
Die Frauen um
Solochows
legendären
Springer
Eine kleine (schach-)verspielte Geschichte von
Bernd Schmidt
© by Bernd Schmidt, Graz 2008/2014.
(ENDFASSUNG 2015)
Hab’ ich ein Weib ermordet, Genueser? –
Ich beschwöre euch, schielt nicht so
kreidebleich auf dieses Spiel der Natur –
Gott sey gelobt!
Friedrich Schiller, Fiesko
*
Die Gangart des Springers ist ein Sprung,
der etwa so beschrieben werden kann:
er setzt über jedes in gerader Richtung
seinen Platz berührende Feld hinweg
auf jedes schräg anstoßende, das nicht
neben ihm selbst sich befindet.
Jean Defresne, Kleines Lehrbuch
des Schachspiels
*
Kleiner Prolog.
Zugegeben, es waren nur wenige unter ihnen. Aber die, die hatten es in sich. Formidabel.
Die anderen wären – bei etwas wohlwollender Beurteilung – immerhin noch durchgegangen als nett; niedlich; anpassungsfähig; entgegenkommend; leutselig; mütterlich, vielleicht (wohl sogar: zu –); nuanciert, zuweilen; begabt; drollig; schnuckelig; damenhaft; fast schon etwas Besonderes, allemal …
Aber die, um die es sich hier im Besonderen dreht, hatten es in der Tat in sich. Faustdick hinter den hübschen Ohren hatten sie es. Rothaarig, blond oder schwarz, brünett, mischfarbig, gefärbt oder à la nature – allein schon ihre Haarfarben wären spielend dazu in der Lage gewesen, Bände zu sprechen; wenn man sie nur gelassen oder gar aufgefordert hätte dazu. Und dann: die Beschaffenheit der Haare, also ob gekräuselt oder glatt, widerspenstig oder gefügig, gelockt und aufgedreht oder Schnittlauch-gleich.
Und erst die Körper dieser Mädchen und Frauen – – – genug.
Teufelinnen waren es zudem. Trotz ihrer hübsch geschminkten und in aller Regel unschuldsvollen Mienen. Oder wegen der hübsch geschminkten und in aller Regel unschuldsvollen Mienen.
Schöne Teufelinnen. Allesamt. Teufelinnen, ja.
Sie schoben sich aus dem grau-schwarzen Nichts ins männliche Blickfeld. Energiegeladen und weitestgehend unaufhaltsam.
Sie markierten zielstrebig ihr Terrain, Königinnen auf dem Schachbrett gleich, wo man sie korrekterweise Damen nannte. Und das, ihr Auftreten und Erscheinen, quasi ehe der Mann es sich überhaupt versah. (Der Mann versah es sich eben stets zu spät, und das Unglück, das von den Königinnen und Damen auszugehen pflegte, hatte längst seinen Lauf genommen. Unaufhaltsam, wie ein nun einmal eingeworfener Brief. …)
Sie umfingen plötzlich und mit einem Mal alles, diese Königinnen-Damen, ohne es dabei real zu umgarnen; das war gar nicht nötig! Sie setzten außer Gefecht; machten erst rat-, dann kopflos; stoben wirbelwindig durchs Feld – besser (bleiben wir beim Schach): über alle 64 Felder; schwarz-weiß, schwarz- weiß, schwarz-weiß …, das sie sogleich (und mir nichts dir nichts) eingenommen hatten; entzündeten alles; nein, nicht nur Sofas, Zigaretten, Dachstühle oder Kirchtürme im letzten Licht untergehender Sonnen … Sie töteten; ließen absterben; entmannten; kastrierten; eunuchisierten, sozusagen; machten endlich reinen Tisch. (Wenn Sie so wollen und weil es schöner klingt: tabula rasa …)
Am schrecklichsten aber war (jetzt haben wir das Schlachtfeld Schachbrett wieder verlassen), wenn sie den Abgelegten über ihre Neuen erzählten. Damit die Kruste oder der Schorf, mühsam genug eben erst über der Wunde zugewachsen, nur ja wieder aufbreche unter Schmerz.
Man trennt sich im Allgemeinen ja nicht so wahnsinnig gern. Aber da musst du dir dann anhören, was für ein feiner Kerl dein Nachfolger sei; wie fürsorglich und höflich und aufmerksam. (Während du bekanntlich ein tölpeliges Scheusal warst, ein Elefant im Porzellanladen, mindestens, nur: ohne Porzellan.)
„Und zärtlich ist der. Du weißt schon, was du partout nicht sein wolltest – lass nur, ist ja gut. Hast schließlich auch deine Meriten gehabt, klar doch. Aber weißt du, mit dem – – – kann ich jetzt alt werden; ja, in Liebe altern. Und im Bett ist er natürlich auch besser, als du es jemals gewesen bist, glaub’ mir …! Und nichts für ungut.“
Das sind die Momente, in denen du erwägst, sie im Gegenzug (der kein Schachzug ist!) darüber aufzuklären, dass du mit der – – – oder der – – – auch mehr sexuellen Spaß gehabt hast als mit ihr. Verdammt! Und vor allem: Dass da Vieles wesentlich einfacher gewesen sei …
Aber du verbeißt es dir, bleibst höflich. Wünscht ihr alles Gute mit dem Neuen, der vermutlich ohnedies netter zu sein scheint, als sie es jemals verdiene …
Du grollst ein wenig nach wie ein stinkender Kohlenmeiler. Bist dann jedoch auch Deinerseits irgendwie erleichtert über die windige Entwicklung. Wenn es schon nicht hat sollen sein, dann ist es doch allemal besser so?! Und außerdem: Wir können einander weiterhin in die Augen schauen; müssen freilich nicht (warum denn auch?!) …
À propos windig.
Nun weiß man spätestens aus der gehobeneren Opernliteratur, dass die Weiberherzen trügerisch seien (o wie so …), windig und wandelbar. In Giuseppe Verdis „Rigoletto“ (Libretto von Francesco Maria Piave) heißt es in III, 2: La donna è mobile / Qua piuma al vento … Das geflügelte Wort findet sich auch bei Victor Hugos Lied „Le roi s’amuse“: Souvent femme varie, /Bien fol qui s’y fie! / Une femme souvent / N’est qu’une plume au vent … Und angeblich geht der Seufzer über die Frauen-Windigkeit auf den Franzosenkönig Heinrich IV. zurück, wenn nicht sogar auf einen seiner Vorgänger, Franz I. (Siehe: Büchmann, „Geflügelte Worte. Der klassische Zitatenschatz“. 40. Aufl. Frankfurt am Main/Berlin 1995.)
Und doch, du denkst mitunter: Ja, ist denn dieses Leben tatsächlich für nichts anderes da, als abzulegen und abgelegt zu werden? Oder, um es in der Sprache des Schachspiels zu sagen: zu schlagen und geschlagen zu werden?!
Es scheint so zu sein.
*
„Doch jetzt, jetzt solltest du gehen“, sage ich zu mir.
„Ja, du hast recht“, erwidere ich mir. „Ciao!“
Solochows legendärer Springer
„Und das war wirklich ein russischer Fürst, dieser -?“
„ – Solochow!“ Kronwohl muss lachen. „Ja – und nein …, Igor Wassilij Solochow war kein Fürst; nur ein Baron …, irgendwo aus der Gegend dort im Umland von St. Petersburg. Aber Russe war er. Und reich war er auch, immens reich … Bis dann die Bolschewiki gekommen sind, bis dann alles aus war mit Mann und Maus, mit Zar und Zimmermann, Zarewitsch und so …, bis die Revolution eben alles angeblich gleichgemacht hat …“ (Worauf sich dann, darin lag vermutlich der einzige nennenswerte Unterschied, eben neue Gleiche und neue Ungleiche etablierten anstelle der alten. Die armen Teufel wurden freilich in ihrem Status bestätigt; so wie auch die Ressourcen weiterhin ausgebeutet wurden, als ob es kein Morgen gäbe, und die Wirtschaft extraktiv an den Rand ihrer Möglichkeiten geführt …)
Kronwohl seufzte, als ob es ihn persönlich beträfe, dass sich der flotte Ur-Onkel (oder Ur-Ur-Irgendwas …), vor die Wahl gestellt: Tod, Sibirien oder Auswandern, seiner alt-deutschen oder alt-österreichischen Verwandten erinnerte und so, weitgehend mittellos zwar, aber immerhin lebend, aus der neugegründeten Sowjetunion weg begab und an die Donau emigrierte. Der Große Krieg, den man später dann den Ersten Weltkrieg nennen würde, war kurz danach zu Ende, und mit Österreich-Ungarn war es das auch bald schon; aber leben konnte er, der Ur-Onkel! Weiter-leben! Zumindest irgendwie …
„Und diese Schachfigur aus Onyx, die hat tatsächlich diesem Onkel Igor gehört?“, wollte Désirée wissen, neugierig wie sie nun einmal (und nicht nur in Adelsangelegenheiten) war.
Er nickte. „Ja, Igor soll ein unheimlich guter Schachspieler gewesen sein. Angeblich hat er bei einem sehr wichtigen Turnier in Berlin, anno 1891, den amerikanischen Großmeister George Henry Mackenzie besiegt. Und der hat ihm, als Geste der Höflichkeit und der Anerkennung, ein altes wertvolles Schachspiel geschenkt. (Ich kenne mich da nicht so aus – aber vielleicht war das so Sitte unter Schach-Korypheen, damals?! Heute schenken die großen Fussballer einander ja auch ihre verschwitzte Dressen …) Und dieses besagte wertvolle Spiel mit den Onyx- beziehungsweise Elfenbein-Figuren (und einem Brett aus Ebenholz und Erle, eingelegt, glaube ich) stammte ursprünglich von einem gewissen Hunglow oder Tunglow, wiederum einem Russen wie mein Ur-, das dieser seinerseits jedoch dem Amerikaner Mackenzie geschenkt hatte – nach einem Turniersieg irgendwann in den 1870er oder 1880er Jahren …“
„Aber – es ist doch nur ein Springer …“, sagte Desirée leise, während sie die Figur in ihrer kleinen Hand drehte, „bloß ein Ross …“
„Er hat doch flüchten müssen, später, nach dem Weltkrieg …“, gab Kurt Kronwohl, leicht gekränkt, zu bedenken. „Er hat ja alles verloren, damals, der Onkel Igor …“
Kalt wehte es plötzlich her. Kalt wie Schneewind, russischer Schneewind …, durch den schmalen Spalt, den das Doppelfenster just geöffnet gewesen ist.
Kronwohl erhob sich und schloss es.
Nun fröstelte es ihn sogar ein wenig.
„Wie in Sibirien“, sagte Désirée Irrwinckel. Es schien sie mit einem Mal ebenfalls zu frösteln.
„Stell‘ dir vor, du müsstest jetzt auch noch ausreiten …, auf einem schwarzen Ross! Durch Tundra und Taiga, über Stock und Stein -“
„Wie der Doktor Schiwago mit seiner Lara …?!“ fragte ziemlich ängstlich Désirée, sich auf der Couch zusammenkauernd wie ein kleines Kind, dem es kalt ist. Oder eine kleine Katze, vielleicht auch ein junger Hund. Nur kein unterkühlter Vamp, verständlicherweise.
„Ja, ja …, wie der arme Doktor Schiwago – – -“ Kurt lässt den Gedanken (und sein Geschwafel) quasi ausfließen. Und die Reminiszenz zurrt sich irgendwo, musikalisch, an Laras‘ Theme fest, und der cineastische Kitsch wird auf diese Weise penetrant wiederbelebt. Ja, dieser US-amerikanische Abenteuer- und Liebesfilm rund um den dichtenden Arzt Jurij Schiwago und seine zwei angebeteten Frauen … David Lean hatte den Roman Boris Leonidowitsch Pasternaks (Buch: Robert Bolt) im Jahr 1964 stil- und gefühlvoll verfilmt; mit Omar Sharif in der Titelrolle, mit Julie Christie und Geraldine Chaplin als konkurrierenden Frauen, mit Alec Guinness, Rod Steiger, Klaus Kinski und anderen. Die Musik komponierte Maurice Jarre. Die Russische Revolution als ach so tauglicher Hintergrund, und der Jarresche Ohrwurm als unentrinnbare Falle! (Gedächtnis, was tust du uns doch an!)
„Eigentlich ist das ein schönes Pferdchen“, flüstert Désirée mit einem Mal, wieder gutgelaunt, die Onyx-Figur erneut zwischen den Fingern drehend. „Schade, dass es so klein ist …“
„Immerhin, seine vier Zentimeter misst es auch“, sagt Kurt eifrig. Er ist froh, seiner – bis auf geistige Dinge – immerhin recht anspruchsvollen Freundin jetzt ja doch noch eine Freude bereitet zu haben; dank Ur-Großonkel (oder so) Igor, dem wackeren Schachspieler.
Er kuschelt sich zu Désirée, und das ist sozusagen erst der erste Rösselsprung des Abends.
*
„Bist du noch da oder -“, frage ich mich.
„Ja. Aber jetzt mach‘ ich mich auf die Socken! Mach’s gut, alter Freund!“, sage ich ins Dunkel hinein. „Und halte die Ohren steif!“
Im Reich der bedeutungsvollen Figuren
Am Schach müsse quasi alles – bedeutungsvoll sein. So dachte Kurt Kronwohl mitunter; wenn er an Schach überhaupt dachte; was freilich eher selten der Fall war; warum sollte er auch an das Schachspiel denken, war er doch kein Schachspieler. (Sein Vater hatte recht gut gespielt und war in einem Verein gewesen. Aber er -)
Er hatte einige, auf ihre meist besserwisserische Weise irgendwie an verkappte Binsenweisheiten erinnernde Anekdoten über das königliche Spiel vernommen, gehört oder gelesen im Laufe der Zeit. Und er kannte auch einige der besseren literarischen Ergüsse, wie sie über das legendäre Brettspiel so im Umlauf sind. (Und er hatte selbstverständlich die Spielregeln einigermaßen intus; auch wenn er so gut wie keine besonders raffinierten Eröffnungen oder später folgende klassische Spielzüge beherrschte.)
Auch Stefan Zweigs großartige „Schachnovelle“ rund um den als politischer Gefangener von den Nazis geschundenen stillen, in sich gekehrten Dr. B. und den ungeschlachten jungen Schachweltmeister Mirko Czentovic und ihre höchst erstaunliche Partie auf dem Passagierdampfer, der von New York und Buenos Aires unterwegs ist, war ihm geläufig – wie auch die Verfilmung mit Curd Jürgens in der Hauptrolle.
Kronwohl hatte sehr wohl verinnerlicht, dass, zum Beispiel, ein Spiel über 32 schwarze beziehungsweise weiße Felder verfügte, insgesamt also über 64; oder wie die Figuren hießen, wie viele es gab und was sie im einzelnen zu tun fähig waren. Mehr an Information gab es da allerdings nicht. (Übrigens auch seine Herzens-Dame, die hübsche Désirée Irrwinckel, war keine Schachspielerin. Wenn die beiden überhaupt einmal zwischendurch von einander ließen und sich zu irgendeinem Spiel entschlossen, dann handelte es sich meist um Würfelpoker oder um Schnapsen.)
Ihn, obwohl er kein Mathematiker war, hatte allerdings die Geschichte mit den Reiskörnern aufhorchen lassen, die sich angeblich der weise aber namenlose Erfinder des Schach von jenem Shah Sher Khan, seinem mittelalterlichen indischen Herrscher und Auftraggeber des später als königlich bezeichneten Spiels, als Honorar ausbedungen hatte: ein Reiskorn sollte auf das erste Feld, zwei aufs zweite, vier aufs dritte, acht aufs vierte … und so weiter gelegt werden. Erst verärgerte den strengen Shah das vermeintlich über-bescheidene Begehren des Spieleentwicklers, doch als die Diener nach kurzer Zeit devot herbeigekrochen kamen, um ihrem Herrn und Meister mitzuteilen, so viel Reise gäbe es im ganzen Land nicht, wie die Summe ausmache, dämmerte diesem das wahre Ausmaß der Forderung.
Laut clever-Basmatireisbeutel von BILLA ergäbe das, was der Herrscher zu berappen hätte, nämlich eine Summe von 18.446 Billionen Reiskörnern … Im Internet war er übrigens auf eine Seite gestoßen, die als Erfinder des Spieles einen gewissen Sissa auswies. Hier ging es um Weizenkörner, und zwar um18 Trillionen solche. Egal, die Sache mit den Exponentialfunktionen, auf die das alles hinauslief, kam ihm ohnedies spanisch vor. Klar war, dass es hier um eine weitestgehend unendliche Menge ging; egal ob Reis- oder Weizenkörner.
Doch dass der König zwar majestätisch, doch ansonsten ziemlich statisch vor sich hin zu stehen hatte (sah man vom – vermutlich bloß geringen – Lustgewinn durch die mickrige Ortsveränderung bei einer Rochade einmal ab), dass der Läufer eben diagonal lief, der Turm mehr oder weniger schwerfällig waagrecht oder senkrecht dahinzog, die vergleichsweise taffe Dame alle drei Bewegungen ausführen konnte, der Springer den sogenannten Rösselsprung beherrschte und die Bauern andere Bauern und Figuren schlugen und von ihnen geschlagen wurden, das alles verstand er zwar; doch vermochte es ihn nicht besonders zu faszinieren. Von Fesseln keine Spur. Und die Möglichkeit des Bauern, auch en passant zu schlagen, überstieg ohnehin bei weitem seine (und des Autors) Vorstellungskraft!
Ach ja, da gab es doch etwas, das fand er reizvoll: Die Sache mit dem Verwandeln hatte fraglos ihren Charme! Also, dass ein Bauer, nach Durchwandern des ganzen Brettes zu einer anderen Figur – Dame, Läufer et cetera – würde, das war immerhin interessant … (Und dass die Spieler sich im Allgemeinen für die mehrfach wendige Dame entschieden, das schien ihm wieder einmal typisch zu sein.)
Aber, wie gesagt, Kurt Kronwohl war kein Schachspieler. Und wenn er auch darüber staunte, dass es beim Schach angeblich 2,28 x 10 hoch 46 Stellungen geben solle und allein für die ersten 40 Züge circa 10 hoch 115 bis 10 hoch 120 verschiedene Spielverläufe möglich seien, beeindruckte ihn. Doch. Ja.
Und dass er die oben erwähnte schöne alte Rösselfigur des russischen Ur-Ur-Wasauchimmer zufällig auf dem Dachboden gefunden und sich der damit verbundenen Geschichte erinnert hatte? Nun, das schien in der Tat kurios zu sein!
Ja, so spielte eben manchmal das Leben … Ganz im Unterschied zum Schach, das sich ja als weitgehend berechenbar geriert; obwohl es doch wohl auch ein bisschen Freiraum für Intuition lässt, oder?!
*
„Du wirst mir abgehen, alter Junge“, sagte ich zu mir, en passant.
„Du mir auch“, antwortete ich mir, „du mir auch …“
Die Frauen um Solochows legendären Springer
Für Igor Wasilij Solochow, der an sich sein Lebtag lang bisher zumindest als ein recht kommodes russisches Haus gegolten hatte, war der legendäre Springer, der ihm als einziges Relikt aus dem ganzen schönen und wertvollen Spiel geblieben war, das ihm sein Schachgegner George Henry Mackanzie da so freundlich überantwortet hatte (anno 1891 in Berlin bei der bestens dotierten und hochkarätig besetzten Meisterschaft), mehr als bloß ein liebes Andenken. Für Onkel Igor stellte die Figur gleichsam den ganzen ideellen, ja: mythischen Wert und so etwas wie die historische Größe Russlands dar, symbolisiert in diesem – zugegeben, in seinem Spielradius nicht eben berauschenden – Onyx-Ross! Wie auch das Schachspiel in der selbst gewählten Emigration fraglos ein Anker für den Onkel war, ein Heimat-Ersatz, der den inzwischen ziemlich greisen,doch immer noch stolzen Mann irgendwie noch am ehesten an diesem Dasein hielt. (Was sonst bloß noch in Mengen fließendem Wodka, gemischt meist mit Champagner, sowie den paar jungen hübschen Mädchen gelang, die sich der lustige Alte mitunter, gemieteter Weise, auf sein Schlösschen in der südsteirischen Weingegend kommen ließ. Auch weitgehend heimatlose, entwurzelte, seelenkranke und melancholische russische Adelige, die dem Schachspiel frönen, wollen mitunter ein wenig frisches Fleisch spüren, nicht wahr?!)
Doch das legendäre Rössel. Ohne Zweifel schien von der Figur ein Zauber auszugehen, dem man sich kaum zu entziehen vermochte. Es war ein Fluidum. Ganz so wie ein altes, schweres Parfüm: geheimnisumwittert, kräftig und fragil in einem; olfaktorisch gleich überzeugend wie unklar, verheißungsvoll und rätselhaft; fremd und intim bekannt …
Nicht nur, dass er, schön gearbeitet, wie er einmal war, das Auge erfreute und man ihn gern in die Hand nahm, verströmte dieser Springer fast schon so etwas wie eine aphrodisierende Wirkung. Viagra, lange noch bevor das angebliche blaue Wundermittel (für zu erlebende blaue Wunder!) überhaupt erfunden worden war, Viagra war da nichts dagegen!
Das kleine schwarze Pferd aus Onyx evozierte Höllenglut und Himmelsgenuss in einem, glich einem alles vernichtenden Feuer und wirkte wie eine unaufhaltsame Überschwemmung, imitierte die tollsten Erregungen und intensivsten nervlichen Sensationen, sbrachte die Sensoren in die Turbogänge und erhöhte sämtliche organischen wie anorganischen Frequenzen ins schier Unermessliche. Es degradierte jede bisher erfahrene Ekstase zum schalen Minimalreiz, schwang sich zu immer neuen Höhen des Erwartungsgenusses auf und versprach wahre Explosionen ungeahnter inner- wie außerbürtiger Kräfte …
Kurz: Der Springer war ein Teufelsding.
In besseren Zeiten und unter anderen (zugegeben: feudaleren) Gegebenheiten wären die Mädels Schlange gestanden, als hätte ein mittelalterlicher Grundherr den – was weiß ich – alljährlichen Vollzug des Ius primae noctis in seinem Herrschaftsgebiet avisieren lassen. Worauf hin das Dorf regelmäßig aus dem Häuschen geriet; und das traditionell, bereits seit Jahrhunderten. Mit heißen Schenkeln und wirrer Gefühle voll, so hätten sich die Schönen des Dorfes und der Umgebung, alle dampfend von diffusen Ahnungen, schier schwanger allein schon von der Vorfreude und vor elementarer Lust beinahe exkrementierend, dem unvermeidbar näherrückenden Schicksal in sich selbst verleugnender Unterwürfigkeit hingegeben: geil und ungeduldig des Unvermeidbaren harrend, das da doch, bitte, möglichst schnell kommen möge!
Ja, und Igor, der, altersbedingt, durch den Alkohol gebremst und überhaupt seinem schwermütigen Naturell verpflichtet, das alles denn doch schon ein wenig ruhiger angehen ließ, genoss das Spiel mit den Hürchen, den vorwiegend jungen, aber auch den schon ein wenig reifer und körperlich breiter gewordenen Nutten; doch ja, immer noch. Er sah das längst nicht mehr so eng, ging es ihm doch weitestgehend um das Wiedererwecken alter Reminiszenzen.
Und auch manche fesche junge Winzerin, manche dralle Bauernmagd oder aparte Junglehrerin, aber auch die dicke Gattin des aufgeblasenen Bürgermeisters (um nur einige Typen zu nennen), sie alle ließen es sich, wie es schien, nicht nehmen, wann immer der Herr Baron es wollte, zur Stelle zu sein. (Meist brauchte er sie freilich nur, wenn sein Lieblings-Puff in der Hauptstadt [Begleit–Services, die man einfach telefonisch kontaktieren konnte, gab es in der Gegend noch nicht] gerade Ruhetag hatte oder wenn sonst irgend ein Engpass an sexuell-technischem Material herrschte …)
Igor lagerte sich die Mädels vorzugsweise auf alten Teppichen und schweren, orientalisch gemusterten Stoffdecken um ein großes Schachbrett, das dem des alten Mackenzie nachempfunden, nur um einiges größer dimensioniert war, bevor er seinen Springer ins Spiel führte, der schon schnaubender Nüstern dessen harrte, was nun kommen würde.
Und dann starb Baron Igor. So wie er gelebt hatte. Mit viel Wodka und Schach und Frauen um sich, bis zuletzt.
Das schwarze Onyx-Ross gelangte dann in irgendwelche Nachlässe und über Irrwege zuletzt auf einen Dachboden, wo es zunächst wie vom Erdboden verschwunden zu sein schien. Bis es Kurt Kronwohl, zufällig und durch irgendwelche nicht näher bekannte Umstände bedingt dort nach etwas ganz anderem suchend, kurioserweise weise. Und es seiner Freundin Désirée schenkte. Obwohl sie bekanntlich beide nicht dem Schachspiel frönten.
*
„Jetzt muss ich aber“, sage ich zu mir.
„Ja, es wird Zeit für dich“, antworte ich mir.
„Also -“
Metamorphosen!
Ja, sie irritieren. Meist am Ende erst die Umgebung, zuvor schon die Betroffenen.
In unserem Fall: Désirée und Kurt. Sie wurde immer königinnenhafter, je mehr sich ihr Liebesspiel weiter spann; er mutierte in Richtung Bauerntölpel. Was ihr zu akzeptieren indes kaum Schwierigkeiten zu bereiten schien. Und es fiel erstaunlicherweise auch ihm nicht allzu schwer. (Vielleicht, wer weiß, lag eine gewisse Anlage zum Leibeigenen ohnedies tief in ihm drinnen? Außerdem: Welcher Mann, der einigermaßen sensibel ist, macht sich nicht zumindest zwischendurch zum Leibeigenen seiner Angebeteten? Zum Weibeigenen, sozusagen …)
Bei ihm war vermutlich zudem genetisch einiges an Unterwürfigkeit grundgelegt; und das von Vater Egon her, der zwar ein leidlich guter Schachspieler gewesen war, aber sonst zeitlebens so ziemlich unter dem Pantoffel seiner Ehefrau zu stehen gewohnt war.
Kurts Mutter Diotima war freilich auch weitaus lebenstüchtiger als ihr Mann, als Egon. Zielstrebig und resolut. Freilich, keine Schachspielerin. Das Rayon, über das sie gebot, hätte sich eine Einteilung in soundsoviele Felder – wir wissen, es sind 64 – von Haus aus verbeten! Noch dazu in Schwarz-Weiß … Nein, sie beherrschte die Kunst des Regierens ohne Grenzen und Einschränkungen; so schien zumindest ihre Freiheit immer und in jeder Situation gesichert zu sein. (Schien, denn was ist in Wahrheit tatsächlich gesichert?!)
Kurt. Ja, Unterwürfigkeit. Er hatte es mit der Unterwürfigkeit, auch wenn er sich für einen tollen Hecht hielt, der so ziemlich alles erreichen konnte, was er erreichen wollte. Irrtum: Die Dinge erreichten ihn, nicht er sie!
Allerdings, so müssen wir wohl oder übel annehmen, dürfte auch einiges an Lümmelhaftigkeit in Kurt angelegt gewesen sein, von Beginn an. Ja, lümmelhaft war er, doch; und bequem. Furchtbar bequem. Kurt gehörte zu den Leuten, die mitunter zu faul sind, sich zum Schlafen hinzulegen; zu denen, die im Stehen einschlafen (zumindest bildlich gesprochen).
Und er neigte in zunehmendem Maß zur Ferkelhaftigkeit. Hygiene war nicht das Seine.
Während Désirée sich wusch, deodorierte, sich parfümierte und sodann – mit geputzten Zähnen – vornehm parlierte (über Gott, die Welt und diverse andere Modetorheiten), vergaß er immer häufiger auf das Sich-Waschen und auf andere Tätigkeiten im Sinn normaler Körperpflege; bis er schließlich zum olfaktorischen Störfall wurde und sogar im weitgehend miesen Wirtshaus, das in der Nähe ihrer gemeinsamen Wohnung lag und ohnedies über keinen besonders guten Ruf verfügte, darob nicht mehr allzu gern gerochen ward. Außerdem befand er sich meist im Zustand der mittel-schweren Betrunkenheit, reagierte dann oft aggressiv und bezog in schöner Regelmäßigkeit dafür auch seine Prügel. Denn zu allem Überfluss legte er sich meist mit Stärkeren an, als er selber war. Oder mit mehreren zugleich …
Kurz: Kurt Kronwohl sandelte kontinuierlich ab.
Quer übers Spielfeld.
Das anzuschauen, war unangenehm. Und auch Desirée trug sich alsbald mit dem Gedanken –
*
„Du solltest jetzt wirklich gehen!“, mahne ich mich.
„Hast recht, es ist so weit“, erwidere ich mir.
„Also, dann …“
Der Bauer verwandelt sich
In eine Königin. Und so benimmt er/sie sich dann auch … Vornehm, ein wenig arrogant vielleicht sogar. Womöglich aufbrausend, gegebenenfalls wie eine lüstern-strenge Domina, eine aus der Ideenkammer des guten alten Marquis des Sade …
Sie, gleichsam als Archetyp, ist schnell beschrieben: Lächelnd, zuckrig und süß (einmal) … im Herzen kalt (meist), dabei berechnend (oft) und hinterhältig (fast immer) … Kurz: Sie scheint vornehm zu sein bis zur Todeskälte, gebrochen bloß durch wenige karitative Momente – angeblicher – Herablassung (oder gar: Volksnähe; lachhaft!) … So ist es also insgesamt ein sprödes Spiel hinterhältiger Intelligenz; nach außen freilich, fassadesk, sozusagen: konziliant, fast schon: entgegenkommend … An den Ecken schier ausfransend ins Legere …
Die Regeln des sogenannten königlichen Spiels, des Schach also, besagen, wie früher schon erwähnt, dass aus einem Bauern, so er brav das ganze Feld durchwandert hat, eine andere Figur wird; eine Königin, ein Turm, ein Läufer oder ein Springer. Diese Metamorphose geschieht von selbst, und die Wahl, was aus dem vormaligen Bauern nun werden solle, ist „dem Ermessen des Spielers überlassen“, heißt es in Jean Dufresnes „Kleinem Lehrbuch des Schachspiels“ (Leipzig 1892). Doch, warum sollte nicht auch mit einem Springer – und ohne gerade im Spiel (in einem x-beliebigen Spiel noch dazu) zu sein, denn das ist wichtig! – irgendwas Ähnliches passieren können? Eine Metamorphose?! Na, also.
(Es ist jedoch noch kein Fall bekannt geworden, in dem aus einer Bienenarbeiterin eine Bienenkönigin geworden wäre … Und die Drohnen? Ja, die Drohnen – – -)
Ach ja, Nikolai Gogols Tschitschikow („Die toten Seelen“) würde gar nicht wissen, was – und vor allem: wohin – damit, entstünden aus seinen bloß aktenkundigen, also ausschließlich bürokratischen Leibeigenen-Leichen auf einmal zu Tausenden Königinnen, Türme, Läufer oder Springer! Ein grässlicher Gedanke! (Zugegeben: Hier nur geäußert, um nochmals ein wenig russisches Flair hineinzubringen in diese komische Geschichte.)
Also, um die Sache hier auch gleich abzuschließen: Unser Springer, die schwarze gut vier Zentimeter hohe Pferdefigur aus Onyx, verwandelt sich in ein – o. k., weil’s schöner klingt: – feuriges Ross, in einen sogleich glutäugig, wiehernd und wild aufsteigenden Rappen, den kaum vier echte, russische Stallburschen (solche mit dunklen,melancholischen Augen, mit Stiefeln, Pluderhosen und Schnurrbärten) zu zähmen imstand wären. Doch Désirée Irrwinckel, die schafft das schon; Prinzessin, die sie ist! Und im Nu schwingt sie sich – ohne Sattel, klar doch! – auf das großartige Pferd! Und – unter Aufwirbeln allen Staubs, der sich da unter der Couch und überhaupt im schlecht gelüfteten Zimmer befindet, stieben die beiden davon.
Da sitzt er, Kurt Kronwohl, und schaut blöd.
*
„Ja, so geht es“, sage ich zu mir.
„Wie recht du wieder einmal hast“, spotte ich mir als Antwort retour.
„Ach – geh …“
E N D E
Quellen/Literatur (Auswahl):
Bibliographisches Institut, Weltbild Taschenlexikon in zehn Bänden. Mannheim 2006.
Georg Büchmann, Geflügelte Worte. Der klassische Zitatenschatz. 40. Aufl. (B: Winfried Hofmann.) Frankfurt am Main/Berlin 1995.
Hermann Breitenbach (Hg.), Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Stuttgart 1988.
BILLA, clever Basmati Reis (aus dem Himalaya-Gebiet [Packungsaufschrift]).Wr. Neudorf o. J. (Mindestens haltbar bis 03. 12. 2016.)
Jean Dufresne, Kleines Lehrbuch des Schachspiels. Leipzig o. J. (1892).
Karl von Haverland (Ü.), Marquis de Sade: Die hundertzwanzig Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung. München 1999.
Internet.
Friedrich Schillers sämmtliche Werke. 26 Bde. Wien 1816/17.
Mária Szepes/W. Charon, Academia occulta. Die geheimen Lehren des Abendlandes. Die Praxis. München 1994.
Stefan Zweig, Schachnovelle. In: Ausgewählte Werke. Eggolsheim o. J.