen Triumphe der ersten Zeit (nach dem Kriegsbeginn im Herbst 1939) bald überraschend aufgehört hatten, sogleich wieder auf mehr Glück auf dem Schlachtfeld (und Gottes Segen, wie der damalige Pfarrer es ausdrückte, ein gewisser Franz Frohberger, eingeschworen auf seinen Kardinal Theodor Innitzer).
Die Zeit verging. Der Krieg wurde nicht minder unerbittlich.
Und die Frauen schufteten, mit den Kindern und den Alten am Hof verblieben und im Dorf, und sie hofften ebenfalls. Auf irgendwas. Zuletzt dann vielleicht auf die underwaffe- Oder zumindest auf eine Erleuchtung, die über die dort am Obersalzberg oder in Berlin oder sonst wo kommen möge. Damit nicht womöglich zum Schluss dann der teuflische Iwan auftauchen würde am roten Horizont! Und alles wäre aus und geschehen!
Der Rohrbacher Hans also, mit seinen roten Haaren, dem Meer von Sommersprossen um die Stupsnase herum und mit den seidigen, hellblond-rötlichen Wimpern, der Johann Rohrbacher – er war schon als Kind ein seltsamer Vogel gewesen. Wiedehopf wurde er, vermutlich wegen seines unübersehbaren Rotschopfs, von den einen genannt; Arschloch von den anderen. (Man kann eigentlich sagen: Ja, die meisten nannten ihn Arschloch.)
Trotzdem hatte man ihn in die Bande aufgenommen. Weiß der Kuckuck, warum.
Und doch sollte es sich später herausstellen, dass der Rohrbacher Hans bei weitem der Beste gewesen ist von allen. Und, wenn man so will: der Wertvollste unter ihnen. (Auch wenn just das keine besondere Kunst gewesen sein mag.)
Wobei man sich freilich, just was den Wert des Menschen betrifft, besser nicht allzu großen Illusionen hingeben sollte.
Aber der Hans war schon was Außergewöhnliches.
Um die Sache abzukürzen: Plötzlich war der Rohrbacher Hans weg. Von der Bildfläche verschwunden. Erst sehr viel später sollten wir dann erfahren, dass ihn ein in den 1920er Jahren in die Vereinigten Staaten von Amerika ausgewanderter Bruder seines Vaters zu sich nach New York kommen hatte lassen. Und der besagte Onkel Raimund, ein zwar kinderloser, doch ideenreicher Bursche, der recht rasch schon zum überaus erfolgreichen Geschäftsmann und später sogar zum Dollar-Millionär aufgestiegen war, schickte den John, den er sogar als seinen Ziehsohn annahm und zum späteren Alleinerben auserkor, in der Folge an verschiedene Hochschulen, unter anderem an die berühmte Universität von Princeton, wo Hans unter anderem bei einem der engsten wissenschaftlichen Mitarbeiter des berühmten Albert Einstein (am Institute for Advanced Study) studieren konnte. Einsteins Nachruhm war gleichsam noch greifbar wie sein kalter Pfeifenrauch …, hieß es.
Als sich das schließlich alles bis zu uns nach Frauenweiden an der Bramsel durchgesprochen hatte, hoffte man hierorts, die allenthalben für Glückspilze gehaltenen Männer, der alte Millionär und der junge, aufstrebende Wissenschaftler, würden sich ihrer Wurzeln entsinnen und ihrer alten Heimat zumindest einen Besuch abstatten. Doch weder dem aus Not heraus emigrierten Onkel Raimund noch unserem rothaarigen Hans war nach rückbesinnender Nähe oder gar Sehnsucht nach Frauenweiden an der Bramsel und nach uns zumute. (Worauf hätten sich die beiden Exilanten wohl auch rückbesinnen sollen und wonach gar sehnen?!) Außerdem hatte sich damals schon das zunächst so hoffnungsvoll wirkende Füllhorn des Glücks wieder sowohl vom ansonsten so geschäftstüchtigen Onkel als auch vom Ziehsohn in den USA abgewandt: Der alte Rohrbacher (drüben Rarebaker geheißen) hatte sich mehrmals gewaltig an der Börse verspekuliert und gab sich schließlich resignierend die Kugel.
Und der Hans mit dem feuerroten Haarschopf? Der starb bei einer Riesenexplosion in einem Chemielabor, das – in diesem Fall muss man sagen: leider – seinem Institut benachbart untergebracht war. Seltsamerweise verkohlte da einer fast völlig, der sein Leben lang wegen seiner extrem roten Haarpracht aufgefallen war.
Aber so geht es eben. Im Leben. Und darüber hinaus. Und: Für nichts gibt es Garantie.
Keine aufheiternden Geschichten und kein Grund zum Jubeln waren das.
Nur einen Effekt zeitigte das Geschehe: Die durchwegs stumpfsinnigen Daheimgebliebenen deuteten ihr eigenes Verhalten angesichts der grausigen Nachrichten aus Amerika wieder einmal als goldrichtig. Und: „Ja, ja, das Glück im Kleinen, tut es nur nicht verachten!“, predigte Pfarrer Anton Pfannleitner. „Die eigene Scholle -“ Doch da schliefen die meisten Kirchenbesucher schon mehr oder minder selig.
Aber sonst?
Die schöne Sylvia
Es gab, zugegeben, eine Reihe recht hübscher Frauen, die den kurvenreich gewundenen Lebensweg des Simon Haselstamm kreuzten. Diesen Lebensweg, auf dem Simon – wie schon ausführlich behandelt – die meisten brenzligen Situationen geschickt umrundete (um nichts desto trotz nachher sein heldenhaftes Auftreten in den diversen Gefahren wortreich und in den grellsten Farben schildern bezeihungsweise sich seiner Taten zu rühmen). Und manche Mädchen und Frauen kreuzten nicht nur seine Vital-Bahn, sondern trafen auch tatsächlich mit ihm zusammen. (Was sich meist nicht besonders günstig für sie auswirkte.)
Warum sich in den meisten Fällen keine allzu fixen Bindungen (oder gar Bünde fürs Leben) aus diesen Bekanntschaften entspannen, ist heute, im Nachhinein (und da die Affären, Mesalliancen und Liebeleien längst Moos angesetzt haben), kaum mehr zu eruieren.
Vermutlich hing auch das ursächlich mit Simon Haselstamms Naturell zusammen, nämlich brenzlige Situationen zwar gegebenenfalls zu evozieren, den so – selbst – gelegten Fallen dann jedoch letzten Endes liebend gern und sogar mit einigem Geschick erst recht zu entgehen. Wenn sich solches machen ließ. Und es ließ sich fast immer machen. (Zumal er längst schon zum Routinier darin geworden war.)
Mancher von uns wird sich noch an die hübsche blonde Sylvia erinnern können, für die Simon irgendwann (in der Mitte der 1980er Jahren muss es gewesen sein, denn wir trafen einander um diese Zeit zu einem unserer eher seltenen Klassentreffen) zu schwärmen begann mit kaum gebremster und auch gar nicht bremsbarer Leidenschaft.
Diese Sylvia Kleinhauser schien mit einem Mal sein ganzes Leben zu bestimmen. Vollauf. Von morgens bis abends. Und nachts, natürlich: Sylvia. Blond, blauäugig, vollbusig und langbeinig: Sylvia, rundum Sylvia. Ja! (Etwas, das nicht mit Sylvia zusammenhing, hätte er sich kaum vorstellen können, etwas, sozusagen: Transsylvianisches …)
Die ihn kannten – es waren allerdings nicht allzu viele, denn so besonderer Beliebtheit hatte sich Simon im Grunde genommen nie erfreuen dürfen -, die ihn kannten also, die wunderten sich, dass einer, der wie er im Allgemeinen jeder brenzligen Situation instinktiv auszuweichen gewohnt war (um, zugegeben, hernach umso großmäuliger angeben zu können, wie tapfer er doch gekämpft, schließlich obsiegt und die Katastrophe abgewendet habe!), just dieses Mal auf seinem gefährlichen Irrweg beharrte. Ja, dass Simon dabei blieb, das Projekt Sylvia beinhart durchzuziehen und, sozusagen, mitten ins Auge des Zyklons vorzustoßen.
Wenn indes überhaupt etwas den Ausdruck brenzlige Situation verdiente, dann diese. Ja, das mit Sylvia, das war, ohne jeden Zweifel, eine solche! Noch mehr: Sylvia war ein Verhängnis! Da kannst du Gift drauf nehmen!
Denn: Was anderes als eine brenzlige Situation konnte das, was er hier vorfand, für einen notorischen Vermeider just solcher brenzliger Situationen wohl sein, bitte? Noch dazu für jemanden, der sich deshalb auch jeglicher zu festen Bindung grundsätzlich [und bisher auch mit Erfolg] widersetzt hatte? Außerdem: Es würde, was sich hier nun mit der Folgerichtigkeit einer antiken griechischen Tragödie anbahnte, zudem noch unter Garantie zu einer Katastrophe schlechthin auswachsen. Das lag förmlich schon in der Luft …
So dachten zumindest wir. Denn die Begegnung mit einem solchen Prachtweib, wie die blonde Sylvia nun einmal eines war, musste zwangsläufig in einer Katastrophe enden. Anders konnte es nicht sein und geschehen! (Besonders für Menschen wie Simon Haselstamm, die gewohnt sind, brenzligen Situationen Instinkt-sicher auszuweichen. [Um später dann, im Nachhinein, zu stimmstarken Rhapsoden eben dieser brenzligen Situationen zu werden.])
Ja, gewiss doch! Sylvia würde ihn mit ihrer Liebe zermalmen und zerquetschen! Mindestens!, so dachten wir anderen (zugegeben: nicht ganz ohne Neid …). Auslöschen würde sie ihn. Vernichten und auslöschen! Im Optimalfall auffressen während des Vögelns – wie eine geile Gottesanbeterin. Zuletzt auf Null reduzieren, auf ein Häufchen Chitin.
Und einäschern. Ebenso mindestens.
Doch nichts von alledem geschah. Im Gegenteil: Sylvia Kleinhauser wurde, sozusagen, zu Wachs in seinen Händen. Wie willenlos. Ja, Wachs!
Und ein halbes Jahre darauf heirateten die beiden.
Dann kamen auch schon die Kinder: Walther, Hildegunde und die Zwillinge Felix und Fridolin.
Doch dann, vielleicht zehn Jahre später, starb Sylvia. Bei einem Autounfall, den irgendein total besoffener Verkehrs-Rowdy verursacht hatte. (Also doch …!)
Simon war mit wenig über fünfzig Jahren Witwer.
Und er mied in Hinkunft noch mehr als bisher brenzlige Situationen.
Wie eben bekannt wurde, hat nun auch Gabriel Neunkirchner, wenige Wochen nach seinem Zwillingsbruder Eduard, das Zeitliche gesegnet. (Wer soll jetzt die vorliegende Berichterstattung fortführen? – Nun, irgendein, geflissentlich an Klatsch und Tratsch Interessierter wird sich vermutlich bald schon finden lassen. Und er darf sich wieder, wie schon Gabriel und Eduard Neunkirchner, bescheiden hinter dem Kürzel wir verbergen.)
Und wieder nahm ein Ort regen Anteil am Unglück eines Mitbewohners. Allein schon in der daraus zu folgernden Tatsache, zumindest diesmal nicht der Leidtragende gewesen zu sein.
Just in diese nachdenkliche Stimmung fiel dann die Auflösung eines Rätsels von früher: Wir erwähnten die seltsame Geschichte bereits, nämlich das so unglückliche Ende des in die USA ausgewanderten, später zum Millionär gewordenen Raimund Rohrbacher und seines nicht minder tragisch zu Tode gekommenen Neffen Hans.
Nun sickerte langsam durch, dass in beiden Fällen der Birnhuber Franz seine schmutzigen Hände im Spiel gehabt haben soll … Er, der auch schon seit geraumer Zeit von der hiesigen Bildfläche verschwunden war. Er, der – wie nun gemutmaßt wurde – wahrscheinlich als einziger Doppelspion aus unserer Gegend in die unrühmliche Geschichte des Ortes eingehen würde (wenn man seiner jemals habhaft werden sollte). Ja, der weitgehend unauffällige Franz Binbauer hatte im Auftrag der CIA und/oder des KGB (oder der Russen) den sonst so vorsichtigen und gewissenhaften Raimund Rohrbacher (alias Rarebaker) in seine abenteuerlichen finalen Finanzspekulationen getrieben – übrigens mittels einer halbseidenen platinblonden Edelnutte namens Nancy Firefox, die in Wahrheit Camilla Crowstow hieß. Zu allem Überfluss: Wahrscheinlich hatte sich Raimund gar nicht selbst erschossen, sondern einer von Birnhubers Leuten war im Wortsinn am Drücker gewesen.
Und auch den Neffen, den ehemaligen Rohrbacher Hans, den Rotschopf mit den Sommersprossen um die Stupsnase, den angehenden Spitzenwissenschaftler in der Folge Albert Einsteins, hatten sie in das Labor gelockt, bevor sie es in die Luft sprengten.
Noch etwas: Birnhuber hatte auch den Unfalltod der Sylvia Haselstamm inszeniert. (Warum? – Das wird allerdings ein Rätsel bleiben. Noch dazu, da jetzt häufig sogar Zweifel daran laut werden, dass dieser Franz Birnhuber überhaupt gelebt hat. Manchen Leuten wäre es zumindest lieber, es hätte ihn, dieses Symbol des Bösen, erst gar nie gegeben. Wie auch den Nationalsozialismus, die Griechenland-Krise und den US-Präsidenten Richard Nixon.)
Doch bleiben wir dabei, dass dieser Unhold existiert hat. Ein Frauenweidener, der zumindest drei andere aus dem Ort auf dem Gewissen hatte. (Doch der Ausdruck ist in diesem Fall mehr als euphemistisch: Franz Birnhuber verfügte nämlich über nichts, was auch nur annähernd als Gewissen bezeichnet hätte werden können. Birnhuber – wenn es ihn denn überhaupt gegeben hat – war dennoch [oder vielleicht gerade, weil er ohne moralische Kontrollfunktion konstruiert worden war, optimal] für seine obskuren Jobs geeignet gewesen.)
Das, was sich da abgespielt hatte und immer noch abspielte, hätte vermutlich sogar die Vorstellungskraft des sittlich ebenso unbrauchbaren Pfarrers Anton Pfannleitner überstiegen. Und der war bekanntlich einiges gewohnt gewesen. Schon berufsbedingt und von der Organisation her, die als sein Brotgeber fungierte. Und die, wie man weiß, auch recht gut war im unauffälligen Beseitigen von – warum auch immer – unliebsamen oder störenden Zeitgenossen. Per saecula saeculorum. Amen.
Simons Ende
Er hätte zu verschiedenen Zeitpunkten in seinem Leben, danach gefragt, durchaus verschiedene Ängste benennen können, die ihn gerade plagten. Oder: Von denen er heimgesucht wurde. Heimsuchen und Heimsuchung, das waren Begriffe, von denen er glaubte, sie umschrieben die Qualität seiner Furcht besser, als es die Worte Plagen und Plage vermocht hätten. Und noch etwas: Es machte wenig Unterschied, ob diese Bedrohung – eine solche stellten die Angstinhalte ohne Zweifel dar! – tagsüber, somit im Wachzustand, oder nachts, beim Schlafen und Träumen, über ihn kam. Er spürte, wenn es so weit war, eine regelrechte Beklemmung, litt unter fast körperlich spürbarem Schmerz und kam sich weitgehend wie gelähmt vor. Keiner rechten Tätigkeit fähig, und, seltsamerweise: schon gar keiner unrechten.
Im Traum. Im Wachen. Überhaupt.
Manche seiner Ängste wiederum schienen ihm (beinahe) vernachlässigbar. Sie waren da, wie – unliebsame Begleitumstände. Fast Indifferenz als Reaktion evozierend. (Wenn Indifferenz überhaupt eine evozierbare Reaktion ist. – Doch eher bloß der Schatten einer solchen, oder?!)
Dann gab es freilich die anderen, die mittelschweren Ängste. Und die ganz schweren.
Da war zum Beispiel die Vorstellung, von einem riesigen Akkordeon-Orchester – es musste über Hunderte von Mitgliedern verfügen, die alle mit verschieden großen Instrumenten ausgestattet waren -, das Bild, von einem Furcht-erregend riesigen Akkordeon-Orchester überrollt zu werden. Ja, regelrecht zerquetschten würden ihn die sich bedrohlich nahenden Musikerinnen und Musiker auf ihren 32-, 40- oder 120-bässigen Geräten! Zerquetschen, wenn sie ihn endlich zwischen ihre Balge bekämen, die zuletzt zu einem Riesenbalg verschmolzen (wie die Akkordeon-Spieler zu einem Riesen-Akkordeon). Das glich einem Akkordeon-Leviathan. Und erzielte zuletzt vermutlich ähnlich deprimierende Effekte. (Denn, so weit wir dem Philosophen Thomas Hobbes glauben wollen, zeitigt sein kurioser völkischer Über-Leib nicht unbedingt gerade demokratische Folgen. Doch auch die Ziehharmonika muss ja nicht genuin demokratisch sein …)
Diese Vorstellung, nämlich von einem riesigen Akkordeon-Orchester zerquetscht zu werden, stellte sich in Simon Haselstamms Leben, besonders in seinen weniger angenehmen Träumen, immer wieder ein. Alternierend mit dem anderen bösen Gedanken (oder gar Traum), nämlich der ebenfalls äußerst unangenehmen Sache mit dem hohen Berg. Auf dem stand er, wenn dieses Bild ihn bedrückte, ganz hoch droben, wo weder Gämse noch Wilderer sich einfanden (und auch kein Alpenverein obwaltete). Er, der sein Leben lang unter ärgster Höhenangst zu leiden hatte (außer in manchen, so ganz speziellen Träumen vielleicht [in denen er dann sogar fliegen konnte!]), er stand also auf einem immens hohen Berg und wusste, dass er Gefahr lief, jederzeit abzustürzen. Jederzeit. Und: ganz tief.
Doch die Sache mit dem sich unerbittlich nähernden Akkordeon-Orchester erschien ihm letztlich dann wesentlich schlimmer. Ja, doch!
Freilich, es kommt am Ende meist anders, als man es vielleicht erwartet hat, zumindest insgeheim erwartet hat, die ganze Zeit über. Das Brenzlige einer Situation entpuppt sich dann als halb so wild.
So auch jetzt: Ja, es war, so gesehen, eigentlich gar keine brenzlige Situation. Mehr.
Doch für einen, der solchen brenzligen Situationen stets, ein ganzes Leben lang (mit ganz wenigen Ausnahmen), zu entgehen verstanden hatte, dann doch wieder irgendwie – überraschend. Überraschend insofern, als es mit einem Mal keinen Ausweg zu geben schien. Oder besser: keine andere Möglichkeit. Keinen Richtungswechsel. Keine flüchtige Idee – auf der Flucht. (Wenn es sich denn um eine solche handeln sollte …)
Und in dieser Lage hatte sich Simon noch nie zuvor befunden; glaubte er zumindest. Nein. Kein Ausweg. Kein Fluchtweg. Keine Finte. Keine Kurve, die man kratzen hätte können. Nichts, was ihm auf die Schnelle einfallen hätte wollen.
Dann da – die kleine (lange erträumte) kleine Treppe aus Stein. Mitten auf der spätsommerlichen Blumenwiese, wo sich Bienen, Hummeln und Schmetterlinge befanden sonder Zahl, Käfer, Asseln und Ameisen … Kurz: Leben.
Die Treppe. Ein paar Stufen nur. Eine Treppe, die nirgendwohin zu führen schien. Die paar Stufen. Ein Treppchen geradezu. Fast wie der Steigbehelf in einer Bibliothek, nur nicht aus Holz und nicht so filigran; nein, wuchtig, bei aller Kleinheit.
Die kleine Gruppe von verhalten gestikulierenden Leute – wir sahen sie nur aus der Ferne -, ein Grüppchen von Zufallspassanten, Spaziergängern mit Kindern und zwei, drei Hunden, die ein wenig irritiert an dem Treppchen empor-sprangen; wohl auch nervös das Bein hoben.
Ein paar Späher oder Sperber oder Bussarde, ganz oben im kaum bewölkten Blauhimmel.
Wir kamen näher und schnappen auf, was da an Gesprächsfetzen abgesondert wurde, so nebenbei. Wenig aufgeregt. Vielleicht sogar ein bisschen – amüsiert.
Ja, er, Simon, habe sich jedenfalls hinaufbegeben, die paar Stufen. – Und was dann? Was war dann geschehen? – Dann? – ?! – Ja, dann ist er plötzlich weg gewesen. Weg, ganz einfach: verschwunden … – Ja, so ist das gewesen …
Also, dass er weg war, das stimmte. Ja.
Und dass es ihn zuvor noch gegeben hatte, das war quasi nachweisbar.
Doch jetzt gab es ihn, Simon Haselstamm, allem Anschein nach, nicht mehr. Nicht. Mehr.
Er war weg.
Egal, ob er einem nun abging oder nicht. Egal. Er war weg.
Dann, mit der Zeit, verliefen sich die Leute.
Die Treppe? Man würde sie bald vergessen. Sie nicht mehr wahrnehmen.
Sogar die Erinnerung neigt bekanntlich zum Verblassen.
E N D E