
Ein Blick
Eine halbwegs tragische Schulgeschichte mit
literarischen Bezügen
von
Bernd Schmidt
© by Bernd Schmidt, Graz 2015.
(ENDFASSUNG: 2016.)
…
Anfangs ging’s per Bahn durch graue Häuserklüfte,
Bis zur Endstation der Linie Neun,
Wo Assessor Eisenreich den Kompass prüfte –
Und dann ging es weiter querfeldein.
So gelangten sie zu ihrem Wanderziele.
Dieses war ein Denkmal und sowohl
Tummelplatz für vaterländische Gefühle
Als auch – wie so häufig – innen hohl.
…
Martin Morlock, Arthur, der Spielverderber
*
Noch eine lange Weile wartete Karl, ob man
sich oben nicht doch noch anders entscheiden
würde. Zweimal rief er in Abständen: „Ich bin
noch immer da!“ Aber kein Laut antwortete,
nur einmal rollte ein Stein den Abhang herab,
vielleicht durch Zufall, vielleicht in einem
verfehlten Wurf.
Franz Kafka, Amerika
*
I
„Lieber Kollege! Achtung bei den Pausenaufsichten!“ So hatte sein Einführender, der alte Fuchsbilcher, immer wieder gesagt. „Sei da stets dahinter! Du kannst selbstredend keinem Schüler verbieten, aus Blödheit oder weil er depressiv ist oder boshaft, aus dem offenen Fenster im vierten Stock zu springen. Nur: Du musst dabei sein! Gerd, du musst deine Pausenaufsicht einhalten! Befehl ist Befehl! Da geht es nicht um das tote oder verletzte Kind; das ist, im Grunde genommen, nämlich Nebensache. Nein, da geht es ums Prinzip: Aufsicht? Wo warst du? – Ah, ohnedies da! Brav! – Ja, ist eben passiert, kann man nichts machen …“
Dann, nach der sechsten Stunde, lud er ihn auf zwei, drei Krügel kühlen Bieres im nahegelegenen Gasthaus „Zur Goldenen Kugel“ ein (was damals noch eine kulinarische Option war). Und auf ein paar Schnäpse. Denn: „Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps.“
Hier und in anderen vergleichbaren Lokalen saßen sie gern. Man konnte da nämlich recht gemütlich über schulische und, unter Umständen, wenn es sich gerade ergab, auch über private, über persönliche Angelegenheiten – und sogar: über Probleme – reden und fabulieren. Dabei zeigte sich, dass Gerd wie auch der doch um einiges ältere (und erfahrenere) Fuchsi in mancher Hinsicht sehr ähnlich dachten; und empfanden. (Und es sich [und ihrer Umgebung] nicht immer leicht machten …) Die Ähnlichkeit ihrer Standpunkte mochte Außenstehende überraschen; doch tatsächlich waren sie nicht nur beide Brillenträger, auch ihre Einsichten stellten sich nicht selten als weitestgehend identisch heraus.
Fuchsbichler war seit Jahren geschieden – ein Kapitel seiner Vita, das er nur ungern (und nach sehr vielen geistigen Getränken) berührte. Dass er zu seiner ehemaligen Ehefrau keinen Kontakt hatte, schien für ihn in der Tat noch das geringste Problem zu sein (angeblich hatte zudem sie ihn verlassen). Nur: Kaum etwas von seinen erwachsenen Kindern, einem Sohn und einer Tochter, und deren Familien zu erfahren, betrübte den alten Pädagogen.
Der Deutsch- und Geschichte-Lehrer im Rang eines Oberstudienrats erzählte jedoch umso lieber und durchaus pointiert von seiner (nicht zuletzt durch Kriegswirren und Molesten der Nachkriegszeit gekennzeichneten) Karriere, die er – aus Klugheit wohl – stets mit einigem Geschick im guten Mittelfeld der schulischen Hierarchie zu halten verstanden hatte. („Sei da, wenn man dich braucht, aber tu dich nicht über Gebühr hervor …“, lautete ein diesbezüglicher Stehsatz des um solche Sentenzen nie Verlegenen.)
Immerhin hatte auch Fuchsi immer wieder mit mancherlei Anfeindungen zu kämpfen gehabt, deren Gründe nicht selten eher nebulöser Natur und am ehesten noch im Politischen zu orten gewesen waren; galt er doch den einen als zu liberal, den anderen wiederum als zu konservativ – je nachdem, was eben gerade gefragt oder nicht gefragt war …
Zudem war der gewiefte Lehrer, für den das Nazi-Regime die quasi zwangsbeglückende Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend und dann auch noch die Angehörigkeit in der NS-Armee mit sinnlosem militärischem Drill zu einem zutiefst verbrecherischen Zweck parat hatte, aus einem tiefroten Elternhaus gekommen. Fuchsbichlers während des Krieges verstorbener Vater war unter den Austrofaschisten ins Gefängnis gesteckt worden, was er später dann nie mehr verwinden hatte können. Und die Mutter war ihm bald darauf ins Jenseits gefolgt.
Das alles hatte Erwin Fuchsbichler entscheidend geprägt.
Kein Wunder, dass der in politischer Unterdrückung aufgewachsene Fuchsi später dann, wenn immer es ihm als wichtig erschien, den Mund aufmachte; was ihm naturgemäß nicht nur Freunde bescherte …
Nein: Prof. Fuchsbichler scheute sich einerseits nicht, etwa intervenierenden Eltern und schleimigen Kollegen, die sich wohlmeinend einmischen zu sollen glaubten, gegenüber Unpopuläres zu äußern. Er hielt sich, zum anderen, auch im dienstlichen Umgang mit Direktion, Landesschulrat und Ministerium im Kundtun seiner Meinung nicht zurück.
Zum anderen galt er als überaus umgänglicher Typ. Und seine Geselligkeit, gepaart mit Witz und Schlagfertigkeit, ließen ihn immer wieder zum Pointen-sprühenden Zentrum mancher Lehrerkonferenz werden; besonders beim gemütlichen Teil in einem der schulnahen Restaurants oder Wirtshäuser. Da konnte man sich auf Fuchsis treffende Wortspiele wie auf sein Sitzfleisch und seine Standfestigkeit verlassen.
„Jaja, die Vorsicht“, kam er wieder auf ihr aktuelles Ausgangsthema zurück. „Sie spielt in unserem Beruf eine immens große Rolle. Auch wenn wir davon ausgehen wollen, dass die meisten Lehrer ihre Schüler lieben und auch gern unterrichten: Das ist nun einmal nur die halbe Miete …! Aufpassen – hörst du? aufpassen – musst du allemal! Nicht so sehr, damit nichts passiert, sondern, damit du, wenn doch was passiert ist, nicht als Idiot dastehst! Übrigens, dabei spielt die Vorsicht des verantwortlichen Lehrers bei Wandertagen eine ganz bedeutende Rolle! Bitte besser den lieben Gott darum, dass es regnet …“
Und jetzt das –
Zwischenbemerkung
Was in der vorliegenden Geschichte beschrieben wird, spielt sich hauptsächlich Anfang der 1970-er Jahre ab. Gerd Prank ist zu dieser Zeit ein junger AHS-Lehrer und unterrichtet die Fächer Deutsch und Geschichte am Grillparzer-Gymnasium (offiziell: Bundesgymnasium und Bundesrealgymnasium Franz Grillparzer, mit mathematischem und neusprachlichem Zweig sowie Wahlmöglichkeit zwischen Kunstgeschichte und Musik am Beginn der Oberstufe) in G*. Prank ist frischgebackener Vorstand seiner 1 A-Klasse, die 28 Buben besuchen, da die Schule noch als reines Knabengymnasium geführt wird.
Er kommt mit seinem Direktor, Hofrat Dr. Fritz Fürnkranz, der freilich schon ein Auslaufmodell ist (und sich auch selbstironisch-melancholisch ganz gern so bezeichnet), und dessen dickem, recht gemütlichen Stellvertreter, Oberstudienrat Prof. Dr. Georg Schrunzberger – hinter seinem breiten Rücken und seiner spiegelnden Glatze gern Schrunzi genannt -, sowie dem gesamten, hauptsächlich männlich zusammengesetzten Lehrkörper gut aus. (Immerhin waren einige der alten Herren ja auch noch vor wenigen Jahren seine Professoren!) Der junge Lehrer ist jetzt schon sechs Jahre an der Anstalt; die zwei am Anfang seiner Laufbahn allerdings noch als Vertragslehrer mit Sondervertrag.
Gerd Prank mag das Grillparzer-Gymnasium, hat ihn, wie angedeutet, doch schon als Schüler acht Jahre hier die Schulbank gedrückt. Wenn es Probleme gibt, wendet er sich an seinen Mentor, Oberstudienrat Prof. Dr. Erwin Fuchsi Fuchsbichler, der auch sein recht umsichtiger Einführender in beiden Fächern gewesen ist. Und mit Erwin trinkt er auch manches nachmittägliche oder abendliche Bier in der nahen Gastwirtschaft „Zur goldenen Kugel“.
Und auch sonst ist Plank dem Alkohol – lange Zeit weitgehend im sozialen Rahmen, versteht sich – zugeneigt; er entspricht darin ziemlich exakt den genetischen Gegebenheiten seiner Familie, in der man um den Grund für einen guten Tropfen nie verlegen war. (Oder man soff eben einmal grundlos. Zu einer gesundheitlichen oder sozialen Gefahr war dies freilich nie geworden; sogar bei seinem Vater, einem Sportjournalisten, nicht. Und auch Opa – die Planks bewohnten die Parterre-Wohnung der den Eltern von Mutter Rosa gehörenden Gründerzeit-Villa am Stadtrand -, selbst durch viele Jahrzehnte Lehrer, zuletzt sogar Direktor, war einem guten Trunk gegenüber kaum jemals abgeneigt gewesen.)
Der Status des Mittelschullehrers – die AHS wird umgangssprachlich zur Zeit, in der die zentrale Handlung dieser Erzählung spielt, meist so genannt (übrigens: sogar später noch; [mit dem Begriff der Neuen Mittelschule, wie er Anfang des 21. Jahrhunderts aufkommt, hat dies freilich nichts zu tun]) -, der Status des Mittelschullehrers ist durchwegs ein ansehnlicher. Doch das sollte sich, wie man nur zu gut weiß, inzwischen sukzessive ändern.
Obschon Prank das, was nun den eigentlichen Mittelpunkt der Geschichte ausmacht – ein Unfall anlässlich eines Wandertags mit tödlichen Folgen -, ziemlich aus der Bahn wirft, wäre ihm dennoch weiterhin ein grosso modo geruhsames Berufsleben beschieden gewesen. Doch sein Saufen begann ab diesem Zeitpunkt langsam aber stetig und mit den Jahren das Label des sozial wie gesundheitlich Verträglichen zu übersteigen. Er und seine Angewohnheit werden weiterhin allerdings und nichts desto trotz allgemein toleriert – sowohl von seinen Vorgesetzten als auch von der Kollegenschaft; nicht zuletzt, weil er dessen ungeachtet immer noch einer der fähigeren Lehrer ist …
Eine andere, gravierendere, nämlich eine Krebserkrankung, führt dann letzten Endes zum tatsächlichen Einschnitt. Und es kommt sogar zur Frühpensionierung des Prof. Gerd Prank.
Ach ja: Etwas anderes Unangenehmes beschleunigt seinen Abgang.
Immerhin, spätestens im Laufe des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts kann Gerd Plank die Malaise, in die das Schulwesen in unserem Land sukzessive geschlittert ist, mehr oder minder behaglich vom Kaffeehaustisch aus betrachten. Leber-bedingt ist Alkohol nunmehr zwar schon seit einiger Zeit ein Tabu für ihn, aber der eine oder andere Espresso oder Cappuccino tun es als Begleitgetränke auch. Oder prickelndes Mineralwasser.
Im Grunde genommen ist es ihm zwar egal, ob es stimme, was die Masse der Leute annimmt, das nämlich der Lehrberuf so beneidenswert privilegiert sei; mit den langen Ferien und den verhältnismäßig wenigen Stunden an Lehrverpflichtung. (Zudem können 20 oder 22 Wochenstunden in den Klassen und vor Schülern je nach den Umständen als schier unendlich lang oder erstaunlich kurz empfunden werden.)
Doch mitunter sieht er die diesbezüglichen Diskussionen bloß als Ausdruck des üblichen Neids und der allenthalben gepflegten Nicht-Solidarität, wie sie das Berufsleben ganz allgemein und immer stärker werdend bestimmen. Diese Eigenschaften sind es wiederum, die, seiner Meinung nach, überhaupt das Leben in zunehmendem Maß und nebenbei: fast allen daran Beteiligten gehörig vermiesen. Job-Sicherheit ist längst ein Fremdwort, und auch die lange hochgepriesene solide Ausbildung (am besten: eine akademische) verfügt über keinerlei Garantie-Charakter mehr …
Immerhin, in den 1970-ern erreichte Österreich wie ganz West-Europa quasi den Höhepunkt der Konjunktur; alles, was später kommen würde, konnte, genau genommen, nur mehr einen Abstieg bedeuten. Dafür sorgte bereits die merkbare Tendenz, die Ressourcen auf den verschiedensten Gebieten (mittels extraktiver Institutionen, wie es Wirtschaftshistoriker und Ökonomen gern nannten) schonungslos und über jede Gebühr auszuschlachten. Diese durchaus gefährlichen Gegebenheiten wurden von der Mehrheit der Menschen im Westen unverständlicherweise achselzuckend zur Kenntnis genommen. Daran änderte kaum etwas, dass diverse durchaus rührige Umwelt- und Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs), aber auch der Club of Rome, nicht müde wurden, warnend darauf hinzuweisen.
Doch auch der prolongierte Glaube an den (in Wahrheit längst inhaltsleer gewordenen) Fortschritt um jeden Preis war schon sukzessive an die Stelle gewachsener Umwandlungen (und kreativer Zerstörung) getreten, die auch und selbstverständlich soziale Notwendigkeiten berücksichtigt hätten.
Ob man, noch bevor der Ausdruck Globalisierung plötzlich in aller Munde war, die allumfassende Knebelung (besonders im ökonomischen Bereich) schon zu spüren bekam, spielte da eigentlich kaum eine Rolle.
Jedenfalls hatten die Wirtschaft sowie das Finanz-, Geld- und Börsenwesen die Politik längst fest im Griff; und die reichlich nebulöse und zudem weitestgehend inhumane Zielvorgabe gesteigerten Wachstums um jeden Preis galt immer noch als das Maß aller Dinge. Sicher war – zumindest für die diesbezüglich Sensibleren: Es wird langsam ungemütlich …
Gut, man wusste noch nichts von geplanter Obsoleszenz (besonders bei technisch-elektronischen Geräten, und Fair Trade war als Begriff ebenfalls noch kaum gebräuchlich; immerhin vom zu befürchtenden Klimawandel sprach man schon, hin und wieder; und vorläufig noch – am Rande. Freilich, niemand machte sich Sorgen darüber, wie man sich etwaigen Flüchtlingen aus Afrika gegenüber verhalten solle – wären sie am besten an Ort und Stelle zu liquidieren, oder sollte man sie doch lieber auf dem Mittelmeer krepieren lassen, über das sie auf klapprigen Fischkuttern in Richtung Italien strebten? Das stand noch bevor.
Der Kalte Krieg war fast schon zu einem vertrauten Zustand geworden. Später dann –
Später dann wurde es tatsächlich sukzessive noch ungemütlicher.
Doch auch die Banken- und (Welt-)Wirtschaftskrise am Beginn des 21. Jahrhunderts sowie eine zunehmende politische Verunsicherung durften ihm, dem alsbald zum Rentenempfänger Gewordenen, mehr oder weniger egal sein: Hatte er immerhin seine Kunst, seine Musik, seine Literatur, kurz: seine Kreativität – und seine Bücher. (Ja, doch: auch seine Ängste und depressiven Phasen …)
Und ab 2006 hatte er dann auch definitiv seine krankheitsbedingte Frühpension.
Krankheitsbedingt? Nun – ja. Seine Krebserkrankung hatte sich als heilbar erwiesen, und so war es eigentlich zum nunmehr raschen Verlust des Jobs weniger seines maladen Zustands wegen oder ob seiner – nunmehr angesichts des eher ernüchternden Leberbefunds (sic) ohnedies beendeten – Dauersaufereien gekommen.
Nein, der eigentliche Grund war ein anderer: Der nunmehr durchaus nüchterne Prof. Prank hatte ein Jahr zuvor in einer Oberstufenklasse in Geschichte den von der Regierung des Osmanischen Reichs (mit Wissen der Führung Österreich-Ungarns und des Deutschen Reiches) angeordneten Genozid an den Armeniern von 1915 als einen solchen bezeichnet.
Und so was tut man besser nicht. Geschweige denn, wenn just der Vater eines (schlechten) Schülers dieser Klasse – noch dazu ein wohlhabender türkischer Teppichhändler sowie Wohltäter – Vorsitzender des einflussreichen Elternvereins ist
B.S. 2015
Fortsetzung folgt!
II
Der Tag war ein besonders schöner.
Anfang Juni (am Beginn der 1970er Jahre), doch schon mit Juli-Attitüden in den Ästen, in denen dickbauchige Kohlmeisen und nicht minder zur Kugelförmigkeit neigende Spatzen lauthals sangen. Oder besser: schrien. Sie krakeelten wie wild-gewordene Tenöre an einem Provinztheater. Lust am Schabernack, aber auch Rivalität und ausgesprochene Liebestollheit unter dem Gefieder. Man musste geradezu die Balkontür öffnen, den Transistor-Radioapparat hinaus auf den Frühstückstisch stellen und die Sonne genießen bei Toast und Kaffee.
Gerd verstand sich zwar nicht besonders gut aufs Lesen aus den Wolken-Zeichen. Doch hätte ihm das diesmal auch kaum etwas genutzt – der Himmel war weitgehend wolkenlos und strahlte quasi in beruhigendem Blau. (Beinahe schon scheinheilig schön …) Es würde, das konnte man annehmen, im Verlauf des Vormittages sogar noch ziemlich heiß werden.
In den Sommerferien seiner Kindheit, die er zum Teil (mit den Eltern, so es Vater Roberts berufliche Verpflichtungen zuließen, oder auch nur mit Mutter Rosa gemeinsam) auf dem Land verbrachte, hatten ihm die anderen – ortsansässigen – Kinder auf dem oststeirischen Bauernhof, wo sie zu diesem Behufe wohnten, ein wenig über die Bedeutung der Wolken und wie sie genannt wurden beigebracht. Da konnte er aus diesen in der Luft schwebenden Ansammlungen von Kondensationsprodukten des Wasserdampfes, wie die Meteorologen die wundersamen weißen Spritzer und Federn (Cirrus), die schönen lichten Eisschleier (Cirrostratus) und die putzigen Schäfchen-Wolken (Cirrokumulus) zusammenfassend ziemlich nüchtern nennen, sogar grosso modo erahnen, wie es wettertechnisch noch werden würde … Imposante Ballungen droben am Himmelszelt und die herannahende Gewitter ankündigenden Wolkenungetüme (Cumulonimbus) wirkten auf ihn besonders faszinierend, und ein draußen, auf dem Feld, in der Nähe des Waldes etwa, unmittelbar erlebtes Unwetter mit Blitz und Donner, das war schon beeindruckend! (Und beängstigend.)
Doch jetzt und hier?
Ein paar alte Bauernregeln krochen, trägen und noch verschlafenen jungen Hunden gleich, aus den Dachbodennischen seiner Kindheitserinnerung (oder waren es nicht eher halbblinde Jungkatzen?): „Stellt der Juni mild sich ein, wird mild auch der Dezember sein“ oder „Juni trocken mehr als nass, füllt mit gutem Wein das Fass“, „Juniregen und Brauttränen dauern so lange wie’s Gähnen“ oder auch „Menschensinn und Juniwind ändern sich oft sehr geschwind“. Und, zwischendurch (nur just nicht im Juni) geltend: „Donnert’s im Mai, ist der April vorbei!“
Aber längst war er zum Instinkt-geschwächten urbanen Menschen rudimentiert, und das wenige, was er als Kind auf dem Land über die Natur erfahren hatte, klang lediglich als leises Echo aus der Ferne nach; so wie seine Geschmacksnerven mitunter schwache Erinnerungen an die wohlschmeckende Ziegenmilch und den außerordentlichen Frühstückssterz seiner sommerlichen Ferientage, die er weitgehend unbeschwert verbracht hatte dort, in der Ostersteiermark, oder den ersten (heimlich getrunkenen) Most evozierten.
Also gut, es war ein geiler Tag, wie man Jahrzehnte später vielleicht sagen würde – in Schülerkreisen. (Noch nicht megaphat allerdings.)
Immerhin ein Tag, wie geschaffen für einen Wandertag.
Gerd erinnerte sich: Selber noch ein Schüler, da hatte er sich auf Wandertage stets gefreut. Da hatte er sogar immer heiß darauf gehofft, schon am Abend zuvor, dass es in der Früh nicht regnete. Dass es schön sei und schön bleibe.
Das hing, so glaubten zumindest seine Eltern, damit zusammen, dass sie so wenig Ausflüge mit Gerd gemeinsam unternehmen konnten. Doch die Sonntagsdienste des Vaters, der als Journalist bei einer der vier Tageszeitungen der Stadt arbeitete – und ausgerechnet das Ressort Sport leitete -, behinderten just ihre sportlichen Tätigkeiten im Grünen … (Ja, früher, da war der alte Robert Prank selber ein Spitzenradfahrer gewesen. Zudem – angeblich – ein exzellenter Skifahrer, Tennisspieler und sogar Fußballer; überhaupt ein Alleskönner auf dem Rasen und auf dem Sand (egal, ob grün oder rot), im Wasser oder in der Luft. Aber heute?
Lag es an den bequemen Sechziger- und Siebziger Jahren? Dem Überangebot, das einen aus Radio und Fernsehen bedröhnte? Man neigte zum Konsumieren. Und warum auch nicht? Hatten doch alle noch die Entbehrungen der Nachkriegszeit in frischer Erinnerung. (Manche wie seine Eltern und Großeltern sogar noch die Kriegszeit selbst und die Hitler-Ära; egal, auf welcher Seite der eine oder andere auch gestanden haben mochte. Ja, Omi und Opa erzählten mitunter sogar noch recht lustig vom alten Kaiser Franz Joseph, der da im Schloss Schönbrunn über seinen Akten gebrütet habe. Gerd hatte anfänglich beinahe schon gedacht, sie wären hin und wieder zum Frühstück oder gar zum Mittagessen bei dem alten Herrn eingeladen gewesen, auf Kaiserschmarren, Kaffee und Gugelhupf oder zumindest auf ein Frankfurter Würstel mit Kremser-Senf und einer Kaisersemmel …)
Außerdem, so argumentierte besonders Rosa, seine Mutter: Gerd habe es, als Einzelkind, im Sport und beim Turnen et cetera naturgemäß schwerer als seine Kollegen, die zu mehreren aufwuchsen. Da hatte man automatisch bald gelernt zu teilen; und sie wisse, wovon sie rede.
Doch auch die eher spärliche Freizeit des Vaters musste da entsprechend berücksichtigt werden, ging es um Ausflüge ins Grüne. Aber man hatte ja, um die großelterliche Villa herum, einen schönen Garten. Immerhin. (Zudem war Gerd als kleines Kind sehr viel krank gewesen und hatte vermutlich, was Sport und Spiel betraf, aus diesem Grund den Anschluss an die anderen, ohnedies und a priori viel sportlicheren Kollegen verpasst. Außerdem und der Wahrheit der Ehre: An ein paar Touren rund um G*, als kleines Kind unternommen, konnte er sich sogar später noch recht gut erinnern; zu verschiedenen Ruinen und zu einem großen Teich, auch zu einem dunklen Wald mit Aussichtswarte. Am Ende dieser Ausflüge stand jedoch immer die Einkehr in eines der bevorzugten Lokale von Vater Robert; dorthin also führte letztlich der Weg, wo es gut zu essen und trinken gab.)
Retour in die frühsommerliche Morgenstimmung der angehenden 1970er. Gerd machte sich zu den – für seinen Geschmack letztlich: doch ein wenig zu seichten – Klängen von Ö 3 (zumindest fand er sie ein wenig seicht) seinen obligaten löslichen Kaffee. Dazu, wie gesagt, Toastbrote, Leberaufstrich und Ribiselmarmelade.
Sein erster Wandertag – als Klassenvorstand!
Hatte sich doch ganz gut angelassen, dieses erste Jahr in dieser verantwortungsvollen Position. Und jetzt ging es bald schon ans Zeugnisse-Schreiben.
Er zündete sich eine Zigarette an, die erste des Tages. Gerd war (noch) kein übertriebener Raucher. Eher – ein Genießer. (Was es da wohl zu genießen gab?!)
Er liebte die Zeit des Frühstücks. Trotz des Unterhaltungssenders Ö 3, der ihn nicht selten an den Rand der Verzweiflung brachte – durch die so offensichtlich auf launig getrimmten „Ö 3-Wecker“-Moderatoren und ihren Verbal-Stuss, den sie, die frühmorgens schon ach so munteren Damen wie Herren hinter den Mikrophonen, vermutlich (Gerd unterstellte das zumindest) quasi pflichtgemäß, absonderten. Aber dieses „Wecker“-Hören hatte er sich bei Marianne und durch Marianne angewöhnt, doch Marianne war seit einem halben Jahr schon wieder – Geschichte. Und er war wieder einmal solo.
Die Angewohnheit „Ö 3-Wecker“ blieb ihm noch eine Weile.
Doch er ließ die Berieselung durch die Sendung, die, von Rudi Klausnitzer begründet, ab Oktober 1968 on air war und bald ein Millionenpublikum erreichte, nicht zuletzt deshalb zu, um mit seinen Schülern (besonders ab der vierten, fünften Klasse) in Sachen Musikmoden und Stil mitreden zu können. Außerdem vermittelten gerade die ihn allzu oft enervierenden Moderatorinnen und Moderatoren (hier sei gegendert, obwohl man sich da in den 1970ern vergleichsweise noch wenig antat …) auch einen Geschmack – oder besser: Abgeschmack – dessen, was später gerne als Szene-Wortschatz und noch später als Jugend-Sprech bezeichnet werden würde; und das interessierte ihn als Philologen wie auch als Lehrer in der Praxis: Schließlich war es auch von Vorteil, das zu verstehen, was seine Schüler so von sich gaben. Auch stufte er ein und machte Unterschiede – vielleicht zwischen dem, was ihm Brigitte Xander oder Klausnitzer selbst an Meinungen unterjubeln wollten, ärgerte sich oder amüsierte sich mitunter sogar über den Wortsprudel etwa, den Dieter Dorner, Meinrad Nell oder Nora Frey servierten; später dann das Trio Harry Raithofer, Robert Kratky und Hadschi Bankhofer.
Wie gesagt, er glaubte (wohl nicht zu Unrecht), dass es ihm, dem Herrn Professor, nicht schaden könnte, wenigstens einigermaßen up to date zu sein in puncto Jugendkultur. Wie er sich aus ähnlichen Gründen auch dafür interessierte, ob gerade Hosenaufschläge, bunte, breite oder schmale Krawatten, spitze oder abgerundete Schuhe zu tragen seien oder welche Jeans das Jungvolk für en vogue hielt. Ähnlich motiviert, sah er sich oft das Fernseh-Jugendmagazin des ORF an, das Ohne Maulkorb hieß und von 1967 bis 1987 am Sonntagnachmittag im Zweier lief, um schließlich von X-Large abgelöst zu werden. Da wunderte er sich nicht selten über die Statements von Rudi Dolezal und Hannes Rossacher, Vera Russwurm, Helmut Frodl, Karin Müller (später Resetarits), Martina Rupp et cetera … Doch brauchte man nicht immer wieder Diskussionsstoff im Unterricht, wollte man als engagierter junger Lehrer anerkannt werden? Und er musste das, was er da alles so sah und hörte, ja nicht unbedingt für affenobergeil oder (später dann) megaphat halten. Na, also.
Also, Marianne und die Ö-3-Weckerei. (Übrigens, Jahrzehnte später dann, als eingefleischter Frühhörer des Klassiksenders Ö 1, würde er sich nicht selten auch über diese ihm – zugegeben, zumindest, was die Musik betraf, wesentlich adäquatere – Klangkulisse mokieren; etwa darüber, dass zum Beispiel die diversen Moderationen bei nicht-deutschen Komponisten- oder Interpreten-Namen vor allem eines einte: ihre Fehlerhaftigkeit. Zudem zweifelte er zwischendurch am Sinn einer frühmorgendlichen Klangberieselung gleichsam im Sinne eines Pasticcios aus Tönen, einer Hör-Pastete also, eines Klang-Gulaschs oder mittelscharfen Musik-Ragouts. (Auch wenn ihm die Einzelelemente meistens mundeten.)
Aber er lauschte dann doch ganz gern und wartete, dementsprechend klangesättigt, auf die Nachrichtensendungen und Journale …
Marianne, Ö 3 und die sogenannten Partnerschaften. Nach dem Ende seiner Liebe zu Gertrud vor drei Jahren reichte es einfach nur mehr für zeitlich eher eng bemessene Beziehungen. Ja, die Zeit der Lebensabschnittspartnerschaften, wie man das Phänomen wenig charmant nannte, war nun einmal angebrochen. Wie eben mit dieser Marianne selbst zum Beispiel, einer hübschen, dunkelhaarigen Biologiestudentin. Aber zu anstrengend, im Grund, diese Marianne. (Wenn das denn überhaupt eine Beziehung war: mit einer zwischendurch zwar ganz gern gemütlich kiffenden jungen Frau, die ansonsten jedoch mit Vorliebe irgendwelche [zugegeben: meist durchaus unterstützenswerte] Proteste zur Mehrung der Rechte sogenannter Nutztiere plante, flammende Appelle für den Anbau regionalen Gemüses oder gegen das Tragen von Pelz vorbereitete oder sich gegen die überhandnehmende Plastikverpackung und die Atomenergie oder für Jute und Gleichberechtigung stark machte.)
Und manchmal konnte Marianne zudem sogar ziemlich ungemütlich werden.
Zuvor und immer noch nachwirkend: Gertrud. Mit Gertrud, einer in der Tat überaus hübschen blonden Romanistin in der mittleren Studienendphase, die sich freute, wenn man sie auf ihre Ähnlichkeit mit Catherine Deneuve hinwies, war er damals immerhin vier Jahre lang gegangen; Nein, sie waren sogar verlobt gewesen. Die gemeinsame Wohnung hatte man gemeinsam eingerichtet und überhaupt größtenteils dem gemeinsamen Geschmack gefrönt; bis sie beide peu à peu darauf kamen, eigentlich über gar keinen gemeinsamen Geschmack zu verfügen … Pech.
Also, für eine echte Partnerschaft hatte es seither nicht mehr gereicht. Doch der Herr Jung-Professor hatte ohnedies zu viel um die Ohren, um sich auch noch um den ordentlichen Aufbau einer funktionierenden Familie zu kümmern. (Der Satz seines stets zu einem Scherz bereiten Journalisten-Vaters Robert klang ihm nach vielen Jahren noch im Ohr: „Des Pfarrers Hund, des Lehrers Kind im Dorf die Allerschlimmsten sind!“ Das hatte ohne Zweifel was für sich. Und: Eine eigene kleine Familie hatte ebenso ohne Zweifel noch etwas Zeit.)
Gertrud war ihm also abhandengekommen; sie zelebrierte ihren Abflug zudem mit einem Kommilitonen, der auf ihn, wenn er seiner überhaupt ansichtig wurde und ihn bemerkte, die ganze Zeit hindurch eher wenig sympathisch gewirkt hatte. Irgend so ein – ach was!
Dann musste er erst einmal die Lehramtsprüfungen bestehen; hatte es doch schon im Vorfeld in Deutsch eigenartige Zores mit einem seiner Professoren mit der Hausarbeit gegeben.
Und zu allem Überfluss war da noch sein Job – man schrieb die Zeit des Lehrermangels in den späten 1960ern; ja, so etwas gab es einmal! -, sein Job, den er von seinem alten Direktor, Hofrat Dr. Fritz Fürnkranz, einem Freund seines Herrn Großpapa, angeboten bekommen hatte, weil er doch immerhin schon im Fertigwerden sei. Und man jetzt rasch jemanden brauchte … Also hatte er, vor ein paar Jahren schon war das, den Posten als Vertragslehrer mit Sondervertrag in seinem, dem Grillparzer-Gymnasium, übernommen. Und Gerd war mit entsprechend reichlich Lehrverpflichtung eingedeckt worden vom alten Hofrat Fürnkranz.
Die Vögel zwitscherten immer noch. War wohl ihr Geschäft. An so einem Tag überhaupt.
„Pass ja auf bei Gangaufsichten! Übrigens – noch viel wichtiger ist die Vorsicht des verantwortlichen Lehrers bei Wandertagen!“ Er erinnerte sich an die Worte seines älteren Kollegen (und ehemaligen Einführenden). Jaja, der Erwin Fuchsbichler. Wenn er den Fuchsi nicht gehabt hätte! (Und Oberstudienrat Fuchsbichler wusste zudem, wovon er sprach, hatte er selbst doch einmal, vor vielen Jahren, wegen einer – verhältnismäßig geringen – Unachtsamkeit in diesem Bereich beinahe ein Disziplinarverfahren umgehängt bekommen …)
Dann jedoch hatte der Freund ihm sein aktuelles Deutsch-Beiwagerl, den jungen Magister Harald Rosenberger (Germanistik/Leibesübungen), quasi geliehen für den Wandertag.
„Dem Harald macht das sicherlich Spaß! Der ist noch engagiert, animiert und frisch …“, so Fuchsbichler. „Und verlässlich ist er auch.“
„Ja, und du -?“, hatte Gerd verwundert gefragt. „Du musst doch -“
„Ich? Ich werde mich krank melden.“
„Und deine Klasse?“, wollte der Jüngere irritiert wissen.
„Glaubst du im Ernst, dass meine Siebente auf solche Sachen wie Wandertage noch steht?!“, erwiderte Fuchsi grinsend. „Nein, mein Lieber, die haben mir sogar schon eindeutig signalisiert, dass es ihnen am liebsten wäre, wenn es Regen gäbe … Also, gibt es eben für uns Regen – kleinräumig, sozusagen …“
Man würde also mit einem zu diesem Zweck gecharterten Bus zu der alten Burganlage fahren, Moderberg (nomen est omen!). Das hatten sich seine Buben gewünscht. (In Wahrheit war es ein gewisser Arthur Hollenegg gewesen, der das ganze fragwürdige Abenteuer seinen Schulkameraden einredete. Arthurs Familie war irgendwie und um x Ecken verwandt mit den aktuellen Besitzern des Anwesens rund um den Monsberg, samt Ruine und Imbissstation.)
Gerd Prank kannte die (nach Bränden und natürlichem Verfall durch den Zahn der Zeit durchaus angeschlagen wirkende) Wehranlage, die ihre letzte Blüte in der Zeit Maximilians I. erlebt hatte, hauptsächlich von alten Ansichten her, ließ aber – mehr aus Freude des Historikers daran, dass sich seine Schüler für einen einigermaßen geschichtsträchtigen Ort zu interessieren schienen, das Bauwerk als romantisches Wandertagsziel gelten. Zudem erinnerte er sich noch recht gut einiger Ausflüge dorthin, die er gemeinsam mit seinen Eltern, wenn Vater Robert doch einmal am Wochenende Zeit gehabt hatte und er selbst zufällig nicht krank war, unternommen hatte – vor vielen Jahren … (Dass man per Bus dorthin gelangen könnte, basierte wiederum auf einem Vorschlag eines anderen Schülers, eines gewissen Fritz Klamminger, dessen Vater, erraten: Busunternehmer war.)
Eine Ruine im Westen der Stadt, romantisch auf einem waldigen Hügel gelegen. Das war Monsberg, das oben auf dem sogenannten Moderberg saß. Denn von thronen konnte da schwerlich gesprochen werden. Sinnlos, doch hübsch …
Mons- wie Moderberg hielt Gerd für Verballhornungen ein- und desselben Namens; doch er war Fragen der Ortsnamensforschung als Germanist, soweit es sich machen hatte lassen, eher aus dem Weg gegangen; das war nicht Seines. Wie ihm, als Parallele, von den historischen Hilfswissenschaften wiederum etwa die Numismatik oder die Paläographie wesentlich sympathischer gewesen waren als die Archäologie oder das Ergründen alter Burgen und Basteien; dann schon eher die Besitzverhältnisse und wie sie sich im Wandel der Zeiten in den Urkunden niedergeschlagen hatten. So gesehen hätte es ihn womöglich interessieren können, ob dieses Monsberg hier etwas mit der Burg gleichen Namens in der Nähe des untersteirischen Pettau zu tun habe; wovon schon Paulo Santonino, der reiselustige und erzählfreudige Begleiter des Bischofs von Caorle und Vorsteher der Kanzlei des Patriarchen von Aquileja gegen Ende des 15. Jahrhunderts, recht Launiges zu berichten gewusst hatte. (Doch wollen wir uns da – jetzt noch – nicht weiter verbreiten; schon gar nicht, was die irgendwie doch ganz amüsante Geschichte des Hartmann von Hollenegg und seiner Ehefrau Amaley [auch Omelia] betrifft …)
Monsberg also, die Ruine auf dem Moderberg im Westen der Stadt G*. Und Mag. Rosenberger, als verlässliche Begleitperson, könnte seine geliebten Geländespiele mit den Schülern veranstalten. Da freute sich der turnende Germanist (oder germanisierende Sportler, wie auch immer) vermutlich nicht wesentlich weniger darauf, als die Schutzbefohlenen selbst, diese zehnjährigen Burschen mit ihren unüberhörbaren, hohen Stimmen und dem unstillbaren Bewegungsdrang. Der Ankunft des Busses der Firma Klamminger hatten sie schon, vor dem Grillpazer-Gymnasium wartend, entgegengefiebert, und manche waren sogar um eine halbe Stunde zu früh da gewesen. Auch Harry Rosenberger war überpünktlich.
Ihm, Gerd, konnte es nur recht sein, wenn der junge Kollege ihm, was Geländespiele und ähnliches betraf, die Arbeit abnahm. Und auf Harald war durchaus Verlass.
Übrigens: Auch Rudi Schmitz erwachte an diesem schönen Morgen. Allerdings mit einem ziemlichen Brummschädel. Grund? Sein Vater war wieder einmal stockbesoffen heimgekommen. Dann hatte Engelbert Schmitz seine Frau Margarethe grün und blau geschlagen, und auch Rudis Schwester Gerlinde hatte er ein blaues Aug‘ verpasst. Doch dann war eine Änderung zu verzeichnen gewesen in den Plänen des alten Tunichtguts. Und Schmitz senior hatte die Doppelliterflasche billigen Weins vor seinen Sohn, vor Rudi, hingestellt und den Zwölfjährigen bedrängt, doch einen ordentlichen Schluck zu nehmen. Und der Schüler der 1. A-Klasse, Repetent und als schwierig beschrieben, als schulisch desinteressiert sogar, hatte dem Wunsch des Vaters lieber Folge geleistet, als auch noch ein paar Ohrfeigen (oder Schlimmeres) zu riskieren. Also soffen beide Schmitz-Männer.
„Na, geht doch!“, hatte der Vater gerülpst, als der Bub nach gut einem Viertelliter von dem Gesöff mit Schlagseite zu seinem Bett gewankt war.
„Gute Nacht, du Bsuff!“, hatte der ebenfalls längst schon volle Zeuger noch gelallt, bevor er mehr über die eigenen Beine gestolpert war, als dass sie ihn zu seiner Bettstatt und neben die von ihm übel zugerichtete Ehefrau ins Schlafzimmer getragen hätten.
„Gute Nacht!“
Wie gesagt, auch Rudi erwachte am diesem schönen Morgen.
Es sollte der letzte Tag seines eigentlich gar nicht besonders glücklichen Lebens werden.
Fortsetzung folgt!
III
Sie war – eine Wucht, diese junge Frau Kollegin. Und dass sie mit ihrer Mädchenklasse, alle so um die zwölf, dreizehn, just auch die Ruine Monsberg (auf dem Moderberg) zum Ziel ihres Wandertags gewählt hatten, sie und ihre ebenfalls weibliche Begleitperson, welch ein Zufall! (Oder war es – Schicksal, Fatum, Los …?!)
Sie hieß Annemarie Kronsteiner und war vor wenigen Jahren sogar – als Germanistin – eine Studienkollegin Gerds gewesen (der damals freilich ausschließlich Augen gehabt hatte für seine Gertrud!). Und Frau Magistra Kronsteiner, das stellte sich alsbald heraus, war mit ihren knapp dreißig Schülerinnen und der jungen, ebenfalls recht aparten Kollegin, Magistra Erna Komarek, einer Turnografin (so pflegte man, leicht ironisch, Kolleginnen und Kollegen mit der recht gefälligen Fächerkombination Turnen und Geographie damals zu nennen), ähnlich wie er auch ganz angetan vom Anblick des ruinösen Monsbergs, der dichten Waldungen ringsum, in denen ihre Schutzbefohlenen dann diverse Spiele veranstalten könnten. Beglückt indes auch durch den blauen, beinahe gar nicht bewölkten Himmel, die langsam immer intensiver strahlende Junisonne, den angenehm plätschernden Bach und die zwitschernden Vögel; und der Imbissstation, die hoffentlich die nötigen Erfrischungen bieten würde.
Nun gefiel sie Gerd aufs erste Hinsehen, diese Annemarie; obwohl er sich an sie nur ungefähr erinnern konnte. (Oder vielleicht gerade deshalb?) Sie hatten immerhin mittelhochdeutsche Proseminare und ähnliches gemeinsam besucht und waren einander in Vorlesungen (Deutsche Romantik, Adalbert Stifter und Hugo von Hofmannsthal et cetera) hin und wieder über den Weg gelaufen. Ihr Zweitfach? Ach, ja Französisch. (Also musste sie dann wohl auch eine Studienkollegin von Gertrud gewesen sein …)
„Und dann habe ich auch noch Spanisch gemacht. Das erweist sich jetzt durchaus als Vorteil …“, lachte sie und schenkte ihm einen erstaunlichen Blick. „Denn im Ebner-von-Eschenbach-Gymnasium gab es gerade eine Vakanz in Spanisch. Und da bin ich, gleich nach der Lehramtsprüfung, ‚reingerutscht …“ Dann sandte sie dem ersten erstaunlichen Blick einen zweiten nach. (Was war jetzt genau erstaunlich an diesen Blicken?! – Egal. Bleiben wir einmal dabei, dass sie erstaunlich waren.)
Annemarie hatte überaus schönes Haar. Sie war blond; vielleicht nicht ganz so blond wie Gertrud gewesen war – und Catherine Deneuve, der auch sie, Annemarie, besonders, was das schwer zu definierende Lächeln und den Glanz in den blauen Augen betraf, durchaus ähnlich sah. Ja. Blond. (Kollegin Erna Komarek dagegen war brünett und trug Brillen. Sehr hübsche Brillen, übrigens.)
Man würde (man = Gerd und Annemarie) sich erst einmal auf ein Getränk unter die Sonnenschirme mit der Hornig-Aufschrift vor der Imbissbude in unmittelbarer Ruinennähe setzen, und die jüngeren Kollegen, Erna und Harry, könnten doch schon mal ein lustiges Geländespiel organisieren, oder?! Dass eine zweite Klasse eines Mädchen- und eine erste eines Knaben-Gymnasiums ab jetzt miteinander gemeinsam einen Wandertag bestritten, sollte dabei doch kein Problem bedeuten, oder?
„Siehst du da irgendwo eine zweite Ruine, zu der wir weibliche Wesen uns begeben könnten?“, fragte Annemarie scheinheilig ernst und mit umwölktem Blick. Kurz ein paar kleine Falten auf der ansonsten klaren, glatten Stirn. (Catherine Deneuve in „Belle de Jour“.)
„Nein. Nein, keine Ausweichburg in Sicht“, antwortete Gerd, nachdem er einen (gespielt) sorgfältigen Rundumblick ausgeschickt hatte. Er grinste.
„Eben.“
„Andiamo!“, sagte Harry zur neuen Wandertagskollegin, zu Erna. „Du kennst dich ja zumindest geografisch aus …“
„Zumindest …“, erwiderte die junge Turnografin munter.
Warum Annemarie und Gerd dann ausgerechnet über Franz Grillparzers Schicksalsdrama „Die Ahnfrau“ von 1817 sprachen? Tja, warum … Welcher normale Mensch (und auch Germanisten sind zumindest hin und wieder solche) bequatscht mit einem zweiten an einem schönen Frühsommertag just das Für und Wider dieser romantischen Gespenstertragödie, einschließlich der Frage, betreffend ihre dramaturgischen Qualitäten oder Schwachstellen … Und überhaupt?!
Noch dazu: Zwei Menschen, die einander, wie es schien, nicht unsympathisch waren … Und die lieber nicht auf Grillparzer-Ebene als vielleicht auf dem Niveau der 1970er Jahre kommunizieren sollten. Oder irgendwie über den französischen Film, so in Richtung Catherine Deneuve, Alain Delon, Françoise Dorléac – die hübsche um ein Jahr ältere Schwester der Deneuve war im Jahr 1967 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen – und Michel Piccoli oder Jean-Paul Belmondo?! Über die Liebe …
Aber, nein, es musste unbedingt Grillparzers „Ahnfrau“ sein.
Wäre es nicht näherliegend gewesen, dass Gerd sich am Anblick dieser neuen Catherine Deneuve so recht erfreute? Dieser Deneuve sogar mit Dorléac-Einsprengseln (wie er festzustellen glaubte beim zweiten Weißwein-Spritzer [die Kollegin trank brav Apfelsaft]).
„Belle de Jour“, der Film von Luis Buñuel von 1967 …, mit der Deneuve als Edelnutte (oder doch nicht?! alles bloß ein Traum – vielleicht mehrere Träume … in einem, Herr Sigmund Freud?! Oder: „Der Traum ein Leben“, auch Grillparzer …?) Belle de Jour … Mit Jean Sorel, Michel Piccoli, Geneviève Page und Pierre Clémenti. Hauptsache – Catherine Deneuve! Oder: „La siréne du Mississipi“, 1969, eine Hommage an Alfred Hitchcock, unter der Regie von François Truffaut und mit Jean-Paul Belmondo (der deutschen Verleihtitel lautete marktschreierisch: „Das Geheimnis der falschen Braut“), diese Räuberpistole um Liebe, Hin- und Aufgabe, um Treue, Untreue und Betrug auf der Insel Réunion und an der Cote d’Azur. Oder – – –
Nein. Franz Grillparzer (1781 -1872), „Die Ahnfrau“. Dabei war der spätere Parade-Autor des (Alt-)Österreichischen doch sein Leben lang dem Burgtheatersekretär Joseph Schreyvogel gram, dass dieser ihn, den knapp 26jährigen Poeten, zu entsprechenden dramaturgischen Umgestaltungen veranlasst hatte. Die machten zwar die Schicksalstragödie – auch diese Bezeichnung schien Grillparzer übrigens für das „Gespenstermärchen“, so der Dichter später, nicht glücklich gewählt – zu einem der meistgespielten Stücke seiner Zeit; schien ihm indes, sein Vorhaben bloß zu verdünnen. Wie auch immer, dieses Stück forderten letztlich andere Kollegen des Autors (aus nicht so ganz abwegigen Gründen) hauptsächlich zu meist bissigen Parodien und Travestien heraus. So Karl Meisl zu „Die Frau Gertrud“ (sic!), gedruckt als „Die Frau Ahnl“ oder Friedrich Hopf zur „Ahnfrau im Gemeindestadl“ …
Übrigens: Schreyvogel selbst formulierte (im Vorbericht zur ersten Auflage [der Werke Franz Grillparzers]), im Drama fände sich „keine Spur von dem abgeschmackten Irrglauben, den man ihm hat andichten wollen. Es ist ihm (Grillparzer, Anm.) nicht in den Sinn gekommen, Verbrechen durch Verbrechen entsühnen zu lassen und in der Verkettung von Schuld und unglücklichen Ereignissen, welche den Inhalt seines Trauerspiels ausmacht, ein neues System des Fatalismus darzustellen.“
Gut, die durchaus blutrünstige Geschichte liefert Grund zu mancherlei (sehr wohl auch trivialem) Theatergrusel. Da findet der vom Vater, Graf Zdenko von Borotin, für tot geglaubte Sohn, der inzwischen zum gefürchteten Räuberhauptmann mutiert ist, im Schloss Unterschlupf vor seinen Häschern. Als Jaromir von Eschen hat er sich ins Herz von Borotins Tochter Bertha geschmeichelt, und die beiden (in Wahrheit: Bruder und Schwester!) sind inzwischen schon verlobt. (Das kann alles nicht gut gehen!)
Als Traumgebilde versuchen die handelnden Personen zunächst, die weiße Gestalt der Ahnfrau abzutun, die nun allenthalben nervös herumgeistert. Sie ist ruhelos, da sie, die ehebrecherische Stammmutter des Adelsgeschlechts, dereinst von ihrem grollenden Gatten erdolcht worden ist. Ein ziemlich zerrissener Geist zudem, möchte sie doch einerseits als Warnerin Unheil von der Familie abhalten, trachtet anderseits indes auf eigene Erlösung durch endgültiges Bannen des Fluches. Und dafür muss nun einmal der letzte männliche Spross der Borotin sterben! Dies geschieht, indem Jaromir, das Gespenst mit Bertha verwechselnd, entseelt in ihren Geisterarmen endet. Zuvor hat er, quasi von ungefähr, den Grafen, also den eigenen Zeuger, gemordet; und auch Bertha hat sich, endlich über die düsteren Zusammenhänge aufgeklärt, selbst entleibt …
Der Auftritt eines – noch dazu sprechenden – Geistes auf dem Theater birgt in der Tat manche Gefahr in sich; gelangt doch dabei die Phantasie des Publikums, die ja an sich schon ein ziemliches Raubtier sein kann, weitgehend unbeaufsichtigt aus dem Käfig direkt ins Scheinwerferlicht der Manage. Und das geht, wie man weiß, nicht immer gut aus.
Zudem, wenn es sich um (obschon in finsterer Vergangenheit begangenen) Ehebruch dreht, um Vatermord (obgleich auch, siehe Ödipus: in Unkenntnis der familiären Gegebenheiten), um – fast vollzogenen – Inzest, um Selbstmord et cetera.
Ja, eine Räuberpistole eben. (Wen es interessiert: „Die Ahnfrau“ verschmilzt zwei Quellen miteinander, nämlich die anonyme, einem Abbé Regley zugeschriebene Histoire de Louis Mandrin [Paris 1755] und den Geisterroman des Joseph Alois Gleich, betitelt Die blutende Gestalt mit Dolch und Lampe, oder die Beschwörung im Schlosse Stern bei Prag [1799], auch Friedrich von Oertels Der Mönch [1797] könnte da noch hineinspielen, wobei beide ihrerseits Bearbeitungen von Matthew Lewis‘ Ambrosio, or the Monk zu sein scheinen …)
Grillparzers – letztlich ja eigentlich bloß halbherzige – Abkehr von seinem überaus erfolgreichen Werk, ist also nicht ganz nachvollziehbar; zumal alle Indikatoren – etwa die Dominanz des Gespensts, sein Vorkommen sogar im Personenverzeichnis und selbst im Titel – einwandfrei belegen, woher der motivische Wind weht: aus den zeitgenössischen (romantischen) Geisterromanen und den Geisterdramen des Wiener Volkstheaters. Sich von den Mitteln des Trivialen, die man selbst zuvor durchaus effizient eingesetzt hat, dann naserümpfend abwenden zu wollen, kann eben nur bedingt gelingen.
Und da ein Aufschrei: Der Rudi Schmitz ist vom Turm gestürzt!
Fortsetzung folgt!
IV
Ein toter Bub als negatives Resultat am Ende eines Wandertages; des ersten Wandertages, den er mit der ersten Klasse, die er als Klassenvorstand leitete –
Schöne Scheiße! Ein toter Schüler als –
Nein! Himmel! Ein toter Schutzbefohlener, auf den er aufzupassen –
Gerds Gedanken schwirrten, einem Schwarm aufgeregter Vögel nicht unähnlich, wenn das Bild gestattet ist, durch seinen ohnedies schon „Ahnfrau“- und Grillparzer-geschädigten Schädel … Nein, die paar Weißwein-Spritzer, die waren es bestimmt nicht!
Auch Annemarie Kronsteiner schien betroffen. Zumindest war sie merkbar erbleicht, und ihre hübschen Nasenflügel bebten leicht.
Ein toter Bub am Ende eines Wandertages, der bei herrlichem Juni-Wetter so schön begonnen hatte und zwischendurch (auch was das Zwischenmenschliche betraf) so vielversprechend weitergegangen war: Er ward abrupt beendet. Beendet durch den Tod selbst.
Und ein Rattenschwanz peinlicher Untersuchungen würde möglicherweise folgen.
Es könnte zumindest jede Menge peinlicher Fragen geben. Und – war da tatsächlich eine (nachweisbare) Schuld des Klassenvorstands (der beiden Klassenvorstände) aus dem Umstand dieses Todesfalles ursächlich und kausal abzuleiten?
Aber jetzt: Was war zu tun?
Die Eltern. Die Schule. Rettung. Polizei.
(Man stelle sich vor: dies alles in einer Zeit noch vor dem Mobiltelefon! – Die Imbissstube verfügte immerhin über einen funktionierenden Festnetzanschluss.)
Gut.
Dann: eine Art Checkliste erstellen.
Da hieß es zunächst: Den toten Schüler Rudi Schmitz möglichst fach- und sachgerecht zu bergen. Dann die Schülerinnen und Schüler zu beruhigen (war doch für die meisten von ihnen die Konfrontation mit dem Tod eine völlig neue Erfahrung).
Außerdem mussten sich Gerd und Annemarie, was ihre späteren Aussagen betraf, unbedingt koordinieren.
Zudem hatte man sich der Loyalität der beiden anderen Lehrpersonen, Erna Komarek und Harald Rosenberger, nochmals und dringend zu versichern.
Übrigens, auch die Kellnerin, die in der Imbissstube werkte, musste geschickt instruiert werden.
Und eine Partie von der Müllabfuhr, die zufällig gerade im Gastgarten rund um die Ausschank Platz genommen hatte, war ebenfalls möglichst positiv zu stimmen …
Doch, ja, Gerd hielt sich recht gut. Und auch die übrigen mehr oder weniger Beteiligten füllten ihre Rollen durchwegs zufriedenstellend aus. (Glanzleistungen konnte [und wollte] man sich ohnedies keine erwarten …)
Was blieb, war immerhin ein bitterer Nachgeschmack. Und die Frage, ob nicht in gewisser Weise vielleicht doch auch Unachtsamkeit zum ganzen Schlamassel beigetragen hatte?!
Ja, ja, die Unachtsamkeit!
Wo man auch hinsah – im Leben und in der Literatur – Unachtsamkeit. Denn nicht immer bedarf es böser Absicht, wenn es zu bösen Taten kommt oder zu Unglücksfällen und Katastrophen. Nein. Oft genügt Unachtsamkeit.
„Und wieder ist etwas passiert.“ So beginnt Wolf Haas einige seiner Romane rund um die Figur des wenig glücklichen (eher schon glücklosen) Privatermittlers („Schnüfflers“) Simon Brenner; oder ist der Brenner am Ende gar nicht so unglücklich (und glücklos)? Immerhin gelingt es ihm, die Fälle, in die er geraten ist, immer wieder selbst aufzulösen …
Überhaupt: Der Umstand, dass immer wieder etwas passiert, hält die Welt anscheinend ja erst am Laufen. Und ohne Unfall – kein Fortschritt. (Gut, über die Notwendigkeit und den Nutzen des Fortschritts könnte man auch sehr unterschiedliche Meinungen äußern. Je nachdem …)
Der „Stationschef Fallmerayer“ (1933) des Joseph Roth wird, ein paar Monate für Beginn des Ersten Weltkriegs, durch einen Eisenbahnunfall, in dessen Folge er die aparte russische Gräfin Walewska kennenlernt, aus seiner gänzlich reglementiert und sicher geglaubten Lebensbahn geworfen.
Obgleich dieser Adam Fallmerayer die Zugentgleisung gar nicht selbst verschuldet hat, ist er dennoch – formulieren wir es etwas überspitzt – Nutznießer von deren Folgen. Indem er sich um die schöne Gräfin bemüht und die Unverletzte von seiner Frau entsprechend bedienen lässt (auch den Töchtern, einem Zwillingspaar, wird aufgetragen, auf den unverhofften Gast Rücksicht zu nehmen), entsteht eine neue intensive Beziehung. Unbestimmt erst noch und unklar, doch als die fremde Schöne schließlich weiter zum Treffen mit ihrem Ehemann nach Meran fährt, scheint die Seele des Bahnbeamten quasi bereits mitzufahren …
Später, im Zuge des Großen Krieges, gelangt der nunmehrige Offizier Fallmerayer, der nie Heimaturlaub nimmt und zu Hause bald als vermisst gilt, im Einsatz an der Ostfront schließlich auf das Gut der Familie Walewski bei Solowienki, und eine Liebesbeziehung zwischen ihm und der schönen Russin entspinnt sich.
Schließlich wird die Walewska von Fallmerayer sogar schwanger.
Man flieht auf abenteuerliche Weise nach Monte Carlo, wo die Walewskis eine vor dem Krieg erworbene Villa besitzen.
Dann kehrt jedoch der schwerst verletzte Ehemann aus dem Krieg zurück – an die Côte d’Azur. Während sich die Gräfin (vermutlich) nunmehr aufopfernd seiner Pflege widmen wird, verschwindet der gewesene Stationschef für immer (im Ungewissen).
„Hierauf reiste Fallmerayer ab; man hat nie mehr von ihm gehört.“ So schließt Roth seine meisterliche Erzählung.
Anders ergeht es Fallmerayers Kollegen, dem zunächst ebenfalls diensteifrigen und getreulichen Thomas Hudetz, in Ödon von Horváths Drama „Der Jüngste Tag“ (1938), den der leichtsinnig verschenkte Kuss der koketten jungen Wirtstochter Anna kurz seine Pflichten als Bahnbeamter vergessen lässt. Und als das in eine Zugentgleisung mit achtzehn Toten und zahlreichen Verletzten mündet, ist letzten Endes auch das Schicksal des Thomas Hudetz besiegelt.
Er kommt in Untersuchungshaft. Dann sagt Anna falsch für ihn aus. Von der öffentlichen Meinung durch ein Kalt-Warm-Bad der Gefühle, schwankend zwischen Ablehnung und Befürwortung, geschickt, sieht er zuletzt seine Schuld zwar ein; sein Ruf, aber auch sein Leben – und das einiger Mitbürger, so seiner eifersüchtigen Frau –, die sind freilich für immer beschädigt.
In Gerhart Hauptmanns novellistischer Studie „Bahnwärter Thiel“ (1888) ist es auch eine Unachtsamkeit – diesmal die der zweiten Frau eines tüchtigen Eisenbahnbeamten, der grobschlächtigen Lene nämlich -, die zur Katastrophe führt – und den Bahnwärter in den Irrsinn treibt. Von Lene zwar sexuell betört, erscheint ihm seine verstorbene gute erste Frau, Minna; doch den Geist sieht nur er (kein Publikum also), und es handelt sich dabei wohl um Halluzinationen. (Nota bene: Für eine ausgewachsene Ahnfrau reichten zudem Thiels Stellung und seine finanziellen Voraussetzungen auch gar nicht.)
Weiter bei Thiel. Es entwickelt sich hier sogar eine Art Kult dieser ersten ehelichen Verbindung, der ja auch der geliebte Sohn Tobias entsprossen ist. Dieser (pathologische?) Kult sei – wie Gero von Wilpert interpretiert – „zugleich aber Eingeständnis der gescheiterten zweiten Ehe und demzufolge Schaffung eines gefühlsmäßigen Freiraums der Erinnerung an eine beglückende Gemeinschaft“ (in: „Die deutsche Gespenstergeschichte“).
Ende: Der kleine Tobias wird vom Schnellzug getötet, und Thiel endet, nachdem er die unachtsame Lene und beider Säugling brutal getötet hat, im Irrenhaus.
Prof. Prank denkt sich: Hat er da richtig gelesen? Es endete also – zumindest literarisch – alles oft und oft im Unglück, ja: in einer ausgewachsenen Katastrophe, wenn es sich zuvor um die Liebe und um die Eisenbahn gehandelt hat?! Ja. Zumindest, so weit er das überblicken konnte. (Gut, dass er nicht auch noch an die Ballade „Die Brück am Tay“ von Theodor Fontane und an den Film „Die Brücke am Kwai“ dachte!)
Nun, in Bertolt Brechts Songtext „Surabaya Jonny“ (aus dem Musical „Happy End“ von Elisabeth Hauptmann [Pseudonym: Dorothey Lane] und mit der Musik von Kurt Weill [1929] wünschte sich die Heldin (angesichts der Lügen, die ihr der namensgebende windige Matrose auftischt) auch lieber einen Versicherungsmenschen oder einen Bahnbeamten als einen Seemann: „Du sagtest, so wahr ich hier steh‘ / Du hättest zu tun mit der Eisenbahn / Und nichts zu tun mit der See …“ Aber im Allgemeinen – und weil es in unseren Breiten wenig Meer gibt – ist es nun einmal die Eisenbahn, die sich (wie gesagt: rein literarisch) als ziemlich anfällig für diverse Katastrophen erweist.
Doch, im Ernst: Geleise gab es und (falsch gestellte) Weichen, küssende Wirtstöchter und streitsüchtige Ehefrauen, schöne Russinnen und grobschlächtige Zweitfrauen et cetera letzten Endes überall. Und nicht selten mögen sie dann bloß Metaphern gewesen sein für ganz andere Ausgangspunkte, führend zu den verschiedensten Malaisen.
Und wo Menschen leben, kommen nun einmal auch Missverständnisse auf.
Oft genug übersieht man Signale. Und nicht selten bemerkt man Hindernisse zu spät.
So achtsam kann man da gar nicht sein.
Fortsetzung folgt!
V
Gerd Prank hätte sich – wäre er in den späteren Jahren wieder einmal zum Unfall im Verlauf jenes Wandertags auf dem Monsberg (Moderberg) befragt worden -, Gerd hätte sich vermutlich eingestehen müssen, dass ihm die tragische Figur dieses Schülers Rudolf Schmitz aus der damaligen 1. A-Klasse, der da verunglückte und ums Leben kam, weitgehend bloß als eine verschwommene, blasse Gestalt in Erinnerung verblieben sei. Ein eher konturloser Schimmer mit einem weiter nicht einprägsamen Bubengesicht. (Dunkelbraune, ein wenig struppige Haare, oder?! Dunkelbraune Augen – stimmt’s?!)
Während allerdings Fotografien den Knaben als – wenn auch nicht sonderlich auffallenden oder hervorstechenden, so doch – immerhin durchaus individuell ausgestatteten, etwa elf oder zwölf Jahre alten Menschen abbildeten. (Rudi Schmitz war Repetent gewesen, daher auch etwas erwachsener als seine Klassenkameraden; und wohl auch kräftiger.)
Nein: Keine besonderer Leuchte. Eher ein schwacher und nur wenig interessierter, kaum animierbarer Schüler. Einer, wie es sie zu Millionen überall gibt; solche, die mit etwas Glück (und meist im Sog der anderen) dann irgendwie sogar in Maßen vorwärts- und weiterkommen. Ihr Ziel irgendwie erreichen. Zumindest als Mittelmaß …
Schulisches Plankton, sozusagen. (Und dabei bleibt es nicht selten auch später dann, im sogenannten wirklichen Leben. [Blödsinn: Als wenn just die Schule nicht zum wirklichen Leben zählte!])
Warum Schmitz damals, im Juni am Anfang der 1970er Jahre, tatsächlich vom ruinösen Turm der alten Wehranlage gesprungen (oder auch nur gefallen) war?
Auch nach Jahrzehnten hätte man es sich nicht anders als durch einen Unfall bedingt erklären können (wäre einem überhaupt der Sinn nach einer späten Erklärung gestanden).
Mein Gott! Der Turm war längst schon hinüber, der Bau als solcher nicht nur uralt sondern tatsächlich verfallen; und deshalb das Betreten auch seit langer Zeit schon verboten. Das Begehen war somit nicht gestattet gewesen.
Es war eben passiert; nach einem Fehltritt oder Ausrutscher.
Er, Prof. Gerd Prank, und seine Begleitperson, Mag. Harald Rosenberger, daran war niemals ernstlich gezweifelt worden, hatten den Schülern der 1. A-Klasse besonders eindringlich das Betreten der weitgehend verfallenen Anlagen und des desaströsen Burgfrieds untersagt, um den es sich, genau genommen, bei dem halbverfallenen Turm handelte.
Nachher dann, als Magister Rosenberger und die Kollegin Magistra Erna Komarek von der 2. B-Klasse des nach Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach benannten Mädchengymnasiums, die sich zufällig auch den Monsberg als Ziel des Wandertags erwählt hatte, das nun geplante Geländespiel vorbereiteten und die Schülerinnen und Schüler entsprechend instruierten, musste sich Schmitz wohl unbemerkt von den anderen absentiert haben.
Jedenfalls hörten Schüler wie Lehrpersonen später: einen Schrei.
Ob da Schmitz selbst schrie oder aber der erste Klassenkamerad, der ihn womöglich fallen gesehen hatte? (Oder eines der Mädchen?) Das alles konnte leider nicht eruiert werden. Es herrschte zudem sogleich höchste Aufregung, und das Durcheinander war ein entsprechendes!
Alles schrie, war fassungslos und lief durcheinander, und fast jeder gestikulierte wild vor sich hin, wie in solchen Situationen üblich. Einige Mädchen und Buben weinten sogar. Und über allem schwebte so etwas wie eine Wolke ungewisser Furcht, man könne an der Katastrophe, die sich eben gerade ereignet hatte, die Schuld tragen. (Oder zumindest: mit schuld sein; allein, weil man auch da war …)
Und diese Wolke war keine aus der Familie der Cirrus, Cirrostratus, Altostratus, Nimbostratus oder Stratocumulus; und schon gar keine der lustigen Schäfchenwolken.
Fest stand lediglich: Der Schüler Rudolf Schmitz war vom Turm gestürzt und tot.
Inwieweit jemand anderen als Schmitz selbst Schuld daran traf, das versuchte man damals freilich herauszufinden. Und auch die Frage, ob Prof. Gerd Prank, weil er zwanzig, dreißig Meter entfernt mit der Kollegin Annemarie Kronsteiner laut beider Aussage ein Fachgespräch führte, seine Aufsichtspflicht verletzt habe, musste erst noch geklärt werden.
Ergebnis: Nein, weder Gerd Plank und Harald Rosenberger noch Annemarie Kronsteiner und Erna Komarek konnte im Zusammenhang mit dem Unfalltod des Schülers Rudolf Schmitz (von einem Selbstmord wollte man erst gar nicht ausgehen) irgendein Fehlverhalten nachgewiesen werden; denn dass sich im Zuge eines Wandertags ein ungehorsamer Schüler regelwidrig verhielt und in der Folge dann verletzte (oder gar ums Leben kam), war zwar überaus traurig, indes nicht den Aufsichtführenden anzulasten.
Die gemeinsame Durchführung des Wandertags durch Lehrpersonen und Schüler zweier Gymnasien, einer Mädchen- und einer Bubenschule – diese koedukative Gestaltung der Schulveranstaltung also -, nahm sich da schon ein wenig heikler aus.
Immerhin, so urteilte der Landesschulrat in einem diesbezüglichen Schreiben, hätte die Unternehmung streng genommen schon im Vorfeld der schriftlichen Einwilligung der vorgesetzten Schulbehörden, also des Landesschulrats und der beiden Direktionen, sowie (unter Umständen) auch der Eltern aller beteiligten Schülerinnen und Schüler bedurft.
Doch wolle man den jungen Klassenvorständen, die sicher nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hätten, keinen Vorwurf machen. Hatte sich doch nun einmal die Gelegenheit zu eben dieser oben beschriebenen koedukativen Gestaltung des Ausflugs durch das nicht vorhersehbare Zusammentreffen einer Buben- und einer Mädchenklasse ganz spontan ergeben. (Und auch von vorgesetzter Seite [Landesschulrat] sollten solchen Versuchen der Auflockerung nicht selten als starr empfundener Unterrichtsnormen möglichst keine Hindernisse in den Weg gelegt werden; seien diesbezügliche Öffnungen doch ohnedies [und sogar im politischen Konsens] allenthalben immer wieder in Diskussion. Blablabla.)
Gleich nach dem sowohl tragisch als auch turbulent zu Ende gegangenen Ausflug und später dann, nach dem Bescheid der vorgesetzten Dienststelle, in welchem sowohl den AHS-Lehrern Gerd Prank und Harald Rosenberger als auch den Kolleginnen Annemarie Kronsteiner und Erna Komarek attestiert wurde, keine direkte noch indirekte Schuld am Tod des Schülers Rudolf Schmitz anlässlich des Wandertags et cetera, et cetera … zu haben, versuchte Gerd immer wieder, Annemarie telefonisch zu erreichen. Doch die beiden kamen nicht mehr zusammen. Entweder ließ sich die vermutlich geschockte Annemarie verleugnen; oder aber: Sie wollte nichts mehr mit Plank zu tun haben.
Er versuchte noch einige Male, sie zu erreichen, und hinterließ auch Post bei Erna Komarek. Nichts. Rein gar nichts.
Also gab er es schließlich auf.
Irgendwann sahen sie einander zufällig wieder. Mehr als ein flüchtiger Gruß war da allerdings nicht drinnen.
So war es zu einer Beziehung zwischen der hübschen, blonden Annemarie, die ein wenig an die Catherine Deneuve erinnerte, und ihm nicht gekommen. Gerd hatte da auch erst gar nicht lang und breit von irgendwelchen Liebesnächten (oder amourösen Nachmittagen à la „Belle de Jour“) träumen müssen; weil man in der Jugend auch gar nicht lang und breit von Liebesnächten träumt, sondern sie erlebt. So einfach war das. Ist das.
O ja, Gelegenheiten ergaben sich. Und die betreffenden Frauen mussten auch gar nicht wie die Deneuve aussehen (oder wie Gertrud oder wie Annemarie). Nur mit Annemarie ergab sich für Gerd eben nichts.
Da hatte dann wohl die Ahnfrau zugeschlagen. Voll.
Fortsetzung folgt!
VI
Hier sei eine erzähl-strategische Überlegung verraten: Die Personen dieser (wie jeder) Geschichte stehen zu einander in bestimmten Beziehungen; sonst würde das alles erzähltechnisch nicht funktionieren. Dabei vermag sich die Stellung der einzelnen Protagonisten zueinander harmonisch, disharmonisch oder, vielleicht aus später erst als solchen erkannten antipodischen Positionen heraus, sogar feindselig zu gestalten (oder zumindest so zu erscheinen). Auch kann ein zunächst freundlich scheinendes Umfeld sich später, im Verlauf der Handlung, als eine im Gegenteil höchst gefährliche Schlangengrube entpuppen.
Und: Es spielen womöglich gleichsam vorgedachte (und vorgeschehene) Ereignisse in die Erzählgegenwart herein; eine aus früheren Zeiten (früheren Generationen sogar) herüberreichende Schuld aufgrund eines dereinst begangenen Verbrechens et cetera.
Dann treten also diverse weißgewandete Geisterfrauen und andere Gespenster auf (oder ihr Vorhandensein wird zumindest diskutiert); wobei im Optimalfall die just erzählte Geschichte (oder das aktuelle Drama) auch gleich und aus schreib-ökonomischen Gründen die Tilgung des Fluchs zum Ende hat (siehe Franz Grillparzers „Ahnfrau“!).
Da die Literatur (wie die Zeit selbst) nach hinten wie nach vorne funktioniert und sich die eigentliche Beobachtung nur scheinbar auf den Bruchteil der sogenannten Gegenwart beschränkt (was freilich nicht stimmt), herrscht in den oben erwähnten Konstellationen der Figuren zu- und untereinander noch mehr Felxibilität. Denn jede und jeder verfügt für sich über zig Möglichkeiten, in der Vergangenheit, unter Umständen auch in der Zukunft … Zudem können neue unverhoffte Wendungen eintreten, die das Geschehen in oft völlig neuem Licht erscheinen lassen. Ein deus ex machina schwebt im allerletzten Augenblick herbei, eine Depesche wird überbracht, ein Mobiltelefon läutet, quiekt oder furzt … Et cetera. (Doch das nur so nebenbei. Außerdem spielt das bei sogenannten einfach-gestrickten Texten kaum eine Rolle. [Und wer schreibt schon gern einen solchen?!])
Zurück zu unserer Erzählung: Da gibt es einmal die Konstellation Gerd-Annemarie, aus der allem Anschein nach nicht das wird, was – rein potenziell – drin wäre: eine Liebschaft, eine Affäre, womöglich eine Lebensgemeinschaft …, eine lang oder auch bloß kurz anhaltende Freundschaft et cetera.
Da funkt jedoch im Hintergrund immer noch die Erinnerung an die alte Liebe, an die verflossene Gertrud, dazwischen. Die zu allem Überfluss eine gewisse Ähnlichkeit mit der neuen, mit Annemarie, auszeichnet (oder einschränkt, je nach dem …); und überdies eine mit der großartigen Catherine Deneuve …
Ja, und einen – warum auch immer – starken Bezug zu Franz Grillparzers vom Schicksal reichlich überfrachteter Ahnfrau gibt es auch; wie immer die auch ausgesehen haben mag.
Dass diese Ahnfrau wiederum der unglücklichen Bertha zum Verwechseln gleich sieht, gestaltet unsere Konstellationen-System nicht eben einfacher. Im Gegenteil: Alsbald finden wir uns in einer Art Spiegelkabinett wieder. Quer durch Gefühlslagen, Zeit und Raum.
Dann besteht da freilich auch eine – aus weitgehend praktischen Gründen gebildete – Schicksalsachse zwischen Gerd und Magister Harry Rosenberger, auch wenn die eigentlich nur anlassbezogen zu sein scheint. Ein Deal, zu dessen Zustandekommen zudem Kollege Erwin Fuchsbichler das Seine beigetragen hat. Da gibt es nämlich außerdem noch die Freundschaft zwischen Gerd und seinem um Schutz bemühten Mentor. (Warum? Weil Fuchsi um die schultechnischen Klippen zwischen Skylla und Charybdis eines Wandertages [wie übrigens jeglicher {Gang-}Aufsicht]) Bescheid weiß und diese Erfahrungen an seinen Telémachos weitergibt.)
Doch auch zwischen Annemarie Kronsteiner und Erna Komarek gibt es, ähnlich wie zwischen Gerd Prank und Harald Rosenberger, diese Art von Partnerschaft; zumindest für den Anlassfall Wandertag. Darin sind die beiden jungen Frauen Gerd und Harald also durchaus vergleichbar, und sie entsprechen einander funktional.
Und da besteht freilich auch noch ein Bogen von Gerd zu seinem verunglückenden Schüler Rudi Schmitz. (Ob der dem Pädagogen nun angenehm ist oder nicht …) Denn dem jungen Professor und Vorstand der 1. A-Klasse waren die näheren Lebensumstände seines Schülers, was weiter nicht verwunderlich ist, weitgehend unbekannt. Und warum sollte er dann ausgerechnet über die letzten Momente des Rudolf Schmitz Bescheid wissen?
Dass der Bub zwei Jahre älter als seine anderen Schulkameraden war, die erste Klasse der Mittelschule, ohnedies am Grillpazer-Gymnasium, schon einmal (wenn auch erfolglos) durchgemacht und auch die vierte Volksschulklasse wiederholen hatte müssen und aus eher desolaten Familienverhältnissen stammte, das waren die dürren persönlichen Angaben, über die Gerd Plank in Sachen Rudi verfügte. Ja, noch etwas: Der Vater des Buben, das hatte ihm der Kollege, in dessen Klasse Schmitz im vorigen Schuljahr gegangen war, en passant mitgeteilt, dieser Vater sei ein eher arbeitsscheuer Säufer, die Mutter eine hilflose, überforderte Frau. Herzensgut, aber hilflos und überfordert. Ach, eine kleinere Schwester gebe es auch noch. Triste Verhältnisse eben. Ja, und dieser Rudolf Schmitz sei schulisch leider nur sehr wenig motiviert, aber immerhin nicht aufsässig. Nachsatz: „Vermutlich fehlt ihm sogar zur Aufsässigkeit die Motivation …“
Doch wo sind sie wirklich, die Parallelen zwischen Gerd und Rudi?
Hatte der Bub am Ende auch seine Freude an Cirrus und Stratocumulus, an Cumulonimbus und Quellwolke gehabt? Sich über Schäfchenwölkchen gefreut? Mochte er vielleicht die dickbauchigen Kohlmeisen und die nicht minder kugeligen Spatzen auch so sehr, wie Gerd sie mochte? War er womöglich ebenso begabt (oder noch mehr), hatte er indes bloß weit weniger an Chancen mitbekommen, diese in ihm schlummernden Talente entsprechend zu pflegen, um sie später dann tatsächlich ausleben zu können? Später dann –
Und: Hatte er zuletzt womöglich gar die Ahnfrau gesehen? (Diese bleiche, weißgewandete Ahnfrau, von der er bis dato womöglich noch nie gehört und etwas erfahren hatte – und von der er mit Sicherheit nie mehr etwas erfahren würde.)
Oder hatte Rudi auf dem Weg in den halbwegs verfallenen Turm sonst eine Erscheinung ähnlicher Art gehabt? (Oder hatten ihn gar ein paar Mitschüler gehänselt und angestachelt zur gefährlichen Klettertour auf unsicherem Terrain? „Traust dich eh nicht …, Sitzenbleiber!“)
Zuletzt, am Ende seines bisher so wenig erfolgreichen und glücklichen Daseins, dessen Verlängerung nunmehr ein für allemal unmöglich geworden war, hatte es einen Absturz gegeben. So viel stand fest.
Doch war das wirklich alles?!
Immerhin: Für Gerd ergab sich dieser Schicksalsbogen, der Bogen hin zu Rudi. Denn vielleicht hätte er das Unglück und den Tod des Kindes verhindern, die Katastrophe umschiffen können, die sich hier anbahnte. (Wenn man allein schon im Vorhandensein eines ruinösen Turms die Möglichkeit für ein mögliches Unglück erblicken möchte.)
Freilich, hätte ein Aufschub für Schmitz überhaupt viel gebracht?
Nun, so zynisch war nicht einmal der (durchaus zum Zynismus neigende) Junglehrer Gerd selbstverständlich nicht, es gar für eine glückliche Fügung zu halten, dass einer, für den das Leben – wie es aussah – ohnedies kaum besondere Chancen bereithielt, solcherart ehest möglich die Bühne desselben verlassen könnte …
Und wäre es Gerd tatsächlich gelungen, die Katastrophe abzuwenden: Vielleicht hätte man dem Rudi Schmitz dann in Zukunft mehr und intensivere Zuwendung von Familie, Lehrern und Mitschülern her entgegengebracht? Vielleicht hätte sich sogar der brutale Vater geändert? Vielleicht –
Zuletzt ergeben sich Parallelen (oder sogar Inzidenzen) zwischen Gertrud, Annemarie, Bertha (und der [ihr laut Grillparzer zum Verwechseln ähnlichen] Ahnfrau) sowie Catherine Deneuve. Allenfalls auch zwischen Gerd und Grillparzers Jaromir (vielleicht auch zwischen ihm und dem einen oder anderen von den männlichen Filmpartnern der Deneuve).
Ja: Und da sind noch die eingangs kurz erwähnten Hollenegger, Graf Hartmann und seine schöne Frau Amaley (auch Omelia), von der – wie angedeutet – schon der skriptoral so eifrig tätige Vorstand der Kanzlei des Patriarchen von Aquileja, Paolo Santonio, der den Bischof von Caorle auf Befehl seines Herrn im Mai 1487 in das Archidiakonat Saunien (in der späteren Untersteiermark) begleitete, einiges Vorteilhaftes zu berichten wusste.
Immerhin beherrschte die Burg Monsberg „den Übergang vom Dranntal ins Pettauer Feld in Richtung auf Pettau“, wie Fritz Popelka („Verklungene Steiermark“) schreibt. Und der Monsberg war ein beachtliches Bauwerk, das „nach der Beschreibung des Santonio mit einer doppelten wohlbewehrten Festungsmauer, einem Graben und einem Walle umschlossen war.“ Kein Wunder, galt es doch, sich gegen die Türken zu schützen, die zu dieser Zeit immer wieder feindlich, mordend und brandschatzend einfielen.
Santonio beschreibt die überaus herzliche und geradezu üppige Gastfreundschaft, die das adelige Ehepaar den kirchlichen Visitatoren, „begleitet von einer schwer bewaffneten Eskorte“, erwiesen habe, und schwelgt, was die Schönheit besagter Amaley angeht, schier in Superlativen. Zudem verfügte die Schlossherrin vermutlich über jede Menge Charme und offenbarte außerdem manche ihrer kuriosen Grillen: So habe Amaley über einen Eber verfügt, der ihr, als Jungtier schon gezähmt, wie ein Schoßhund überall hin gefolgt sei. Auch einen Hirten zeigte die taffe Schlossherrin der Gesellschaft, der zwar ein Kretin gewesen, „aber ohne Kenntnis der Buchstaben sämtliche beweglichen und unbeweglichen Feste und Heiligennamen aller Tage des Jahres auswendig wusste“. (Popelka.)
Die junge, reich-geschmückte und edel-gewandete Schlossherrin, zudem auch in den Kochkünsten bestens bewandert, war leider immer noch kinderlos; sie erfreute sich, so Santonio, wie man munkelte, indes „keines einwandfreien Lebenswandels“. (Nun, ja …)
Immerhin, als ihr Mann gestorben war, heiratete die reiche Witwe nochmals. Und sie überlebte auch ihren zweiten Gemahl, Hans von Helfenberg; doch Kinderglück blieb ihr weiterhin versagt …
Als 8ojährige Ritterfrau verfasste die hochgebildete Dame ihr Testament (übrigens „die älteste uns bekannte Schrift einer steirischen adeligen Frau“, [Popelka]), in dem sie nach ihrem bald zu erwartenden Tod ihre diversen näheren und ferneren Verwandten, möglichst gerecht, mit den erklecklichen Besitztümern zu versorgen suchte.
Also keine Ahnfrau zwar, aber immerhin eine Frau mit Geschichte.
Sollen wir sie daher nicht auch aufnehmen in die Kette, neben die ach so funkelnden Erzähl-Glieder Gertrud, Annemarie, Bertha (sowie die Grillparzer-Ahnfrau) und – Catherine?
Wer weiß, wer weiß, ob das schicklich wäre.
Fortsetzung folgt!
VII
Nie in seinem Leben (zumindest kam es ihm selbst in der Rückschau so vor) war Gerd Prank so oft ins Kino gegangen wie in der Zeit mit Gertrud. Nicht einmal damals, als er selbst noch in der Oberstufe des Grillparzer-Gymnasiums als Schüler das Herannahen der Matura teils erhofft, teils gefürchtet hatte, je nach dem … Auch da war es mitunter vorgekommen, dass er sich gleich mehrere Filme an einem Tag ansah (übrigens: allein oder auch mit Kollegen). Und mitunter stellte sich der Effekt ein, den er später beim Konsum mancher Fernsehserien an sich beobachtete: Da verschwammen schließlich die Grenzen zwischen den einzelnen Filmen, und Darstellerinnen oder Darsteller des einen traten in einem anderen Streifen auf. Wie gesagt, bei den TV-Vorabendserien – wenn er sie überhaupt konsumierte, was nicht so häufig vorkam -, trat dieser Effekt ebenfalls ein; was sich jedoch allenthalben durch die nicht selten zu konstatierende dramaturgische Oberflächlichkeit in diesem eher seichten Metier erklären ließ.
Doch, es war schon kurios, wenn er zwei oder gar drei Filme hintereinander gesehen hatte, da purzelten mitunter nicht nur die Plots durcheinander. Nein, da konnte es sogar vorkommen, dass plötzlich jemand mitspielte, der im betreffenden Film eigentlich nichts zu suchen gehabt hätte … Auch bei Träumen stellt sich dieser Effekt bekanntlich mitunter ein. (Doch soll hier nicht über die Parallele zwischen Traum und Film referiert werden.)
Fest steht, in der gemeinsamen Zeit mit Gertrud besuchten sie sehr oft das Kino. Und ihr Geschmack war dabei durchaus kompatibel; auch wenn sie beide keine ausgesprochenen Cineasten waren (und sich auch nicht für solche hielten).
Ja, Gerd Prank war mit Gertrud, denn sie stand nun einmal – und nicht bloß studienbedingt – vor allem auf französische Filme (besonders solche der Nouvelle Vague, aber nicht nur), oft ins Kino gegangen. Meist agierten in den Streifen, die sie sich ansahen, Carherine Deneuve und Michel Piccoli, auch Jean-Claude Brialy; oder aber Mireille Darc, Jean-Paul Belmondo und Françoise Dorléac oder Mylène Demongeot; natürlich auch, nicht zu vergessen, Alan Delon, Yves Montand, Brigitte Bardot … Und die Regisseure waren Jean-Luc Godard und François Truffaut, auch Luis Buñuel; natürlich Robert Bresson, Louis Malle oder Claude Chabrol.
Es war in ihrer verliebten Phase gewesen. 1964. Und sie schauten sich den Film „Ich war eine männliche Sexbombe“ an; so hatte der dumme deutsche Titel dieser erfrischend witzigen, doch sogar einigermaßen tiefgängigen Komödie von Regisseur Philippe de Broca geheißen (im Original: „Un monsieur de compagnie“, nach dem Roman André Couteaux‘). Und mit Jean-Pierre Cassel in der Rolle eines sympathischen Taugenichtses und Faulpelzes namens Antoine, mit der Catherine Deneuve, die sie beide sehr liebten, er wie auch Gertrud, außerdem mit Jean-Claude Brialy, Jean-Pierre Marielle und Irina Demick, mit Annie Girardot, Sandra Milo und noch anderen.
Zuletzt – oder besser: in einer der zwei von de Broca angebotenen Schlussvarianten – schuftet der vormalige Lebenskünstler und durch Jahre so erfolgreiche Arbeitsverweigerer dann in einem Stahlwerk, um sich und seine Familie ernähren zu können. Er tut es in der Hitze und im Takt und Rhythmus der Maschinen und der schweren, schweißtreibenden Arbeit, die ihm, so scheint es zumindest, zur inzwischen gerne erfüllten Pflicht geworden ist; und die jetzt sogar Sinn zu haben scheint.
In einer sehr späten (oder überhaupt der allerletzten?) Sequenz sieht man sein Gesicht, und dann im Gegenschuss das seiner geliebten, schönen Frau, Catherine Deneuve. Doch sie ist nicht daheim und wartet etwa im Kreis der Kinder auf die Rückkehr des in schwerer Fron werkenden Ehemannes. Nein, sie steht in einem Zugabteil am Fenster; und auch er ist mit einem Mal in einem Zug. Doch der fährt in die Gegenrichtung …
Das war ein starkes Bild. Ohne viel aufgeblähten Symbolgehalt, aber stark. Vielleicht deshalb, weil da noch einiges an Leichtigkeit mitschwingen konnte (obschon Gerd sich kaum mehr genau erinnerte).
Ein Blick. Zwei Züge, die in entgegengesetzte Richtungen fahren.
Ein Blick. Filmisch: Schuss und Gegenschuss.
Ein Blick, der ein wenig Einblick gewährt, vielleicht sogar – ins Ich.
Er sieht ihre Augen, ihren schönen Mund, wieder die Augen. Ihren Blick.
Sie sieht – vermutlich – ihn, seine Augen, sein melancholisches Lächeln. (Gerd hätte, das weiß er heute noch, gern nur annähernd so melancholisch lächeln können, wie das der Jean-Pierre Cassel konnte …)
Er sieht ihre Augen, ihren Blick.
Ja, es muss wohl an der Catherine Deneuve liegen.
E N D E
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