
D i e
Logen-
schwester
Eine kuriose
Theatergeschichte
von
Bernd Schmidt
© by Bernd Schmidt, Graz 2014.
(ENDFASSUNG: 2015)
Theater! O Theater, du,
Der Kunst geweihter Tempel!
Raubst viel Geschöpfen Herzensruh –
Ich bin so ein Exempel.
Johann N. Nestroy, Frühere Verhältnisse
*
Außerdem entzieht sich die Oper
der intellektuellen Beurteilung.
Loriot, Oper – ein Interview
*
Sie
glich dem mythologischen Argus oder dem volksmundigen Haftelmacher, die alte Frau Hofrat
Sylvia Krongold. Sie war die Beobachterin schlechthin. In der Tat, Sylvia Krongold entging nichts. Rein gar nichts. Die Logenschwester hatte alles unter Kontrolle. Und von ihrem Platz aus, in der zweiten der Parterrelogen auf der rechten Seite des Hauses, schien sie tatsächlich alles im Blick zu haben. Und im Griff. Das ganze Opernhaus. Den gesamten Betrieb. Vielleicht sogar – die Gedanken der Leute; sollten tatsächlich welche herumschwirren.
Die Logenschwester bildete sogar, wenn sie, was höchst selten vorkam, einmal fehlte, nichts desto trotz das Zentrum des Ganzen. Denn in so einem Fall wurde über die möglichen Gründe ihres Fernbleibens gerätselt. (Nicht dass man sich explizit Sorgen machte, aber immerhin: Warum war sie ausgeblieben? Was hatte das zu bedeuten?)
Außerdem: Die Logenschwester machte nicht erst das Kraut fett, sie war das Kraut; und das Fett. Ja, noch mehr: Sie war das gesamte kulturelle Menü, sozusagen. Samt Amuse-Gueule, Hors d’oeuvre und den diversen (mehr oder minder geglückten) Gängen – bis hin zu Dessert und Käseplatte, Zigarren-, Mokka- und Cognac-Nachspiel.
Und zugleich entsprach sie von ihrer – nie hinterfragten – Position aus einem Katalysator; denn sie trat nicht direkt in Erscheinung. Nein. Ohne sie wäre allerdings jegliche Reaktion unmöglich gewesen. Sie war Motor und Hemmschuh, Gas und Bremse, Alpha und Omega. Ein weniger irgendeinem läppischen Musical geschuldetes als vielmehr ein existenzielles Phantom der Oper. Ja, das war Frau Hofrat Sylvia Krongold, diese unbeugsame Greisin.
Dem entsprechend ging es auch gar nicht so sehr um ihre Anwesenheit, es ging da gleichsam – um ihren Auftritt. Um ihr Erscheinen, das einer Erscheinung gleichkam.
Ihr Auftritt, zumal bei den lange vorher schon angekündigten Premieren am städtischen Opernhaus, wurde jedes Mal aufs Neu zum Prüfstein für die Leitung der betreffenden Produktion, für die Intendanz selbst, auch für das Ensemble und die ganze Belegschaft – von der umjubelten Primadonna, dem mehr oder weniger gezwungen grinsenden Maestro, auch dem Lieblingstenor des Stehplatzes oder dem Leibbass der Logen bis zu den eilfertigen Friseusen und Friseuren, den versierten Schminkkräften und den die vorgeblichen Stars umhüpfenden Anziehgehilfen bis zum letzten Beleuchter oder Billetteur; ja: selbst für das Publikum. Denn Frau Hofrat Sylvia Krongold beurteilte nicht nur die Stimmen, die Ausstrahlung und die Ausstattung einer Produktion, natürlich die musikalische Leistung, den Orchesterklang; nein: Sie beurteilte eben auch die Dienstfertigkeit und Kompetenz der Billetteure, der Kantinenkräfte und der Klosettfrauen. Und, wie gesagt, sogar das Publikum, dem sie sich selbst nur entfernt angehörig fühlte, erhielt seine (internen) Zensuren.
Die Hofrätin machte in ihrer offen zur Schau gestellten Missbilligung (und Feindseligkeit) vor nichts und niemandem Halt und kannte, wenn sie einmal in Fahrt war, keine Gnade. Sogar der senile Prälat Roderich Breitfluss musste das eins aufs andere Mal einsehen, wenn er sich, eitel wie er immer noch war, in einem Pausengespräch mit der Hofrätin messen wollte; in Verkennung seiner jederzeit merkbaren geistigen Defekte (oder in sträflicher Unterschätzung der verbalen Gewandtheit seines Widerparts). Immer wieder unternahm es der schwabbelige Schwätzer – noch dazu quasi im Namen des Herrn -, die Krongold mit seinem pseudo-pastoralen Gewäsch zu behelligen; und immer wieder bot sie dem rundum miserablen, zudem schon merkbar angejahrten und entsprechend mitgenommen wirkenden Kirchenmann, der sich seinerseits – auf welche unappetitliche Weise auch immer – in der lokalen innerkatholischen Hierarchie zäh, ausdauernd und weitgehend gewissenlos hochgeschleimt hatte, ohne auch nur mit einer ihrer Wimpern zu zucken, gehörig Paroli. Ja, an dieser gewandten und bissig-eloquenten Sylvia Krongold wäre wohl auch manch potenterer, jesuitisch optimal geschulter Dialektiker gescheitert; wie hätte also der vergleichsweise inferiore und flachhirnige Prälat eine Chance in den ungleichen Wortgefechten haben sollen?! Doch immer wieder kam es zu kleinen verbalen Scharmützeln zwischen den beiden komischen Käuzen. Worauf der fette Soutanenträger freilich stets, kurzatmig schnaufend und scheinbar längst wieder einem seiner obligaten Herzanfälle nahe, auf seinen unschön angeschwollenen Stummelbeinchen watschelnd, das Weite suchte; der finsteren Gedanken an wuchtige Rache voll.
Doch, ja, man kann durchaus sagen: Wenn die Frau Hofrat nahte, erzitterte der Kulturtempel in seinen Grundfesten. Und bloß eine Frage war nun noch aktuell: Würden die bevorstehenden künstlerischen (und sonstigen, das Ambiente wie beispielsweise die Hygiene betreffenden, ja, sogar die kulinarischen) Leistungen wohl auch vor dem gestrengen Blick, dem kritischen Ohr und der feinen Nase der Sylvia Krongold zu bestehen vermögen? (Übrigens, dass sie selbst keinerlei offizielle Stellung inne hatte und selbstredend auch nicht Hofrat war, soll nur der Vollständigkeit halber schon hier erwähnt werden. Doch darum ging es ja auch gar nicht.)
Frau Hofrat Krongold mit dem blau-silbrigen, zum kleinen, wohlgeformten Haufen toupierten Haar lebte schon seit vielen Jahren als Witwe nach einem hohen Kulturbeamten des Landes, nämlich dem wirklichen Hofrat Dr. Willibald Krongold, an dessen Seite sie bereits Jahrzehnte zuvor eifrig und selbstbewusst am Kulturleben der Stadt teilgenommen hatte. (Damals meist mit rötlichem Schimmer in den penibel ondulierten Löckchen.)
Und von ihm hatte die resolute Wittib nicht nur die großzügige Gründerzeitvilla am Stadtrand draußen und diverse wirtschaftliche Bonitäten, sondern auch die zwei Gratissitze im Opernhaus, im Sprechtheater und im städtischen Musikverein geerbt. Nein, besser: Nach und nach ging auch seine ehemalige Bedeutung als kritische Instanz auf sie über. Fugenlos.
Was keinem Rezensenten der Print- oder elektronischen Medien (und schon gar nicht den paar weniger Kultur- als Technik-affinen On-line-Journalisten) je hätte gelingen können, war der Frau Hofrat quasi in den faltigen Schoß gefallen, nämlich: Eine Instanz zu sein.
Dabei verstand Sylvia Krongold weder besonders viel von Musik oder Theater, noch gebot sie über ein spezielles Quantum mehr an Geschmack als andere Besucherinnen und Besucher der diversen Kaffeehäuser, Restaurants, Kirchen, Konzertsäle und der übrigen Musentempel.
Und auch ihre Intuition, so ganz allgemein, war eher inferior ausgebildet. (Gut, zugegeben, das war das Niveau, zumal des Opernhauses, auch …)
Ja, man munkelte sogar, dass die Frau Hofrat schlichtweg über Schweinsohren verfüge; und zudem einen Bariton rein klanglich nicht von einem Mezzosopran, ein Violoncello nicht von einer Kreissäge unterscheiden könne. (Doch mochte das wohl übertrieben sein.)
Egal, sie war eine Instanz. Und ähnlich wie es uns vom alten Rom her überliefert ist, blickte alles auf die Frau Hofrat Sylvia Krongold, bevor es nach dem Schlussakkord ans Applaudieren (oder Buhrufen) ging: Würde sie – im übertragenen Sinn des Wortes – den Daumen nach oben recken oder ihn womöglich nach unten senken, damit Gedeih oder Verderb über die Sängerleistungen, die Arbeit des Regisseurs, der Ausstatter oder des Dirigenten aussprechend?
Gut, der Geschmack war in der ganzen Stadt nicht allzu exklusiv ausgeprägt; beileibe nicht. Und die sogenannte Kultur-Community gab sich Kunstereignissen (aber auch dem Essen und Trinken oder anderen fragwürdigen Belustigungen) ohne besondere Begeisterung und weitgehend Kenntnis-los und am ehesten noch dem Herdentrieb folgend hin. Und die Society wiederum war alles andere denn high, um im nunmehr verwendeten Bild zu bleiben.
Möglicherweise nicht zuletzt deshalb schien es so wichtig, jemanden, wie die Frau Hofrat Sylvia Krongold als unbestrittene Instanz in der gesellschaftlichen Mitte zu wissen.
Denn woran hätte man sich sonst halten sollen?
Er
hatte die Ausstrahlung eines (zugegeben: leicht schon gealterten) Operettenbuffos. Henry Breineder stellte fraglos etwas dar; nämlich sich. Und er verstand es, aus jedem seiner Auftritte immerhin eine kleine Pointe zu machen. Wenn auch niemand genau wusste, was Breineder beruflich – oder besser: geschäftlich – tat, der Mittsechziger mit der grauweißen Löwenmähne (ob die wohl echt war?!) tat immerhin äußerst geschäftig. Zwar haftete Breineder vieles von einem längst in die Jahre gekommenen Wäschevertreter (oder vielleicht von einem im Verwelken befindlichen Versicherungsagenten) an; doch konnte man dem geborenen Hans-Dampf-in-allen-Gassen beim schlechtesten Willen ein recht ordentlich ausgebildetes Durchsetzungsvermögen, einige Präsenz und sogar Geschick nicht absprechen. Dieser obskure Mensch mit seinem weitgehend buffoesken Gehabe weckte immerhin (und besonders bei Frauen beinahe aller Altersklassen) Interesse. Und das, obwohl Breineder eindeutig anders orientiert war. Und sein langjähriger Gefährte, Curt I. Sandburger, tauchte ebenfalls überall auf, wo sich die weißhaarige Operettenkarikatur zeigte. Übrigens: Auch Sandburger wirkte durchaus – eigenwillig. Der Kerl hatte – wenn überhaupt, dann – etwas Ornamentales an sich; freilich konnte er keinesfalls als Aufputz gelten. Nein, Sandburger glich eher einem unnötigen, nichts desto weniger jedoch stets vorhandenen Schnörkel.
Henry Breineder war zwar eine halbseidene, doch er war immerhin – eine Erscheinung. Sein Freund Sandburger eine Art missglückter Schatten. Missglückt, doch konsequent missglückt.
Allein schon die langsam abblätternde Elegance, die von den immer noch merkbar nach Maß gefertigten Anzügen, Hemden und Schuhen Breineders auszugehen schien, machten den einen oder anderen Fleck, diesen oder jenen fehlenden Knopf oder gar ein ausgerissenes Stückchen Stoff bei Weitem wett. Im Gegenteil: Henrys kleine modische Blessuren halfen nachgerade sogar mit, den Eindruck noch zu verfestigen, wie sehr der schräge Träger eben dieser leicht desolaten Bekleidungsstücke gleichsam über den Dingen stand; auch wenn das in ziemlich abgetragenen Genagelten geschah …
Fast schon ins Farblose gesteigert und meilenweit entfernt von irgendwelcher modischer Noblesse wirkte dagegen die Pseudo-Seriosität Curt I. Sandburgers, eine auf schiere Unsichtbarkeit hin zielende Unauffälligkeit, die einem Top-Spion wohl angestanden wäre. (Doch Curt Isidor Sandburger war alles andere als ein Geheimagent. Er war schlicht und ergreifend eine arme Sau – in Grau gehalten. Und wäre es machbar gewesen, so hätte er vermutlich papierene Anzüge und Schuhe aus Pappmaché getragen …)
Kurzum: Henry Breineder glaubte man den in Maßen gewandten (Pseudo-)Weltmann, den mehr oder minder erfolggewohnten Frauen-Versteher (bei aller, zugegeben: nobel überspielter Tendenz zur Abgerissenheit) und vor allem den alerten Salonlöwen; in Maßen sogar den mehr oder weniger witzigen Geschichtenerzähler; kurz: den Gesellschaftsmenschen, der er, wie die Fama zu raunen wusste, tatsächlich früher einmal gewesen sein soll …
Und Sandburger diente ihm gleichsam als farb- wie schmuckloser Hintergrund; besser noch: als Passepartout, durch das seine längst weichgewordenen Konturen und das erschlaffende Bindegewebe seines faltigen Gesichts mit dem Mehrfachkinn und den meist ein wenig abwesend schauenden, verschwommen-wasserblauen Augen erst zu später Wirkung kam.
„Leutnant war ich einst bei den Husaren …“ oder „Schöner Gigolo …“, die Erfahrung der Ups and Downs einer durchwegs intensiv erlebten Vita, sie lagen quasi als beredte Schatten im Blick seiner hellen, mitunter sogar immer noch andeutungsweise geheimnisvollen Augen, auch wenn sich darunter einigermaßen dicke Tränensäcke wölbten.
Sandburger? Der übte sich schon recht gekonnt in sukzessivem Verblassen.
Eigentlich schade, dass die beiden hier so liebevoll Beschriebenen für den weiteren Verlauf der Geschichte keine besondere Rolle mehr spielen und daher künftig auch nicht erwähnt werden. Ja, schade um die beiden ältlichen Burschen.
Vielleicht sollte man sie sich doch warm halten? (Obwohl warm halten in diesem Fall nicht so ganz der richtige Ausdruck sein dürfte …) Nun, ja: Möglicherweise lassen wir sie später doch nochmals auftreten; in anderer Form vielleicht …, als Tiere, Pflanzen oder Architektur?!
Das
Gedränge am (bloß mittelprächtig verheißungsvoll glitzernden) Buffet, oben im Spiegelfoyer, zu dem, beziehungsweise von dem aus es zu den Plätzen und Logen der Galerie und zu den Wandelgängen und Treppen innerhalb des weitläufigen Opernhauses ging, war wieder einmal furchtbar. Die Leute führten sich auf, als ob es mindestens etwas umsonst gäbe … Und das Niveau der Gespräche unterbot mühelos noch die ohnehin schon fragwürdige Qualität des kulinarischen Angebots. Verheißung eben ohne Bestätigung. Theater, alles Theater …
Ein nicht geringer Anteil am fragwürdigen Standard dieses Ortes, der eigentlich – neben Klatsch und Tratsch – der andeutungsweisen Sättigung von Hunger und Durst während der nicht selten überlangen (um nicht zu sagen: langweiligen) Aufführungen dienen sollte, ein nicht geringer Anteil am fragwürdigen Standard des Buffets ging ohne Frage zu Lasten des missmutigen Inhabers der besagten miesen Imbiss-Stätte. Fridolin Hofstätter, selbst ein verhinderter und darob (vermutlich auf immerdar) frustrierter Bassbariton, legte kaum Wert auf Qualität, Frische oder gar Exklusivität des Angebots an angeblich Ess- und Trinkbarem, das er in schmierigen Glasvitrinen, die manche der hier quasi (und unappetitlich genug) ausgestellten Gammeleien mehr oder minder gnädig dem Blick des potenziellen Käufers verschleierten, um teures Geld und also alles andere denn wohlfeil präsentierte. Kein Wunder, dass mancher der unvorsichtigen Genießer des von Hofstätter offerierten Biomülls, eben erst wieder von schwerwiegenden Magenverstimmungen oder Ärgerem genesen, ernsthaft daran dachte, das Marktamt einzuschalten. Doch hielt die Leitung des Hauses ihre gnädig-schützende Hand über das im weitesten Sinn nicht selten Leib und Leben seiner potenziellen Kunden gefährdende Schlitzohr namens Fridolin Hofstätter.
Und so durfte der, wie schon angedeutet: vergleichsweise sauteure Imbiss mit Fug und Recht als eine der Achillesfersen des ganzen Opernhauses gelten.
Doch gab es da noch andere. Zu nennen wäre etwa der kaum mehr unterbietbar schwache Chor, die nicht selten indisponierten, permanent indes unambitionierten Musikerinnen und Musiker des Opernorchesters sowie letzten Endes wohl auch viele aus dem grosso modo inferioren Solisten-Ensemble; ganz abgesehen einmal von dem bemitleidenswert rachitisch wirkenden, in Wahrheit jedoch bloß unfähigen Chefdirigenten. Der hieß übrigens Chrysostomos Ebenfurter, warum auch immer.
Ach, ja, wenn wir schon einmal beim Absehen sind: Solches täte auch gut, ginge es um die weitestgehend indiskutable sonstige Führungsriege des Hauses, also um den Intendanten, diesen nebulös-undurchsichtigen Schaumschläger Prof. Gérard-Auguste Pfurtz, einen geborenen Elsässer, sowie um seinen kaufmännischen Direktor (und Handlanger), einen gewissen Dr. Roman Gertenstauch, und den – angeblich – Verantwortlichen für die technischen Abläufe, Dipl.-Ing. Eberhard Schnepf. Allein mit den gemeinsamen Leichen, die dieses weitgehend ehrlose Triumvirat in den geräumigen Kellern seiner Karriere verbuddelt hatte, wäre ohne weiters ein passabler Nekrolog zusammenzustellen gewesen.
Die Inkompetenz sickerte jedoch, wie man das ja auch von anderen Seiten (zum Beispiel auf politischer und kommunaler Ebene oder von einem Wasserrohrbruch) her kennt, in die weiter unten befindlichen Führungsebenen hinab und hinein. Und so war es weiter kein Wunder, dass dieses Operntheater in der Tat ein ziemlicher Sauhaufen war.
Die
Zeit der waschechten Anarchisten war, man muss es – egal, ob mit leicht sentimentalem Bedauern oder ehrlich erfreut – zugeben, längst dahin. Leo Trotzki spielte nicht mehr Schach im Wiener Café Central (oder war es im Griensteidel? – Nein, das Griensteidl gab es damals schon nicht mehr, also im Central!), und die Russische Revolution hatte seit geraumer Zeit auch das mit der Französischen gemeinsam: vorbei zu sein. Jahrzehnte, gefühlter Maßen: Jahrhunderte waren inzwischen vergangen und ins Land gezogen. Neue Fehler waren inzwischen begangen worden; neue Irrtümer hatten Platz gegriffen; und man hatte gelernt, neue Probleme als mehr oder minder unlösbar abzuhaken. Manche Fehler waren sogar (und nicht selten rasch durchschaubar) die – bloß neu eingekleideten – alten, manche Irrtümer hatte es ebenfalls in ähnlicher Weise schon mehrfach gegeben; und manche der alten, jetzt angeblich neuen Fragen wurden weiterhin als unbeantwortbar angesehen. Und folglich auch nicht näher betrachtet oder gar erörtert. Waren es doch meist lediglich die Masken früherer Daseinsprobleme; mitunter sogar gar nicht so ungern herangezogen, um von Wichtigerem abzulenken. Camouflage tat fast immer ihren Dienst.
Im Fundus der Geschichte ruhten (mehr oder minder friedlich) die früher so temperamentvollen, ja: aggressiven, nach Blut und Mord gierenden, höchst reizbaren und immens nachtragenden Helden wie Robespierre, Danton, Marat oder der Wendehals par excellence, Napoleon, oder, andere Liga, der schwachbrüstige Gymnasiast Gavrilo Princip, der – oh, welche großartige Befreiungstat! – im bosnischen Sarajevo den weit und breit verhassten Thronfolger Franz Ferdinand von Österreich-d’Este sowie dessen Frau, die ehrgeizige Sophie, Fürstin von Hohenberg, geborene Gräfin Chotek (das nicht standesgemäße, deshalb bei Hof und bei Kaiser Franz Joseph so ungeliebte Anhängsel), zu erschießen die Gelegenheit ergriffen hatte an jenem verhängnisvollen 28. Juni 1914, dem „Vidovdan“ oder St. Veitstag, der erfüllt war von nationalistischem Gedenken an die Schlacht auf dem Amselfeld anno 1389, da die Osmanen die Serben besiegt hatten … Kein Hahn krähte mehr nach ihnen. Und auch nicht nach Leonidas von Sparta …, nach Epaminondas … oder nach dem angeblich so großen Alexander … Auch Stalingrad war schon fast vergessen, Pearl Harbor, aber auch Hiroshima …
Wenn überhaupt, dann gedachte man zwischendurch (und berechtigter Weise) der Millionen an toten Soldaten und Zivilisten, die da – egal, ob selbst davon überzeugt, verblendet oder unwissend – irgendwelchen fragwürdigen militärisch-strategischen Ideen oder unglaubwürdigen Blut und Boden-Idealen noch unglaubwürdigerer Führer und mehr oder weniger abstrusen politischen Gelüsten geopfert worden waren. Oder der aus rassischen oder sonstigen Pseudo-Gründen hingemordeten Minderheiten und – wenn auch bloß selten – sonstiger sogenannter Kollateralschäden kriegerischer Auseinandersetzungen. (Da wäre womöglich auch noch die Anlage eines würdig gestalteten Friedhofs für internationale Drohnen anzudenken gewesen, den auch die wurden mitunter abgeschossen.)
Im Verhältnis dazu waren die Schachpartien Trotzkis, die plus/minus sinnlosen Besäufnisse der revolutionären Hitzköpfe oder ihre grotesken Duelle mit ein paar von ihnen gehörnten Adeligen noch imstand gewesen, ein wenig Sympathie auszustrahlen, zumindest verfügten sie über etwas Unterhaltungswert. („Lasst doch die unschuldigen Kinderlein ihre kindlichen Sandburgen bauen, da kommen sie wenigstens nicht auf blöde Gedanken …!“ – Freilich: Ganz im Gegenteil, liebe dumme Eltern! Just dabei entstehen in ihnen die Gelüste nach Mord und Totschlag! Mit Sandburgen im Kopf nämlich beginnt nicht selten, was mit der Kalaschnikow im Anschlag später dann bitterste Realität wird! – Aber, egal.)
Auch wenn somit die Zeit der berüchtigten Revolutionäre und ihrer bluttriefenden Thesen vorbei zu sein schien, diesbezügliche Relikte moderten allenthalben in den dunkelsten Ecken abgefuckter Dachböden vor sich hin und fristeten weiter ihr fauliges Dasein in stickigen Kellerabteilen sowie in dunklen, von Spinnweben umsponnenen Gebäudenischen … Vergessen zwar – oder beinahe -, doch immerhin jederzeit wieder abrufbereit wie zwischendurch zu Schläfern gemachte Ex-Agenten oder die legendären Bataillone irgendwelcher längst hingerichteter Aufrührer; oder ihrer Überwinder, je nach Ansicht und Standpunkt … Irgendwo stolperte sogar der kopflose Klaus Störtebeker umher.
Kurz: Der Schoß war fruchtbar noch in so mancher Hinsicht. (Und das, nicht nur, damit Bertolt Brecht wieder einmal recht habe.)
Das alles sollte der Stoff sein, aus dem Manfred Aarmann seine neue Oper stricken wollte. „Ewiger Ares“ lautete der wenig glanzvolle Arbeitstitel des – bedachte man Aarmanns bisheriges musikalisches Oeuvre – vermutlich einigermaßen sperrigen Werks. Nota bene: Hatte doch erneut Ignaz Balduin Lepuschitz den Part des Librettisten übernommen. Und von Lepuschitz drohte allemal höchste Gefahr für Geschmack und Wohlbefinden – nicht nur der letztlich geschundenen Zuhörer und Zuseher, sondern vor allem der bemitleidenswerten Beteiligten; seien es Sängerinnen und Sänger, der Chor bis in die piepsigsten der kleinen Stimmen hinein, die überforderten Instrumentalisten und die anderen Bühnenkräfte, etwa des Balletts; und natürlich auch die Kreativen, die im Bereich Ausstattung, Bühnentechnik und Drumherum beschäftigt waren: Sie alle hatten Schlimmstes zu befürchten!
Denn wenn Aarmann einmal seine künstlerischen Flügel ausfuhr und die Triebwerke seiner grenzwertigen Kontrapunktik anwarf, ja, dann musste die höchste Gefahrenstufe angenommen werden; und allergrößte Vorsicht war geboten im Luftraum über der betreffenden Stätte einer zu erwartenden Uraufführung (die gleichzeitig meist auch der letzte Aufführungsort seines jeweiligen Ergusses zu sein pflegte). Eine bevorstehende Aarmann-Aktion setzte bei allen Beteiligten voraus, sich am besten auf das Schlimmste einzustellen; Aarmanns (durchaus ambitionierte) Attacken im tonalen wie im atonalen Musikbereich bedeuteten nämlich schlichtweg sowohl logistische Herausforderungen, was ihren Aufwand betraf, als auch solche des guten Geschmacks, der Hörgewohnheiten und, nicht zu vergessen: der Lust, sich akustisch beleidigen zu lassen … Masochisten taten sich jedenfalls leichter!
Der auch im Umgang ziemlich schwierige Tonsetzer war felsenfest davon überzeugt, dass die meisten Sujets ohnedies längst abgelutscht und ausgesogen seien. Wovon sollten also Kunst, Musik, Literatur und Theater dann überhaupt noch handeln? Wenn nicht vom Elementaren, von Weltenbränden und Zeitenwenden?! Etwa davon, wie an sich (oder zumindest: vermutlich) ernst zu nehmende Männer irgendwelchen überhöhten Weiber-Imaginationen nachhechelten wie geile junge Hunde? Irgendwelchen ohnedies letztlich unerreichbaren Trugbildern zuckrigster Färbung? Noch dazu: Frauenzimmern, die sich erst gar nicht ihren erotisch kaputten Dantes oder Boccaccios zuzuwenden gedachten, sondern sicherheitshalber gleich begierig und nach Liebe lechzend in den kräftigen Armen der reichen, gestandenen und vor allem: saftigen Jünglinge mit niedriger Stirn und ebensolchen Absichten landeten? (Auf dass ein neo-kapitalistisches Geschlecht den vitalen Lenden beziehungsweise den wohlproportionierten Genitalpartien entsprieße …)
Unglückliche (weil unerwiderte oder unerfüllte) Liebe, das war längst kein adäquater Opernstoff. Da hätte er auch gleich den – im Übrigen: gar nicht so trockenen – Themenkomplex rund um den biblischen Onan herholen können …
Nein! Keine Liebe! – Krieg!
Aarmann und Ares, das hatte – Format!
Untergang! Mit Tätärä, Tschinn-Bumm und Orgelgebraus!
Weltenbrände! Zeitenwende! Zeitenende, Tod, Teufel und so weiter …, und so fort …
Aber – bloß keine Liebe!
Krieg!
Dass Manfred Aarmann zu den begabtesten Vertretern der zeitgenössischen Musik zähle, galt in Fachkreisen zwar als weitestgehend unbestritten. Doch vermittelte just die neue und die aller-allerneueste Musik ihre Befindlichkeit in einer Phase innerer wie äußerer Kämpfe und Krämpfe. Nicht zuletzt stolperte mancher, vielleicht doch etwas vorschnell, als hoffnungsvoll apostrophierte Komponist, manche, womöglich etwas salopp, als unitär bezeichnete Komponistin alsbald über die eigenen Eitelkeiten, über plötzlich sich offenbarende handwerkliche oder Motiv-immanente Unzulänglichkeiten sowie über diverse künstlerische (wie charakterliche) Defizite; auch versiegten einige der eben noch wie überirdische Erscheinungen angestaunten Begabungsquellen, ehe es sich die Fachwelt versah; und solcherart entpuppten sich kürzlich noch hochgelobte Jung-Koryphäen alsbald schon als bloß mittelprächtige Rohrkrepierer und taube Nüsse.
Aarmann war wenigstens, was seine Unmäßigkeit in den künstlerischen wie (vor allem) in den monetären Forderungen betraf, die er in schier unverschämter Weise zu äußern sich unterfing, eine garantierte Größe. Er bürgte, mit anderen Worten, nicht nur für Schwierigkeiten aller Art, die sich allein schon aus dem Umgang mit ihm, dieser fürchterlichen, stets in Schwarz gehaltenen Zicke und enervierenden Mimose, ergaben, sondern auch für überzogene Budgets und gesprengte Finanzrahmen. Und, wenn es schon sein sollte, auch für den einen oder anderen veritablen Theaterskandal.
Richard Wagner hatte sich für seine verschiedenen Musikvorhaben unter anderem um Unsummen (die freilich andere zu berappen hatten) eigene Instrumente bauen lassen, Paul Hindemith schrieb auf dem Sektor Kammermusik mit Lust beinahe Unspielbares für diverse Blech- und Holzbläser und auch Richard Strauss schreckte nicht vor so mancher akustischer wie Instrumenten-technischer Eigenwilligkeit zurück (die seine politischen Verrenkungen in bemühter Anlehnung an das NS-Regime an Bizzarerie womöglich noch übertraf). Und zumindest, was Instrumentation, Satz und Klangstreben tangierte, pochte auch Aarmann auf seine Position als der lange als Shooting Star im Klassikbereich gehandelte zornige junge Mann; nur dass der schwerverdauliche Jungspund allmählich auch in die Jahre gekommen war und nunmehr, graumeliert sowie schon einiges jenseits der Fünfzig, das meiste an Kredit, den man dem genialischen Wunderkind in Form quasi geschuldeter Nachsicht vorstrecken zu müssen geglaubt hatte, bis auf den letzten Euro-Cent verbraucht hatte …
Immerhin muteten seine Forderungen – etwa an den Orchesterapparat – nicht selten skurril genug an; umfasste sein Œuvre doch neben Werken in großer symphonischer Besetzung zum Beispiel auch Stücke für sechs Harfen, fünfzehn Kontrabässe, Sopran-, Alt-, Tenor- und Bass-Maultrommel sowie Suiten für zwölf Konzertzithern, sieben Gamben, ein neunteiliges Schlagwerk und vier Wellensittiche oder reichlich obskur anmutende Humoresken für dreizehn Alt-Staubsauger (wie in den Tagen der berühmten Konzerte des englischen Tubisten, Cartoonisten und Humoristen Gerald Hoffnung), zwei Streichquartette, vier Lachsäcke, eine Orgel und diverse Küchengeräte beziehungsweise ein Arsenal digitaler Geräuscherzeuger. (Als ziemlichen Affront sollen übrigens die Wiener Philharmoniker ein hochdotiertes Auftragswerk empfunden haben, das neben dem erweiterten symphonischen Klangkörper drei Hackbretter, dreiundzwanzig Triangeln und ein Dutzend Eierbecher aus Augarten-Porzellan vorsah, die mittels präparierter Wattestäbchen zum Klingen zu bringen gewesen wären. Man nahm, sehr zu Aarmanns Unmut, von der Realisierung schließlich verschnupft Abstand.)
Kurz und schlecht: Erklang Aarmanns Musik, so begannen Haare zu Berge zu stehen, und Ohren fingen an abzufallen (um es assoziativ mit Georg Kreislers meisterlichem Chanson „Wenn die Mädchen nackt sind“ zu sagen). Ja: Die Angst ging um, selbst bei den sogenannten alten Hasen und bei Kummer gewohnten angeblichen Fachleuten, die längst schon mit entsprechend harten Trommelfellen ausgestattet waren. Pulse beschleunigten, auch stellte sich spontan Bluthochdruck ein; und sogar die Gefahr für Diabetes mellitus stieg exorbitant an. Auch die Neigung zu Alkohol-Abusus nahm rapid zu; und sogar eine Tendenz zum gesteigerten Drogenkonsum galt als weitgehend erwiesen. Das ganze Areal, auf dem sich etwas von Aarmann Komponiertes ereignen sollte, befand sich Stunden, oft: Tage zuvor schon und in kürzester Zeit im Ausnahmezustand. (Man munkelte, dass sogar Klaviere Selbstmordversuche zu unternehmen erwogen; von einigen Korrepetitoren und anderen musikalischen Hilfskräften wusste man solches definitiv: Einige hatten sogar Erfolg.)
Ja, alles lag in einer bizarren Gefühlsmischung, angesiedelt zwischen Agonie und Überdrehtheit, sobald eine Arbeit Aarmanns zur Aufführung anstand.
Fazit: Dass seine Kunst polarisiere, wäre als stark untertrieben zu bezeichnen. Eine fast schon unverschämte Beschönigung.
Denn der weitgehend anarchistische Komponist setzte verschiedenste Stilmittel und Effekte ein, mit denen er sein fragwürdiges Ragout fast immer überwürzte, und schreckte – neben den schon erwähnten Extravaganzen – selbst vor dem Einsatz von Techno-Elementen sowie vor anderen fragwürdigen Anleihen aus dem Bereich der Popularmusik (einschließlich der sogenannten volkstümlichen) und dem Einbau diversen akustischen Schrotts nicht zurück. Das sei schließlich doch auch irgendwie spätromantisch, meinte er lapidar, dazu befragt, nur halt ein bisschen krasser …
O ja, Aarmann war grosso modo ein Menschenfeind.
Dabei
war der Ansatz diesmal so falsch (und vor allem: so unverständlich) gar nicht. Und wenn auch weiterhin vieles gegen den Charakter Aarmanns sprach, gegen sein arrogantes Auftreten, seinen mehr als dubiosen Lebenswandel und seine sonstigen Allüren, so konnte man dem eigentümlichen Komponisten immerhin nicht vorwerfen, zu den Decouragierten im Land zu gehören. Nein, Manfred Aarmann getraute sich, allenthalben anzuecken und, wo es ihm nötig erschien, loszupoltern und insgesamt manchen Rumor zu veranstalten. Ja, Aarmann stand geradezu für Attacke, für Kampf, für Revolution! Auch wenn es meist Attacken gegen das Nichts, Kämpfe um Nichtigkeiten und Revolutionen ohne tatsächliche Relevanz waren. Einem Don Quixote nicht unähnlich, ließ er nun einmal keinen Streit aus; und seien die Widersacher noch so des Erbarmens würdige, äußerst windarme Windmühlen. Er warf mit Fedehandschuhen geradezu um sich wie ein junger Immobilienmakler mit Visitenkarten.
Nein, nein, Aarmann versuchte, seinem lange schon aufgestauten Frust endlich einmal musikalisch-szenisch Luft zu machen und sich seine Pein und Not von der Seele zu schreiben. (Übrigens: Nicht nur den in Sachen Liebe …) Aber auch vom Magen, von der Leber, von Milz, Lunge und – nicht zu vergessen! – vom Herzen komponierte er ihn sich weg; auch vom Gemächt, von Arsch und Schwanz.
Ganz allgemein: Aus Phobien sollten Notenköpfe werden, aus Urängsten Crescendi und Descescendi resultieren. Kurz – sein seelisches und körperliches Innenleben würde er (metaphorisch wie auch praktisch) den Quintenzirkel rauf und runter komponieren! Und schließlich aufgeführt, sollte sich das scheußliche Konglomerat der divergenten Gefühlslagen, dieses penetranten Kampfes innerer wie äußerer Befindlichkeiten und der verschiedenartigsten Sinnverdunkelungen als ein kraftvoller Rundumschlag des Antibürgers, des Antikünstlers und des Anti-Harmonikers gegen alles zuckrig Bürgerliche, angepasst Künstlerische und schlicht Harmonische äußern. Dagegen wirkte noch die strengste Zwölftonmusik wie süß-innigster Schlaflieder-Klang …
Das war es! Komponieren: zusammenfügen. Aber dann auch wiederum: destruktiv auseinanderreißen. Auseinanderreißen und, sozusagen, weg-komponieren. Einem Musik-Berserker gleich! Ja, weg-komponieren den Dreck! Weg-kompostieren zuletzt sogar, das wollte er! Wegkompostieren! Auflösen! Zerstören!
Ja, die angesammelte Wut über die Welt, wie sie durch den Menschen geworden war, und die Wut über die Menschen, wie sie sich gebärdeten auf dieser ihrer Welt, diese Wut wollte er, in all ihrer Garstigkeit möglichst effektvoll und keinerlei Aufwand im Scheußlichen scheuend, aufzeigen – und daraufhin gnadenlos wegschaffen! Wegbringen, einscharren und verbuddeln! Eruptiv, direkt und ohne Scheu vor den mit Sicherheit zu erwartenden Kollateralschäden; und selbstverständlich sogar (dabei wohl notwendig vorkommende) Eigenverletzungen tapfer missachtend. Und: Egal, wie sich seine Gegner ihm gegenüber früher schon die meiste Zeit hindurch gebärdet hatten, wie sie sich immer noch gebärdeten – und wie sie sich aller Voraussicht nach auch weiterhin gebärden würden … Im Sinne eines infernalischen Fanals.
Weg-komponieren und weg-schreiben. Kompostieren alles. Dann dem verdienten Modern und der lang schon ersehnten Verwesung anheim fallen lassen. Todesgeruch über dem Orchestergraben erzeugen, sozusagen … Erst alles in scheußliche Klänge setzen, die schonungslos das darzustellen und dem Ausdruck zu verleihen imstande sein würden, was ihn so sehr belastete, was ihm nicht selten den Atem nahm, ja, was sein Dasein längst schon zu einem unerträglichen Dahin-Vegetieren, zu einem Lebendig-Tot-Sein abwertete! Dann –
Wir leben in einer verrückten Zeit, dachte Aarmann, der längst schon Verbitterte (weil bei aller Kurzsichtigkeit, Egomanie und Verbohrtheit immerhin Sehende!). In einer Zeit, da die Politiker in dummer Selbstgefälligkeit und in skrupelfreier Hoffart ihre Verbrechen und Schandtaten nicht einmal mehr zu leugnen versuchten; da sich das ganze Schul- und Bildungssystem sowie die wissenschaftliche Ausbildung selbst endgültig als Strukturwirrwarr der Verblödung dekuvrierten; in einer Zeit, da die Kranken ihre Hauptaufgabe nicht etwa in einem (von fähigen Ärzten nach Kräften unterstützten) Wieder-Gesund-Werden oder zumindest im konsequenten Krepieren sahen, sondern darin, möglichst folgsam, ja, untertänig und brav, der Pseudo-Wissenschaft Medizin und deren unerbittlicher Domina, der Pharma-Industrie, zu Diensten zu sein; in einer verrückten Zeit, da Kirche und Staat im altbewährten Schulterschluss die geistige wie die materielle Ausbeutung der Bürgerschaft vorantrieben; da die Wirtschaft ausschließlich sich selbst (beziehungsweise das Kapital und dessen amoralische Träger) anbetete. Kurz: in einer verrückten Zeit verschobener Werte, betrogener Hoffnungen und genasführter, weiterhin unmündiger Volkssklaven. Da könne, glaubten – nach Aarmanns fester Überzeugung – immer noch mache der wahrlich grenzdebilen und pathologisch hoffnungsgeilen Geisteszwerge, ja eigentlich alles nur noch besser werden! Oder?!
Nein – mitnichten!
Und sein „Ewiger Ares“ sollte endlich den musikalisch-dramatischen Gegenbeweis erbringen. Einen wahrhaftigen, einen spürbaren, einen schmerzhaften Kontrapunkt setzen.
Es war nämlich nicht erst fünf vor zwölf, sondern längst schon fünf nach -.
Doch kümmerte ihn das überhaupt noch?
Aarmann delirierte förmlich. (Was sonst im Allgemeinen schon während des Arbeitsprozesses selbst zu geschehen pflegte. In der Phase danach glich er meist einer vollgefressenen, satt-müden Python.) Während sich seine an Kunst a priori überhaupt nicht interessierten Manager und in ihrem schäbigen, genauso geldgierigen Gefolge die diversen weitgehend funktionsfreien, ergo parasitären Ohrenbläser, abartigen Werbefuzzis und dreisten Reklame-Onanisten schon in der Vorfreude kommender Geldflüsse einen ‚runterholten.
Auch
wenn man meist nur äußerst ungern zu Philomena Schwab-Wirblinghausen (eigentlich: Freifräulein von …) ging, man ging ja doch. Galt die mehr als bloß schrullige alte Dame mit dem bedrohlich hochgesteckten Weißhaar, dem ein eigentümlicher Schimmer von Rosé (nein, besser: Altrosa) anhing, der auf fast schon geheimnisvolle Weise mit ihrem undefinierbaren Parfum korrespondierte, immerhin quasi als die allerletzte der Salonieren dieser, was die einigermaßen intellektuellen oder zumindest halbwegs gebildeten Zirkel betraf, summa summarum leider längst ziemlich heruntergekommenen Stadt. Philomena Schwab-Wirblinghausen ähnelte im weitesten Sinn einem wenig Gutes symbolisierenden Fabelwesen, einer womöglich heimtückischen Chimäre oder einem obskur-diffusen Baselisken. Mit ihren grätendünnen Storchenbeinen, die dem Gang des alten Gestells das Zerbrechliche eines havarierten windschiefen Fischgerippes aus Porzellan gaben, das optimal als fragwürdiges Prunkstück in einer reichlich makabren Sammlung von abartigem Nippes hätte dienen können, und ihren kleinen milchig-blauen Augen, deren höllenschwarze Minipupillen dennoch stachen wie altes Stroh, das sich nachts dann seinen Weg aus einem verschlissenen Polsterüberzug bohrt und dem müden Wanderer den Schlaf unmöglich macht … Dazu ihre spindeldürren Ärmchen, die, in schmale, mit dunkelblauen Adern prunkende, schmale, langfingrige Hände mündeten, deren Zittern beinahe etwas Beruhigendes verströmte.
Sie war ein Scheusal. Dabei, wie man so schön und treffend sagt, scheißfreundlich – und das innerhalb einer Gefühls-Skala, die von den Polen arrogante Anerkennung und oberflächliches Lob über gnädig verströmte Güte bis zu leutseliges Schein-Interesse reichte. Falsch zu allem Überfluss wie eine mittelalterliche Urkunde oder der Schwur eines Politikers; unglaubwürdig wie die Zusicherung eines Bankiers und auf alle Fälle, in Summe: eine überaus giftige Gesellschafts-Natter!
Der Gebrauch der gold-geränderten, bauchigen Kaffeeschalen, die noch aus einer böhmischen Porzellan-Manufaktur um 1860 stammten und zum insgesamt erstaunlichen, durch Generationen ererbten Interieur der alten Dame gehörten (auch wenn es letztlich bloß skurril anmutender alter Plunder sein mochte), der Gebrauch der Kaffeeschalen also musste zwar unweigerlich über kurz oder lang bei den Gästen der bizarren Soireen, die sie in ihrer (in der Tat einem Zauberschlösschen ähnelnden) Jugendstilvilla am Rand der Stadt veranstaltete, zur Froschmäuligkeit führen; doch war das Spitzmündige in G. ohnedies längst nicht mehr im Schwange. (Spitzmündig. Spitzfindig. Spitz – vom Geist her: Esprit-geladen oder sonst wie denk-affin? – Haha! Nicht hier! Nicht mit uns!)
Also kam man, so einen die Schwab-Wirblinghausen überhaupt einer Einladung für Wert befunden hatte, immer wieder zum Jour fixe der längst schon reichlich wackeligen Mittsiebzigerin; wenn aus keinem anderen Grund, als um sich in halbwegs gediegener Umgebung und auf einigermaßen gesichertem Niveau zu langweilen.
Nicht zuletzt freilich ging man zum besagten Jour fixe, weil meist auch die Hofrätin Sylvia Krongold anwesend sein und hier ihre weitestgehend inhomogene Klientel um sich scharen würde. (Immerhin waren die Krongold und die Schwab-Wirblinghausen im weitesten Sinn Busenfreundinnen. Außerdem hatte im Opern- wie im Schauspielhaus sowie im großen Konzertsaal des Musikvereins das alte Freifräulein meist Sylvia Korngolds Zweitsitz inne; die Schwab-Wirblinghausen war quasi der Hofrätin Sozia.) Hier bestand somit – auch für den in die kulturelle Angelegenheiten nicht unmittelbar Involvierten, für den Uneingeweihten gar – die Chance, sich so weit zu informieren, wie es selbst für Banausen von Vorteil sein konnte, von den Dingen einen Schimmer zu haben, die sich gerade im kreativen oder theatralen Bereich abspielten; darüber, was just an den diversen Kultstätten vor sich gegangen war (oder ging); oder aber darüber, warum es doch noch verhindert werden hatte können.
Denn mindestens so wichtig wie die Ereignisse, die (mehr oder weniger der Erwähnung wert) stattfanden, waren künstlerische Vorhaben, die von oben glücklich noch rechtzeitig vor ihrer Öffentlich-Werdung abgewürgt worden waren … Und im Abwürgen hielten die dafür zuständigen Stellen im Bereich des Landes und der Hauptstadt immerhin ihre Monopolstellung recht sicher in den gichtigen Händen ihrer dazu abgestellten Beamtenmeute.
Kurz: Wer sich mit dem angeblich intellektuellen und artifiziellen Geschehen in dieser in Sachen Geist und Verstand ziemlich gering dotierten und künstlerisch weitgehend inferior ausgestatteten Kommune abzugeben vorhatte, war nolens volens auf die Informationen aus dem Salon der Philomena Schwab-Wirblinghausen angewiesen.
So auch im Fall der gigantomanisch angelegten Oper des Manfred Aarmann, deren Arbeitstitel „Ewiger Ares“ gelautet hatte, die am Ende jedoch als „Krieg der Kerne“ auf die Bühne des Opernhauses gehievt werden würde; nachdem die doch eher gewagten Vorschläge, das überbordende Werk „Ares, der Pudel“ beziehungsweise „Volle Hose, Trauer im Blick“ zu nennen, endgültig ausgeschieden worden waren. (Zugegeben, auch „Krieg der Kerne“ war nicht unbedingt einer Sternstunde der Titelerfindung entsprossen; aber immerhin …)
Da stand oder saß man denn im Salon (und in den durchaus schmucken Nebenräumen desselben), im Dunstkreis also der greisen Philomena Schwab-Wirblinghausen, ihrer Haarfarbe und ihres Parfums, halbwegs gelangweilt, doch zumindest um rudimentäre Noblesse bemüht, herum, die über kurz oder lang eine bleibende Froschmäuligkeit begünstigenden gold-geränderten, bauchigen Kaffeeschalen in den Händen (oder eben hohe Sekt-Flöten, niedrige Whisky-Gläser oder flotte Cognac-Schwenker) sowie, sukzessive und der Schwerkraft Tribut zollend, Salzgebäck und diverse pikante Cracker in die Richtung der den Parkettboden bedeckenden dicken, alten Perserteppiche zerbröselnd.
Manfred Aarmann und sein hirnschwacher Librettist Ignatz Balduin Lepuschitz sonnten sich im allgemeinen Interesse und schienen äußerst bemüht, nur ja recht missgelaunt zu wirken. Auch die ob der bevorstehenden Premiere des Aarmann-Opus schon ziemlich nervöse Opernleitung, Intendant Prof. Gérard-Auguste Pfurtz und seine schmierige Entourage, scharwenzelte um die Gastgeberin (und um die Hofrätin Krongold!). Ach ja, der schnöselige Bürgermeister verband seinen so spontan wirkenden Besuch schließlich mit der hochoffiziellen Überreichung eines ansehnlichen Ordens an die Gastgeberin, die darob gerührt zu sein vorgab und entsprechend dezent in ein Spitzen-besetztes Tüchlein schniefte.
Ein paar sozusagen handverlesene Presse-Fritzen und ein ORF-Fernsehteam staksten dazwischen umher, und die wenigen anwesenden Sponsoren versuchten möglichst unauffällig aufzufallen. Ein paar längst schon angeschimmelte Adabeis (hauptsächlich aus der dritten und vierten Reihe) und noch einige andere soziokulturelle Entbehrlichkeiten vervollständigten das reichlich abgeschmackte Bild, das für sich genommen ohnedies bloß einen Abklatsch der an sich so uninteressanten wie uninteressierten Gesellschaft darstellte.
Ja, in gewisser Weise entsprach das alles hier einer gleichsam Leute-gewordenen Lautmalerei Aarmanns! Es paraphrasierte somit sein Œuvre, insbesondere seine grottenschlechten Opern, als das zwar der Wirklichkeit entsprechende, nichts desto weniger jedoch aufreizend scheußlich überzeichnete Abbild der bizarren gesellschaftlichen Realität. Einer Wirklichkeit, die, für sich genommen, schon abgrundhässlich genug gewesen wäre; und, in Wahrheit, des sie hier umrahmenden menschlichen Beiwerks erst gar nicht bedurft hätte.
Also doch – Endzeit. Und keine Wende.
Oder hätte sich schon das, was da so alles Mögliche vorher gewesen war, die Bezeichnung Wende verdient gehabt? War, anders ausgedrückt, im Anfang, Bibel-konform, nicht etwa – wie der gute alte Goethe angenommen (und es wieder verworfen) hatte – das Wort gewesen? (Einmal ganz abgesehen von Sinn, Kraft oder gar Tat …?!) Oder – doch nicht?!
Ach was! Endzeit-Blabla!
Ja, und Applaus …
Dann
freilich kündigte sich das Datum, da „Krieg der Kerne“ seine Uraufführung im städtischen Opernhaus erleben würde, auch abseits des lästigen, doch weitgehend ungefährlichen Schwab-Wirblinghausenschen Pflichttermins Unheil-dräuend auf dem Kalender an. Die Uhr war also weiter gerückt, quasi unaufhaltsam und in fast schon beschämender Folgerichtigkeit. Ja, das Unglück nahm seinen Lauf, und der – in Wahrheit zumindest von den paar tatsächlich Eingeweihten erwartete – Eklat sollte nun auch nicht ausbleiben.
Wir können uns im Folgenden an einem groß aufgemachten Artikel im Kultur- wie auch im Lokalteil einer der Tageszeitungen, die es in G. (noch) gab, orientieren. Soweit es uns als notwendig erscheinen wird (oder wo die – wie meist oberflächlich recherchierende und parteiisch kommentierende – Journaille wieder einmal Unsinn zu verbreiten sich anschickt), wollen wir freilich korrigierend und erläuternd eingreifen.
Unter dem reißerischen Titel „Weitgehend kernloser fauler Zauber“ brachte der Feuilleton-Teil des „Stadtspiegel“ eine, wie zu erwarten gewesen war, bloß mittelprächtige Rezension des Aarmannschen Werks, die jedoch insofern, als das zweifelhafte Opus in der Tat ziemlich schwach war, gar nicht so weit daneben lag. Doch die eigentliche Sensation, wenn man so will, fand im Chronik-Teil des inferioren Schmierblatts ihre saftige Abbildung:
„Die Uraufführung von Manfred Aarmanns Oper ,Krieg der Kerne‘ am hiesigen Opernhaus geriet zum Debakel – und darüber hinaus zum Kriminalfall!“, stand da zu lesen. Und: „Nach einer halben Stunde schon vom Großteil des Publikums ausgebuht, das mittels gezielten Einsatzes von faulem Obst, ebensolchen Eiern, welkem Salat et cetera seinem Unmut lautstark und handfest Ausdruck verlieh, drohte die Aufführung im Chaos zu versinken. Doch dann erschien der allem Anschein nach geistig völlig verwirrte Komponist auf der Bühne, animierte das Orchester, den Dirigenten, Chor, Statisterie und Sängerschaft unter wildem Gefuchtel und mit durchaus bedrohlichen Gesten, doch um alles in der Welt weiterzumachen. Als man sich ganz allgemein diesem Wunsch widersetzte, kam es zum Eklat -“
Hier wollen wir die weitgehend staubtrockene Zeitungs-Schreibe kurz unterbrechen. Zwar mochte der zuständige Redakteur, was den erwähnten Einsatz „von faulem Obst …“ betrifft, durchaus recht gehabt haben (vermutlich verfasste er auch die Marktberichte), doch war der „Eklat“ zu diesem Zeitpunkt längst schon im Gang! Denn, was die Zeitung – aus welchen Gründen auch immer – hier noch verschwieg: Da hatte Armann schon die alte Hofrätin Sylvia Krongold gekidnappt und in einem Nebenraum der Künstlergarderoben an einen Sessel gefesselt, geknebelt und anschließend sicherheitshalber betäubt. (Sie sei sein Faustpfand, soll er zum Librettisten Lepuschitz gesagt haben; doch das ist nicht belegt.)
Während also im Theater längst der Wirbel los war und Intendant Prof. Gérard-Auguste Pfurtz schon mit dem Gedanken spielte, den Eisernen Vorhang herunterlassen zu lassen (was er, allein schon wegen des wenig eleganten Ausdrucks herunterlassen zu lassen jedoch wieder verwarf), proklamierte Aarmann, knapp vor der geistigen Auflösung stehend, wie es schien: im Delirium, seine ziemlich übertriebenen, seine geradezu bizarren Forderungen.
Wir folgen wieder dem Obst- und Eier-affinen Schreiberling des „Stadtspiegel“:
„,Ich will, dass diese großartige Aufführung ordnungsgemäß und wie von mir konzipiert zu Ende geht! Außerdem fordere ich 50 Millionen Euro zusätzlich zu meinem Honorar, überdies Straffreiheit und ein schwarzes Auto der Marke Mercedes mit Chauffeur sowie vollem Tank und freie Fahrt zum Flughafen, wo eine Maschine der Emirates Airline für mich bereitzustehen hat! Und, dass ich es nicht vergesse: Ich erwarte mir politisches Asyl auf den Bahamas! Ja, und – gute Rezensionen!’“
Was würde im Fall einer Weigerung passieren (und die war ziemlich wahrscheinlich)? – „Sonst töte ich meine Geisel – die Frau Hofrat Sylvia Krongold!“
Nun, just diese Wendung glich dem berühmten Schuss ins eigene Knie.
Sicher, Geld hätte man zur Not noch auftreiben und locker machen können, ein dickes Auto, einen Flug in die Karibik (sogar mit den Emirates) – soll sein. Aber allein die Aussicht, dass Aarmann Ernst machte und der alten Krongold etwas antat, das hatte was! Nämlich mitsamt dem verrückten Scheiß-Komponisten Aarmann (der sich nach vollbrachter Tat vermutlich doch noch stellen oder, auch nicht schlecht, sich selbst liquidieren würde), quasi in einem Aufwaschen, gleich auch noch den alten Hausdrachen Sylvia Krongold loswerden zu können, das versprach in den Augen des Intendanten und seiner Berater weit weniger Schrecken als vielmehr eine echte Wohltat! Sollte der übergeschnappte Tonsetzer die alte Schreckschraube doch killen, dieser verdammte Idiot! Also, den Segen der Intendanz hatte er!
Dann freilich beging der verwirrte Komponist einen weiteren eklatanten Fehler: Als dem übergeschnappten Aarmann – nach erstaunlich kurzer Frist schon – von der Theaterleitung, unterstützt von einem (zugegeben) wenig effektiven Kriseninterventionsteam, durch den Intendanten höchstpersönlich also ein abschlägiger Bescheid seiner wahnwitzigen Forderungen erteilt wurde, schnappte sich der närrische Kompositeur im allgemeinen Tumult (und in bester Kenntnis der Gänge und Verästelungen innerhalb des alten Theaters) seine betagte Geisel und chauffierte sie in seinem klapprigen Personenkraftwagen – in die Gründerzeitvilla der Krongold, an den Stadtrand!
Nun, das konnte nicht gut gehen! Und: Welcher einigermaßen souveräne Kidnapper verfrachtete sein Opfer wohl in dessen eigenes Haus?! Welcher Entführer, auch bloß mit ein bisschen Grips ausgestattet, begäbe sich quasi freiwillig in die Höhle des Löwen (hier: der Löwin) und verzichtete solcherart auf die ganze prächtige Palette an Möglichkeiten, die feucht-dunkle Verstecke, halbverfallene Kanalgänge, stickige Katakomben, faulige Kasematten oder morsche ehemalige Fabrik-Gewölbe nun einmal bieten?
Übrigens: Dass Aarmann allein schon in der Wahl seiner Geisel, indem er sich die nicht eben beliebte senile Hofrätin Krongold schnappen zu müssen glaubte, arg daneben gegriffen hatte, kam ihm leider auch erst jetzt so recht zu Bewusstsein. Verdammt! Musste es tatsächlich diese widerliche alte Schabracke sein?!
So vollzog sich denn auch das Finale zügiger, als es sich zumindest Manfred Aarmann gedacht hatte. (Zugegeben, auch rascher als in irgendeiner seiner meist überlangen und daher eher faden Opern.)
Also: Die schlaue Füchsin, die sich noch nie in ihrem langen Leben so leicht hat von irgendetwas einschüchtern lassen, scheint zu kooperieren und ist sogar in Maßen freundlich. Ja, sie animiert ihren Entführer sogar recht charmant zu einem Gläschen Likör.
Gut, der ist vergiftet.
Draußen schon Blaulicht, Polizeisirenen, unverständliches Zeug aus dem Megaphon.
Aarmann erkennt die Aussichtslosigkeit seiner Situation. Und er freut sich irgendwie sogar, übergeschnappt, wie er ist. Ja, er trinkt jetzt mit Lust vom Likör. Tödlich süßes Zeug …
Und weil es so schön passt, tritt doch noch einmal das schwule Pärchen Henry Breineder und Curt I. Sandburger auf. Oder besser: Sie stehen schon da.
Breineder dient der alten Hofrätin nämlich seit einiger Zeit als recht hübsche Kommode, oben platziert, wo die beiden großzügigen Treppenaufgänge des ausladenden Stiegenhauses der piekfeinen Gründerzeitvilla zusammentreffen. Curt I. Sandburger ist sein treuer Schatten.
Nach zwei, drei Gläschen Likör wird es Aarmann irgendwie anders.
Vermutlich hört er, sich schwankend vom Sessel erhebend, im Hinsinken den mit einem Mal schweren Kopf an besagter Kommode schlagend, während er die Treppe hinabstürzt, Musik. (Hoffentlich keine eigene.)
Und wir getrauen uns zu wetten, dass ihm Sandburger, der treue Schatten, zuletzt noch ein Haxl gestellt hat – wie einer von Klaus Störtebekers Freibeuter-Gesellen, denen ihr kopflos an Deck herum marschierender Ex-Chef allmählich auf die Nerven geht.
E N D E