
Der Redner,
der unbedingt zum Schweigen gebracht werden musste
Ein Anti-Idyll
burlesken Charakters von
Bernd Schmidt
© by Bernd Schmidt, Graz 2015.
(Endfassung 2016.)
Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an!
Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen.
William Shakespeare, Julius Cäsar
*
Schon sehr kleine Wohltaten führen Menschen
zu der Auffassung, dass sie hinreichend Grund
für die Unterstützung einer Kandidatur haben …
Q. T. Cicero, Comentarium petitionis consulatus
*
Ja, doch: Mater semper certa est
Man hätte sich manches vorstellen mögen und imaginieren, obwohl eigentlich und im Allgemeinen just die St. Laurenzener nicht besonders begabt waren im Vorstellen und im Imaginieren. Ja, man muss es leider zugeben: Sie waren nicht gerade die Hellsten, hier, in St. Laurenzen, in der Oststeiermark. Obschon auch in den benachbarten Gemeinden – etwa in St. Pankrazen an der Salm, in Koglhof oder in Preislingen am Schaureck – nur mit Wasser gekocht wurde und von besonderen geistigen Begabungen kaum die Rede sein konnte. Man hätte sich, wie gesagt, manches vorstellen mögen und imaginieren, aber darauf wäre bestimmt auch sonst wo niemand so schnell verfallen. Nein. Dass nämlich ausgerechnet der Hias –
– doch seither ist immerhin einiges geschehen. Und –
– seither? –
Ja! Seit wann? Seit wann denn eigentlich?
Na, seit etwa fünf Jahren …, oder sind es schon zehn? –
Ja, es könnten wohl auch schon zehn Jahre sein!
Hm, als der Hias …, als der damals … –
Auf dem Dachboden vom Pfarrhaus, dort war es …, –
– genau …, wo er diese Bücher …, diese alten Bücher gefunden hat –
– über Rhetorik oder so –
Was?! Rhetorik? Hm. Und jetzt? –
Jetzt ist er – Spitzenkandidat, der Hias! Ja! Spitzenkandidat!!!
Also, wenn das nur gut geht …!
Der Matthias, der üblicherweise Hias genannt wurde und nun gewiss als kein weiß-Gott-was-für-ein großes Kirchenlicht bekannt war, soll plötzlich, noch dazu: jetzt in einem Alter, wo andere ihre Karriere längst gefestigt haben, vielleicht, besonders: wenn sie Beamte sind, schon an die Pension denken, also der Hias soll da, quasi aus heiterem Himmel, durch ein so besonders ausgeprägtes Redetalent alle anderen überragen?! Irgendwie fast so wie Maria, gebenedeit unter den Weibern – nur halt auf etwas andere Weise?!
Jetzt, sollte der auch schon gut und gern 45 Jahre zählende Hias sogar noch Politiker werden! Ja! Spitzenpolitiker gar!
Der Herr Pfarrer Pfundsberger schüttelte energisch den Kopf mit seinen weißen, immer noch ein wenig rötlich schimmernden Haupthaaren bei dem Gedanken, dass gerade der Hias –
Immerhin, das konnte man ruhigen Gewissens sagen, der alte Anton Pfundsberger, der seit beinah schon fünfundvierzig Jahren die Pfarre in St. Laurenzen leitete (längst stand ja die selige Pensionierung bevor, wenn Gott es nur zulassen wollte) …, also, der Herr Geistliche Rat Pfundsberger kannte den Hias sehr gut. („Wie meine Hosentaschen …“, pflegte der Priester, darauf angesprochen, nicht ohne Stolz zu sagen.)
Und der Pfarrer war, was den Hias betraf, eigentlich stets für Mäßigung eingetreten. Wenn nämlich so mancher im 800-Seelen-Dorf wieder einmal bittere Beschwerde führte wegen diverser Unzulänglichkeiten, die sich der – nun auch, wie schon angedeutet, einigermaßen angegraute – Mesner, Totengräber und Mann fürs Grobe im Ort wieder einmal zuschulden kommen hatte lassen. (Ja, nämlich gleich für so viele Aufgaben in der Pfarre, in Kirche und Friedhof war Matthias Hummelstreu, wie Hias eigentlich und offiziell hieß, zuständig.)
Im Allgemeinen absolvierte er sein Pensum auch durchaus zufriedenstellend.
Nun …, mitunter, da –
Genau! Im Allgemeinen; aber …, und –
– nur wenn ihm der Mond –
– und dessen Phasen dazwischen gekommen sind, was –
– dann wiederum seine Lust –
– am unmäßigen Alkoholgenuss angestachelt hat, ja, dann –
– hat es schwierig werden können mit dem Hias.
Doch war er wiederum nicht der einzige in St. Laurenzen, der mit dem Teufel Alkohol im Clinch lag. Sogar der Pfarrer und der Bürgermeister missachteten hin und wieder alle diesbezüglichen Warnungen von Seiten der Pfarrersköchin, der Ehefrau oder des alten, schon leicht vertrottelten Medizinalrats Dr. Isidor Krautwaschl aufs Gröbste. O ja.
Als Anton Pfundsberger, damals noch junger, rotblond gelockter und hoffnungsvoller Kaplan, nach St. Laurenzen zurückkam (er stammte ja ursprünglich von hier, hatte jedoch Priesterseminar und Theologiestudium in der Landeshauptstadt absolviert, bevor er zunächst in einer Pfarre in der Weststeiermark eingesetzt worden war), da war der Hias zwar noch nicht vorhanden; doch kaum ein Jahr später hatte die Theresia Hummelstreu ihren Buben taufen lassen. Den Namen des Vaters ließ sie – im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, Amen – im Taufschein frei. Denn der Hias war nun einmal ein uneheliches Kind.
Das war zwar nicht besonders günstig für die Beteiligten (besonders für die Mutter und den Buben), aber es war nun einmal so und nicht anders. Und, das betonte auch der Herr Pfarrer immer wieder in seinen Predigten ganz richtig: Aber nur, wer ohne Schuld ist unter euch, der werfe den ersten Stein!
Der unehelicher Sohn einer Magd war er also, der Hias. Der irgendwie abwesend wirkende Bub mit den ständig zerzausten roten Haaren. Und nachher, in all den Jahren, ein weder sonderlich fescher noch geistig übertrieben regsamer junger Mann. Nein, das schon gar nicht …! Er wurde daher auch mehr hin- und hergestoßen im Ort, als dass sich irgendjemand seiner tatsächlich liebevoll und konsequent angenommen hätte. Außer dem Herrn Pfarrer. Doch, wohl; der sah auf ihn, auf den kleinen Hias. Besonders später dann, wie seine Mutter gestorben war; die rote Resl, wie man sie immer genannt hatte – wegen ihrer feuerroten Mähne.
Zwar nutzte man in St. Laurenzen die nicht unerhebliche Arbeitskraft des Hias immer wieder ziemlich unverschämt aus. Egal, wer gerade etwas benötigte: Da wollte ihn jemand für irgendwelche Ausbesserungen an Haus, Scheune oder Stall dingen, dort ein anderer für ein paar Stunden Feldarbeit, ein dritter (oder eine dritte) borgte ihn sich für irgend etwas anderes aus, was er (oder sie) selbst nicht machen konnte oder wollte.
Sogar im wenig geliebten Asylantenheim mit den zum größten Teil islamischen Flüchtlingen und den paar meist katholischen Schwarzen machte sich der Matthias später dann nützlich. Er kam sogar mit den Insassen recht gut aus; man war einander irgendwie ähnlich. Auch wenn der offizielle Status ein ganz anderer war. (Doch was half dem Hias sein Status?!)
Lohn gab es freilich kaum für alle seine Plackerei; vielleicht manchmal eine frugale Jause, einen Krug Most oder ein paar Stamperln Schnaps. Einen aus Holz geschnitzten Brieföffner.
Doch der Hias half, wie man meinte, ohnehin gern aus. (Denn immer stand ja auch keine Beerdigung an, sodass er ein Grab hätte ausheben müssen. Und unter der Woche benötigte ihn auch der Herr Pfarrer nicht andauernd, las der doch nur eine Frühmesse an den Werktagen. Und die paar Versehgänge, Taufen et cetera, bei denen der Hias ebenfalls von seinem geistlichen Mentor gebraucht wurde, die fielen eigentlich weiter auch nicht ins Gewicht.)
So nützten die rothaarigen St. Laurenzener den rothaarigen Hias aus, wo es nur ging.
Eine Persönlichkeit wollte allerdings wohl niemand in dem eher schweigsamen, doch stets hilfsbereiten Burschen mit den Sommersprossen und dem meist leicht umwölkten Blick aus grünlich-gelben Augen sehen. Und als Freund hätte ihn kaum einer seiner Klienten bezeichnet; nein, dazu schien ihnen der Matthias Hummelstreu denn doch zu wenig wichtig.
Nur eine der beiden Gerngross-Schwestern, die Ernestine, damals kaum so alt wie der Hias, kam immer wieder einmal ein wenig ins Schwärmen, eben ob seiner roten Haare und, mehr noch, wegen seines verhangenen Blicks. Er habe honig-goldene Augen, der Hias, vertraute sie ihrer älteren Schwester Veronika an und wurde rot dabei wie ein überreifer Paradeiser.
„Du und dein honig-goldener Rotschopf“, neckte sie, die ebenfalls Rothaarige, dann die schon etwas erfahrenere, natürlich auch in Rot gehaltene Vroni. „Aber hast schon Recht: Ein Totengraber hat immerhin eine Zukunft …“
Warum der Hias auf die Avancen der durchaus hübschen Ernestine zunächst irgendwie übervorsichtig, ja: fast schon abwehrend reagierte, war eigentlich nicht verständlich. Immerhin hatten die beiden Gerngross-Schwestern auch sonst einigen Anwert bei der dörflichen Jugend. (Schwester Veronika ging sogar schon ziemlich fest mit einem Knackinger-Sohn, dem rothaarigen Clemens. Doch das sollte nicht allzu lang halten.)
Dann freilich funkte es auch beim jungen Mesner, Totengräber und St. Laurenzens Mann fürs Grobe. Ja, doch! Dass freilich gleich ein Kind aus der hier dann doch recht rasch entflammten Beziehung resultieren hatte müssen, missfiel der Dorfgemeinschaft samt dem Herrn Pfarrer. (Ja, ja, der Apfel fällt nicht weit von der eigenen Wiege …)
Sie hätten heiraten können, der Hias und die Ernestine. Aber der Hias weigerte sich entschieden. Und: Er konnte weder dazu gezwungen werden, das Mädchen zu heiraten, noch vermochte man ihn, den weitestgehend Mittellosen, zu irgendwelchen Zahlungen heranzuziehen. Und sogar dem guten Zureden seines Förderers, des Pfarrers Pfundsberger, widerstand der einigermaßen verstockte Bursche.
Nein, er wollte weder Vater sein noch Ehemann. Punkt um.
Dann entschloss sich die Ernestine Gerngross, wenn an eine Zukunft als Frau Hummelstreu schon nicht zu denken war, samt der kleinen Cornelia ins Wasser zu gehen. Zwar war die Firn, dieses ziegelrot-braune, leicht schäumende und brackig stinkende, insgesamt durch die illegalen Abwässer der Lederfabrik Freiinger & Knall längst zur Industrielacke verkommene Gewässer, nicht allzu tief; aber für die Ernestine und die kleine Conny genügte es.
Eine traurige Sache sei das, empfand man im Ort. Und St. Laurenzen trug Trauer. Kurz.
Nein, sie mochten ihn nicht besonders, die Leute in St. Laurenzen, den Matthias Hummelstreu, den Hias. Außerdem wurde gemunkelt, dass in Wahrheit der Bürgermeister Knackinger, der Fleischhauermeister und Wirt „Zum roten Fuchsschanz“, ein selbst von auffallendem Rothaar geprägtes Mannsbild, der Vater vom Hias sei. Ja, der Knackinger habe damals bestimmt etwas gehabt mit der ledigen Magd, mit der jungen Resl Hummelstreu; die hat ja gar nicht so schlecht ausgesehen, die Resl! Ganz im Gegenteil! („Aber sie hat es wohl auch beinah mit jedem getrieben, gelt ja?! Mit jedem, der nur wollen hat …“ – „Ja, ja, die rote Resl! Das war schon eine …!“)
Und die hatte immerhin, mit ihrem womöglich noch auffallenderen und intensiveren Rothaar, als es andere im Dorf schmückte, schon etwas hergemacht, die Resl. („Freilich! Die war schon ein geiles Frauenzimmer, die Theresia! Da kannst nichts dawider sagen!“)
Allerdings, besonders wenn die Frau Bürgermeisterin anwesend war, die als hantig verschrieene Hilde Knackinger (mit ihren ebenfalls, indes zu einem beinahe keuschen Kranz geflochtenen feuerroten Haaren), verstummten solche Tratschereien sogleich. Wie abgeschnitten waren sie, die emsigen Dispute von vorher. Mit den Knackingers wollte man es sich nämlich besser nicht verscherzen in St. Laurenzen.
Doch sonst wurde, besonders nach dem Tod der Mutter Hummelstreu, viel getuschelt hinter dem Rücken vom rothaarigen Hias. Sogar, wenn man wusste, dass er es mitbekam, hörte der Tratsch nicht auf. Man tat es ihm wohl sogar zu Fleiß!
Außerdem wurde er oft und oft, besonders wenn der Alkohol ihm wieder einmal entsprechend zugesetzt hatte, von der übrigen männlichen Dorfjugend nach Kräften verdroschen.
Einer der ärgsten Widersacher vom Hias, warum auch immer, war der rothaarige Harald, der Sohn vom Vizebürgermeister und Busunternehmer Georg Peintinger. Des alten Peintinger Haarpracht wirkte allerdings schon ziemlich gerodet, doch spielten die paar verblieben Härchen, die seine beachtliche Platte umrahmten, ebenfalls ins Rötliche. (Der Peintinger-Vater wiederum geriet sich ständig mit dem alten Knackinger in die roten Haare. Und das nicht nur, weil die beiden politisch konkurrierenden Parteien angehörten. Da schien es vielmehr noch ganz anders gelagerte Gründe für ihren Dauerzwist zu geben …)
„Leute! Lasst’s ihn in Ruh‘! Ja, seid’s doch bitte einmal auch ein bisserl nett zum Hias!“, hatte Pfarrer Anton Pfundsberger immer wieder gemahnt. In der Predigt spielte er sogar, wenn er irgendwelche biblischen Geschichten zur Untermalung aussuchte, darauf an. Dann erwähnte er den verlorenen Sohn. Obwohl just der Hias mehr oder weniger als das Gegenteil von jemandem gelten konnte, der verloren gegangen war und einem abging. Oder der Geistliche malte in den schönsten theologischen Farben die beachtliche Story des durch den Segen des Herrn von den Toten auferweckten Lazarus aus. Auch wenn hierbei so ziemlich jeglicher Vergleich zum Matthias Hummelstreu von Haus aus hinkte.
„Denkt doch um Gottes Willen“, so appellierte Pfundsberger meistens zuletzt an seine Gemeinde, „denkt doch an Christi Wort: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder tut … Und – wer weiß, was vielleicht noch in ihm steckt, in unserem Matthias … Amen.“
Doch das, was später eintreten würde, hätte auch der Pfarrer sich nicht einmal in seinen kühnsten Träumen erwartet. (Und auch in seinen Albträumen nicht. O nein!)
Ja was denn, was –
Na, das mit dem rhetorischen Talent natürlich! Dass der Hias –
– ah, ja! Die Rhetoristik …!
Rhetorik heißt man das! Rhetorik! –
Sag‘ ich doch alleweil …
Genau!
Fortsetzung folgt!
Genial: Die Kieselsteine des Demosthenes
Räumen und Ausmisten, das sind im Allgemeinen durchaus begrüßenswerte Tätigkeiten. Egal, ob in einer Garage, im Haus, im Keller oder in einem Asylantenheim.
Erstens schafft man solcherart Platz für neuen Müll; zum anderen findet man zufällig (oder schicksalhaft?!) mitunter interessante Sachen. Ja, manchmal fördert der Entrümpler sogar wahre Schätze zu Tage.
Als Matthias damals beim Räumen am Dachboden des Pfarrhauses auf eine Reihe zum Großteil recht verwahrloster und zerschlissener Bücher stieß, musste er zunächst husten, so staubig war das Zeug. Wahre Dreckwolken stoben auf, als er die Folianten durchblätterte. Dann fand er – unter anderen – ein ziemlich zerfleddertes Buch mit einem abgeschabten Lederrücken. Nachher hätte er freilich nicht im Entferntesten ahnen können, warum er just diesen alten Schmöker zur Hand genommen hatte; und schon gar nicht, was er da in Händen hielt.
Was war es?
Nun, es handelte sich dabei um eine reichlich zerschlissene, stark abgegriffene Ausgabe des sechsten Bandes „Römisches Recht“, herausgegeben von einem gewissen Dr. iur. Erasmus Pfloch-Bingen (verlegt anno 1875 bei Hoffmann & Campe zu Leipzig).
Römisches Recht? Und sonst noch was! Hias schüttelte den Kopf; doch faszinierte ihn der staubige Wälzer. Er legte ihn sich in Reichweite zurecht. Vielleicht später, dann …
Außerdem gab es da eine Ausgabe des Kinderbuchklassikers „Der Struwwelpeter“ aus den 1930er Jahren (ediert von Josef Scholz, Mainz). „Lustige Geschichten und drollige Bilder von Dr. Heinrich Hoffmann“, lautete der Untertitel. Hias erinnerte sich, so ein Buch (wenn auch eine besser erhaltene Ausgabe) hatte es bei seiner Mutter daheim auch gegeben; und wahlweise hatte ihn die alte Hummelstreu, passend zum „Struwwelpeter“, Zappel-Philipp oder Suppen-Kaspar genannt, je nach dem, welchen pädagogischen Effekt es gerade zu erzielen galt mit einer passenden Benennung à la Dr. Hoffmanns „Struwwelpeter“ …
Dann waren da auch ein paar Exemplare aus der vielbändigen Schreibfabrik des Karl May (verlegt in Bamberg) aus den 1950ern; die waren allem Anschein nach sogar erstaunlich sorgfältig behandelt worden. Da klingelte es im Gedächtnis des Matthias Hummelstreu: Genau, die hatte der Herr Pfarrer seiner Mutter für ihn, für Hias, geborgt: „Winnetou“ (eins bis drei).
Auch sonst gab es noch einige Folianten, manche inhaltsschwer, andere wieder bloß dem Gewicht nach gewichtig; so erregte eine lateinische Weltgeschichte Hiasens Interesse, auch wenn er nichts damit anfangen konnte: die „Annales Mundi sive Chronicon universale“ des Jesuiten Philipp Brietius (Wien, 1727). Aber das dicke Buch war in so schön hartes Schweinsleder gebunden und roch – nach Vergangenheit …
Hias riess sich los und entrümpelte weiter. Er fand zwar noch allerlei mehr oder minder Interessantes; doch die Bücher waren fraglos die Entdeckung und des Tages!
Nach getaner Arbeit auf dem Friedhof, in der Sakristei oder auf dem Feld, machte sich der Hias daran, das die letzten Tage und Nächte hindurch Gelesene zu vertiefen. Dabei verhalf ihm der Zufall zur optimalen Methode. Weil er sich (wie schon vor Jahrzehnten in der Schule bei der rothaarigen Frau Lehrerin Jolanthe Brandstätter) überaus schwer tat mit dem Artikulieren dessen, was er gerade – und ohnedies auch schon mit genug Mühen – im Text entziffert hatte, Buchstabe für Buchstabe, sann er nach Hilfe. Und die wurde ihm in Form eines alten, zwar schon ziemlich blinden, doch immer noch tauglichen Spiegels zuteil, der, im schwachen Licht des Dachbodens, immerhin ein einigermaßen erkennbares Bild von ihm zurückwarf.
So begann er unter Einbeziehung seines eigenen Spiegelbilds hoch droben im Pfarrhaus aus den Büchern zu deklamieren, die er zuvor gefunden hatte. Und das tat er mit Emphase und Ausdruck. Er übertraf die Laiendarsteller der örtlichen Theatergruppe unter Volksschuldirektor Emmeran Hausleitner dabei – sozusagen – spielend!
Ihm selbst größtenteils unverständliche (meist falsch ausgesprochene und betonte) lateinische Passagen aus der Weltgeschichte des Philipp Brietius („Annales Mundi …“), Absätze aus dem „Römischen Recht“ des Dr. Pfloch-Bingen (Band sechs von vierundzwanzig), aber auch Episoden aus dem leichter fasslichen und wiederzugebenden „Struwwelpeter“ und Abschnitte aus den Karl-May-Büchern fanden so – nach jahrelangem Aufenthalt in Stille, Staub und Abgeschiedenheit – den Weg an die (nunmehr nach Öffnen einiger Luken in Maßen frische) Dachbodenluft. Und das – durch den Mund Hiasens!
Zu den eigentlichen Ausgangsmaterialien, zu Dr. Erasmus Pfloch-Bingens „Römischem Recht“ (Band sechs), ist noch anzumerken, dass der Hias mit der Zeit sogar (wenn auch nur schemenhaft) der Diskrepanz gewahr wurde, nämlich der, die zwischen dem gelehrten und dargestellten Recht und dem zu sprechenden herrschte; und da gab es in der Tat eine scharfe Bruchlinie … Dem in der Jurisprudenz (noch) ungeübten Hias machte das Missverhältnis zwischen Rechts-Inhalt und Rechts-Form selbst zwar noch nicht so recht (sic!) zu schaffen, da er eben nicht unmittelbar im Bereich der Rechts-Praxis tätig war; dennoch wurde sie für ihn zwischendurch – wenn auch bloß andeutungsweise – immerhin evident. Und sie begann ihn zu stören. Ein Gefühl, das kontinuierlich immer stärker wurde.
Es waren also, ging es dem Hias allmählich auf, erst recht nur schöne Worte (oder Wörter), mit denen Recht-Suchende in aller Regel abgespeist wurden, nicht tatsächlich Rechts-Fakten. Und mit Gerechtigkeit hatte das alles da schon gar nichts zu tun … (Heißt es doch schon in Goethes „Faust I“ so richtig: „Vom Rechte, das mit uns geboren ist, / Von dem ist leider! Nie die Frage.“ Doch Goethe gehörte klarerweise – noch nicht – ins Repertoire des Hias.)
Die schöne Rede, die ihn so sehr faszinierte (immer noch und immer mehr!), sie diente wohl, so argwöhnte der Hias mitunter, nur zur Fassade; dahinter freilich verbarg sich nacktes, offenkundiges Rechts-Unvermögen.
Doch was hätte er (wenn er denn gewollt hätte) schon dagegen tun können? Nichts.
Also ließ er solche weitgehend destruktiven Gedanken, die womöglich obendrein seiner Karriere hätten schaden können, lieber sein und hielt es mit den unschuldigen Vögeln: Er sang, dem putzigen Rotkehlchen gleich, anmutig weiterhin (vor dem halbblinden Spiegel).
Der solcherart zum Rhetor heranwachsende Matthias Hummelstreu war sich der Bedeutung dieses ersten Moments naturgemäß nicht bewusst.
Aber, es fand hier in der Tat etwas Außergewöhnliches statt: Der schon leicht grau werdende, freilich immer noch weitgehend rotschopfige Mittvierziger mit dem verhangenen Blick und den Sommersprossen im wenig aussagekräftigen Antlitz, im schäbigen Gewandt und mit den dreckigen Händen; die alten zerfledderten Bücher; der hohe halbblinde Spiegel …
Es scheint diese permanente optische Überprüfung – neben anderen Übungen – für den Hias das gewesen zu sein, was lange Zeit vorher schon für den legendären Demosthenes (384 – 322 vor Christus), der übrigens ebenfalls an- und ausdauernd vor dem Spiegel gearbeitet haben soll, die Kieselsteine im Mund und der Lärm der Brandung des Meeres bedeutet hatten. Auch wenn Matthias Hummelstreu dieser berühmteste der attische Rhetoren zu diesem Zeitpunkt noch völlig unbekannt war, da er von ihm noch nie etwas gehört hatte und ihm auch dessen vierzehn Schmähreden, die Philippika (gerichtet gegen den makedonischen König Philipp II.), rein gar nichts sagten. Zugegeben, auch nicht die berühmten Brandreden des Marcus Tullius Cicero (106 – 43 vor Christus), die der römische Anwalt und Staatsmann gegen den Konkurrenten Marcus Antonius hielt und in ehrendem Erinnern an den griechischen Rhetor Philippicae nannte. Nein, bei Hias ging es lediglich ums Üben und Kontrollieren.
Dass er sich dabei der Methoden so großartiger Vorgänger bediente, wie es Demosthenes und Cicero nun einmal waren, spricht zweifellos für Matthias. Und für seinen diesbezüglichen schier untrüglichen Instinkt.
Man weiß das ja: Just das, was die Leute nicht (fehlerfrei) zu tun vermögen, reizt sie oft am meisten. Die wenig bewegliche, zu Übergewicht neigende Dame sieht sich als Balletttänzerin, der eher unsportliche Biertrinker als Champion in einer besonders athletischen Disziplin; und, klar doch, der Halbblinde hält sich für den geborenen Beobachter.
Doch sind mitunter eine passende Therapie und ein effektives Training tatsächlich Gold wert, geht es darum, eine mittlere Metamorphose in die Wege zu leiten.
Dem unter einem Sprachfehler leidenden Demosthenes verhalfen – so paradox das klingen mag – die eigenen gesundheitlichen Einschränkungen, indem er die Qualen in seinen Übungen zusätzlich noch verstärkte, mit der Zeit zu rhetorischer Geläufigkeit. So begann er richtig zu atmen, und er fand, etwa durch die Kieselsteine, die er in den Mund nahm, beziehungsweise durch das ohrenbetäubende Getöse des Meeres, gegen das er anbrüllte, zu einer immer besseren und exakteren Aussprache; damit verbunden, gewann er auch an Überzeugungskraft.
So stieg er schließlich schon als junger Anwalt zum bewunderten Redner und später dann sogar zum erfolgreichen Staatsmann auf. (Dass er schließlich an Makedoniens König Philipp II., dem Vater Alexanders, scheiterte, mindert seinen Ruhm keineswegs.)
Naturgemäß funktioniert so etwas nicht immer. Bei einem allerdings wirklich weitgehend talentfreien, aber ebenfalls sprachlich lädierten jungen Mann im Lustspiel „Pension Schöller“ [von Wilhelm Jacoby und Carl Laufs, 1890], der um alles in der Welt Schauspieler werden möchte, hilft aus verständlichen Gründen vermutlich gar nichts. Er bleibt chancenlos.
Anders als Demosthenes, der anfänglich zum Beispiel in der Aussprache des R einen besonderen Stolperstein gefunden hatte, vermochte die literarische Figur aus der angesprochenen Berliner Posse bedauerlicherweise kein L zu artikulieren; weshalb er auch ständig (und sehr zum Missvergnügen seiner Umgebung in der „Pension Schöller“) das Nied von der Gnocke vorzutragen sich erbötig macht …
Nun, auch Matthias Hummelstreu war eine Art phonetischer Legastheniker; ihn spornte, neben diversen Sprechübungen, indes besonders das Bild seines artikulierenden Alter Ego im Spiegel, sein eigenes Spiegelbild also, zu immer größeren Leistungen an. (Doch, wie schon erwähnt, hatte sogar Demosthenes nicht selten stundenlang vor einem mannshohen Spiegel geübt; und lange Zeit nach ihm scheute bekanntlich auch der Demagoge und Massenmörder Adolf Hitler vor dieser, wie wir annehmen: ziemlich peinlichen Prozedur nicht zurück.)
Für Hias war der Grund seines anstrengenden Tuns längst noch nicht klar; da wirkte mehr ein innerer Zwang, als dass er zu erklären gewusst hätte, wofür er sich da überhaupt abplagte. Fest steht, dass er aus Büchern, deren Inhalt er großteils nicht verstand, vor dem halbblinden Spiegel agierend, deklarierte, was das Zeug hergab … Das war anstrengend und sicherlich oft genug auch frustrierend. Nicht selten flog da eines der ohnedies schon reichlich verschlissenen Bücher, wutentbrannt und schier verzweifelt geschleudert, in eine Ecke.
Doch der Hias spürte die Notwendigkeit für sein Tun tief in sich verankert. Und bald stand für ihn außerdem fest, nur dann andere überzeugen zu können (weniger vielleicht vom Inhalt als von der Form dessen, was er da von sich gab), wenn er zuvor selbst von sich und seiner Geste überzeugt war. Ja, dessen war er sich alsbald sogar sicher.
Mit dem Rede-Trainung wuchs in Hias indes auch die Lust an der ganzen Sache. Also übte er – zunächst – allein, meist auf dem Dachboden des Pfarrhauses. Aber auch im Wald und auf weiter Flur; freilich nur, wenn er nicht fürchten musste, dass ihn jemand beobachtete.
Bald holte er sich allerdings sogar ein spezielles Auditorium hinzu. Erst waren es die Katzen des Pfarrers, von denen es immer reichlichen Vorrat gab; lauter rötliche Exemplare, von der rundlichen, rothaarigen Pfarrersköchin, der seelensguten Frau Mathilde Saftinger, wohl genährt und zutraulich. Doch auch die gurrenden Haustauben des geistlichen Herrn Chef, der ein Freund des Brieftaubenwesens war und eine ganze Reihe besonders schöner Tiere besaß, mussten herhalten als Zuhörerschaft. Sie taten es, wie es Hias schien, jedoch gar nicht ungern; ihr hübsch-gezeichnetes (natürlich rötliches) Gefieder sträubte sich zumindest nie ob des Mesners und Totengräbers rhetorischen Tiraden. Wie die Katzen sahen auch die Vögel den Rhetor Hias aus klugen Augen an und schienen mehr zu wissen; zumindest als er. Jedenfalls hingen sie die meiste Zeit regelrecht an den Lippen des heranreifenden Redners.
Übrigens: Wenn es genug rötlich-gestromte Forellen gegeben hätte im nahen Mühlbach (die vergiftete Firn war aus verständlichen Gründen ja völlig frei von Fischen), Hias wäre ihnen ohne jeden Zweifel mit einer entsprechenden Fischpredigt auf die Schuppen gerückt. Doch in Ermangelung einer besonders großen Zahl dieser schnellen Wellendurchpflüger mussten es zur Not, so dachte zumindest Matthias Hummelstreu, auch die zwei Goldfische der tierliebenden Haushälterin tun, die in einem bauchigen Glasgefäß ihre mageren Kreise zogen …
Was ihm zwar nicht auffiel (und seinen tierischen Zuhörern egal zu sein schien), war die Tatsache, dass sich reziprok zur Zunahme seiner Redefähigkeit Hiasens Toleranz zu reduzieren begann. Anders gesagt: Seine seelischen Qualitäten, seine Rücksichtnahme und Geduld, ganz allgemein seine Empathie, sie nahmen in dem Maße ab, in dem seine Eloquenz stieg.
Das konnte ja noch heiter werden! (Übrigens auch seine Fähigkeit zu Witz und Humor bewegte sich sukzessive mit seinem intensiven Training gegen Null hin. Und, bitte sehr, gerde der Hias hatte vorher schon kaum als sonderlich zu spontanem Lachen aufgelegter oder gar als unterhaltsamer Mensch gegolten. Mitnichten.)
Hias redete und trug vor, rezitierte und deklamierte. Er kam in Fahrt. Dämpfte jedoch bald darauf wieder gekonnt das zuvor entfachte Redefeuer; bloß, um es gleich darauf erneut gezielt zum Lodern zu bringen. Ja, doch, die Flammen seiner Rede züngelten gefährlich. Sie fraßen sich quasi durch das Thema (wenn es denn eines gab) und ebbten zum theatralisch optimal gesetzten Zeitpunkt wieder ab. Dann freilich, nach kurzer, als Spannungselement eingesetzter kleiner Pause, schwoll das Feuer von Neuem an und versprach, alsbald sogar zum rhetorischen Flächenbrand zu werden …
Matthias Hummelstreu verfügte dabei im Wortsinn über Verve und glühte auch selbst, als Person, förmlich; wenn es sein musste. Er vermochte indes, ebenso geschickt den Teilnahmslosen zu mimen, der diejenigen, gegen die er gerade wetterte, gleichsam am liebsten keines Wortes gewürdigt hätte. (Aber was sollte es, jetzt war er schon einmal Feuer und Flamme …)
Erst waren es bloß zaghafte Erinnerungsfetzen, die er da zu – oft noch wackeligen und instabilen – Wortplastiken formte. Bald jedoch griff er zu prominenten Monologen (und somit ins volle Meschenleben), die er sich in einigen Büchern erstöbert hatte, und auch zu (meist sogar berühmten) solistischen Theaterauftritten; wobei seine Auswahl eine gewisse geschmackliche Unvoreingenommenheit auszeichnete. Ob Maximilien de Robespierres Rede vor dem französischen Wohlfahrtsausschuss, ob faschistisches Gewäsch von Benito Mussolini, Adolf Hitlers Polit-Gebrüll oder Joseph Goebbels heimtückische Hetzreden – so gut wie alles eignete sich als Vorlage für den rhetorischen Berserker und hemmungslosen späten Nachwuchs-Vielredner Hias. Besonders nach unten gab es, rein inhaltlich keine Grenze. Da durchquerte der Rhetor buchstäblich verbalen Unrat und stinkenden Morast, die wiederum Ausdruck moralischer Verwerflichkeit waren. Das verfügte alles durchaus über kloakenartige Untiefen. Nicht Rede-technisch, jedoch inhaltlich watete Hias nicht selten voll in der Scheiße.
Doch, wie oben angedeutet, auch wirkungsvoll Literarisches suchte er sich bald für seine Zwecke zusammen (auch seine Lesefähigkeit hatte inzwischen immerhin schon um Beachtliches zugenommen; wenn es mit dem Geist auch nach wie vor weitgehend haperte); ob Mark Antons Rede gegen Brutus und die anderen Mörder Cäsars, wie sie William Shakespeare so trefflich in Verse gegossen hat, ob wirkungsvolle Monologe von Aischylos, Euripides oder Sophokles, von Lope de Vega, Molière oder Friedrich Schiller & Johann Wolfgang von Goethe, auch Wortschwall von Gotthold Ephraim Lessing, Heinrich von Kleist und Anton Tschechow, von Gerhart Hauptmann, Dario Fo und Elfriede Jelinek – alles fand Verwendung, ging es um Vortragsübungen der speziellen Art, durchgeführt von Hias, wie er leibte und lebte.
Ja, der Bursche hatte ohne jeden Zweifel großes Talent.
Es konnte einem angesichts so enormer Begabung durchaus angst und bang werden.
Allerdings: Je mehr der Hias übte und sein erstaunliches Können noch perfektionierte, je mehr er an äußerer Redereife zunahm und gleichzeitig – wie schon erwähnt – innerlich erschreckend zu verkümmern anfing, nämlich was seine Caritas betraf und sein Wohlwollen anderen gegenüber, je selbstverständlicher sein quasi genialer Redefluss vor sich hin quoll, umso stärker glich sich sein Benehmen dem an, was viele gute Redner auszeichnet: Er wirkte (bei aller Ausschöpfung seiner theatralischen Fähigkeit) für den aufmerksamen Betrachter in Wahrheit seltsam unbestimmt, fast unbeteiligt und quasi aalglatt.
Hier dominierten nicht der Charakter (und sei es ein noch so schlechter) oder der Inhalt die Rede; hier war es längst schon umgekehrt: Die Attitüde der Rede machte den Redner aus.
Der Hias war das Wort, um es theatralisch und ein wenig Religions-affin zu formulieren. Und das war, mehr aus Zufall vielleicht, aber immerhin: Fleisch geworden.
Und hat unter uns gewohnt.
Doch wer hätte etwas davon ahnen können, was sich da in dem und um den Hias herum abspielte? Nicht einmal eine Ahnung hatten die St. Laurenzener, mitsamt dem wohlmeinenden Herrn Pfarrer Anton Pfundsberger und der immer noch drallen Pfarrersköchin Mathilde Saftinger. Und die waren doch vergleichsweise am nächsten an Matthias Hummelstreu dran.
(Nein, nichts haben wir gewusst! –
Wie denn auch? –
Wovon haben wir nichts gewusst? –
Na, überhaupt …, von allem …!
– Genau!)
Fortsetzung folgt!
Was? Aha: Das politische Programm von Ex-Pater Eustach
Es geschehen immer wieder in der Geschichte (nicht nur in dieser …) erstaunliche Koinzidenzen. So hatte just zu der Zeit, da Hiasens Rhetorik sich langsam aber sicher, somit merkbar zu entfalten begann und er vor seiner tierischen Zuhörer- und Zuschauerschaft in der Scheune des Pfarrhofes von St. Laurenzen schon unleugbare Erfolge zu erzielen anfing – der Raum platzte mitunter, wenn auch mehrere benachbarte rothaarige Eichkätzchen, ein paar rotfedrige Uhus, oft sogar einige vorwitzige Rotwiesel sowie einmal sogar eine Familie von halbwilden Rotborstenschweinen und sonstiges anmutiges Getier, gefiedert wie in (vorwiegend rötliche) Felle gehüllt, ganz im Bann des Rhetors verharrten -, so hatte nebenbei und einige Kilometer entfernt noch ein anderer schräger Vogel die Bühne der Kuriositäten betreten: der abgesprungene Dominikaner-Pater Eustach. Und der bastelte ebenfalls schon seit geraumer Zeit an recht eigenwilligen politischen Plänen; an Thesen, sozusagen, mit durchaus reformatorischen, ja: revolutionären Inhalten. (Und so etwas ist, wie man weiß und wie sich hinlänglich und immer wieder gezeigt hat, stets aufs Neue gefährlich. Nicht nur in Wittenberg.)
Zugegeben, rein äußerlich machte dieser Renegat namens Eustach nicht viel her. (Erstaunlich wenig sogar, wenn man genau sein wollte.) Das schmale, überlange Gesicht des ein wenig ausgezehrt wirkenden Endfünfzigers mit dem spöttischen Dauergrinsen, das seine meist maliziös gekräuselten Lippen bestimmte, ging in einen dünnen, sehnigen und faltigen Hühnerhals über, der seinerseits in ein meist schwarzes Hemd und weiter in ein in der Regel leicht schwabbeliges Anzug-Jackett mündete. Zusammen mit schwarzen Hosen und ebensolchen Schuhen ergab das ein Bild, das am ehesten noch vorwiegend üble Erinnerungen an einen schlecht-gekleideten Architekten wachrufen hätte können.
Ach ja, noch etwas: Eustach hatte schon als Kind über kein einziges Kopfhaar verfügt; und auch später stellte sich bei ihm seltsamerweise keinerlei Körperbehaarung ein; sogar dann, beim Teenager und jungen Erwachsenen, nicht. Kein Flaum. Kein Anflug eines Flaums. Nichts. Nur ein paar schräg stehende Wimpern und dünne, unschöne stoppelige Brauen. Kein bisschen Brust- oder Achselbehaarung. Auch nichts im Genitalbereich. Dieser Mensch war sozusagen – nackt. (Und das abseits von irgendwelchen modischen oder gar zeitgeistigen Enthaarungsmoden.)
Eustach war aalglatt, ein Phänomen.
Selbst also weitestgehend haarlos, fand er jedoch – metaphorisch – bald schon in jeglicher Suppe das berühmte Haar; ihm kam zudem gleichsam in seiner Umgebung alles haarig vor. Nur ums Haar könne sich, davon war Eustach felsenfest überzeugt, überhaupt noch irgendetwas zum Besseren hin wenden. Denn der Karren war nun einmal verfahren, da mochten den anderen noch so sehr die Haare zu Berge stehen. (Er, Eustach, hatte da vergleichsweise gut reden, quasi als haarloser Alien in der Runde der Dichtbehaarten, der Immer-noch-Affen …)
Doch phänomenal war auch Eustachs Denkweise. Einerseits von der Theologie bestimmt, die er nun einmal studiert hatte mit Eifer, später, nach seinem Abfall, von diversen, meist diffusen Philosophien und obskuren Denk-Schulen beeinflusst; zum anderen überaus anfällig für politisch-ökonomische Thesen nicht selten skurrilster Herkunft und Geistesstruktur.
Dazwischen freilich blitzten durchaus brauchbare Thesen und glaubhafte Argumente auf wie in einem halbzerfetzten Gobelin. Da verfügte seine Suada dann plötzlich über Sinn und war über weite Strecken durchaus nachvollziehbar.
Eustach schien zwar ein Idiot zu sein, doch vermochte er seine im Allgemeinen (wie es schien) eher wirren Meinungen stets mit allem Nachdruck zu vertreten. Das imponierte, immerhin. Denn, man weiß das, nicht so sehr was einer sagt, macht die Bedeutung des Gesagten aus, sondern wie er es tut.
Und wenn er auch rhetorisch bei weitem nicht an echte Redner, wie etwa an Demosthenes oder Isokrates, an Cicero, Pater Leppich oder Matthias Hummelstreu, herankam, so konnte man sich seiner überzeugend dargebotenen After-Logik meist doch nicht so ohne weiteres entziehen.
Und: Er war ein gefährlicher Idiot, weil er durchaus demagogisches Potenzial besaß; besonders dann, wenn er erst einmal einen echten Tribunen zur Seite und zur Verfügung haben würde.
Und Hias war ein solcher.
Dabei oszillierten in Ex-Pater Eustachs Gedankenwelten einerseits ziemlich bizarre Weltuntergangs-Szenarien, zum anderen durch diffuse – auch semi-religiöse – Verschwörungstheorien angeheizte politische Wahnideen. Und seinen paar Jüngern, die allesamt ähnlich gepolt waren wie der kuriose Heilige der vorletzten Tage da, galt Eustach als glaubwürdiger Künder eines kurz bevorstehenden Armageddon – in wirtschaftlicher, politischer und soziologischer Hinsicht; dazu naturgemäß auch noch mental und in gewisser Weise sogar existenzial-philosophisch …, also quasi allumfassend. (Womit, wer das glaubte, vielleicht gar nicht so Unrecht hatte. Nein, eher nicht …)
Unausgegoren, wie das alles war, und manchmal ziemlich kindlich, wirkte es allein schon durch seine ungebremste Skurrilität auf manche, die bedingt durch falsche Politik, fehlgeleitete Wirtschaft, das heraufbeschworene Finanzdesaster und ähnliche Unglücke längst verdrossen geworden waren, auch auf Abgewiesene, Vergessene und Übersehene, jedoch durchaus apart. Ja: Man konnte sich unter dem, worunter sich nicht einmal Pater Eustach so ganz genau etwas vorstellen konnte, etwas vorstellen!
Und noch ein zeitliches Zusammenfallen gab es, von dem berichten werden soll. Ein zu allen möglichen und unmöglichen Aktionen wild entschlossener Langzeit-arbeitsloser Enddreißiger, frustriert, lädiert und geistig entsprechend eindimensional geworden sowie ethisch und moralisch schon gewaltig rundum reduziert, kurz, ein Mann namens Bruno Frummbiegel, hatte mehrere Hände voll Gleichgesinnter um sich geschart, die sich nunmehr „Die Unzufriedenen“ nannten. Sie rekrutierten sich großteils aus seinem eigenen Milieu der Job-losen Frustrierten, die, wenn sie von überhaupt etwas überzeugt waren, dann davon, dass alles Elend von den anderen – wahlweise vom Staat, von den Behörden, von der Schule, vom Finanzamt und besonders von den Ausländern – herstamme.
Doch sogar ein paar Immigranten hatten sich ihnen angeschlossen und waren (aus welchen Gründen auch immer) hier sogar einigermaßen gut gelitten. Immerhin: Eine erstaunliche Verbrüderung der Feindbilder hatte da stattgefunden.
Zumeist handelte es sich bei den „Unzufriedenen“ des Bruno Frummbiegel zwar um Menschen, die von der übrigen Gesellschaft gern (und ein wenig arrogant) als bildungsfern apostrophiert werden; doch da waren auch ein paar Karriere-gehemmte Universitäts-Assistentinnen und sogar einige emeritierte Ordinarien und abservierte Professoren dabei; außerdem zwei ebenfalls (aber aus anderen Gründen als Ex-Pater Eustach) abgesprungene Ordensschwetern; außerdem, wie nicht anders zu erwarten, die üblichen Aussteiger, Pseudo-Anarchisten, Studienabbrecher und auch sogenannte Integrationsverweigerer (was nicht unbedingt mit klassischer Immigration zu tun haben musste; auch Inländer vermochten sich nicht selten und wirkungsvoll unserer sogenannten Ordnung zu widersetzen).
Dann wuselten selbstverständlich noch einige Anhänger diffuser Verschwörungstheorien – noch diffuserer als die von Ex-Pater Eustach! – in der inhomogenen Gruppe herum; solche, die dem altbekannten bösen antisemitischen Märchen von den Protokollen der Weisen von Zion anhingen; aber außerdem sogar drei, vier Exemplare, die ganz mit der Zeit gingen und an sogenannte Chemtrails glaubten: an künstliche Schlieren und Kondensstreifen also, die angeblich von bösen Mächten, konkurrierenden Geheimdiensten und aus welchen Gründen immer übergeschnappten Ex-Politikern auf dem Himmelszelt platziert werden, um unser Wetter (und in der Folge dann auch uns selbst sowie unsere Aussichten) negativ zu beeinflussen.
Die meisten von ihnen waren allerdings nicht auf so subtilen Gedankengängen unterwegs; sie beschränkten sich darauf, hier und da Radau zumachen, indem sie ein paar Kaffeehäuser zerlegten, einige Abfall-Container und Automobile anzündeten oder, später dann, eine ganze Reihe von Müll-Deponien in Brand steckten. Außerdem lieferten sie sich mit der Polizei eine Anzahl (wenn auch eher ineffektiver) Scharmützel, bis – ja, bis sie der Ex-Dominikaner Eustach missionierte.
Und der ehemalige Priester leistete ganze Arbeit.
Als erstes machte er die Computer-Affinen unter den „Unzufriedenen“ (und das waren gar nicht so wenige) zu Aktivisten in den diversen Blogs und in den sozialen Netzwerken; den bekanntlich war ja am Anfang das Netz gewesen … O die waren fleißig! Sie lösten manchen Shitstorm aus, klickten sich mit Vorliebe unter falschem falschem Namen (Doppel-Pseudonyme!) in fremden Chatrooms ein und sorgten überhaupt für Verwirrung.
Im Nu verfügten sowohl der gewesene Dominikaner als auch Bruno Frummbiegels „Unzufriedene“ über eine Unmenge sogenannter Freunde auf Facebook und Twitter. Aber auch real konnte man sich alsbald von der skurrilen Bewegung sozusagen ein Bild machen: Die unter den Frummbiegel-Anhängern, die ihm noch am ehesten irgendwie herzeigbar erschienen, setzte der schwarz gewandete Pater Eustach nämlich auch öffentlich ein; ja, er zeigte sie sozusagen live her.
Aus nicht eruierbaren Gründen schlossen sich sogar ein paar echte Hacker (meist waren es unbefriedigte Freelancer) und, was noch verwunderlicher war, einige süddeutsche Internetgemeinschaften an, die eigentlich der Kinderpornographie frönten. (Zugegeben, die Beteiligung dieser fiesen Bayern-Bagage bereitete dem ehemaligen Dominikaner moralisch in der Tat Kopfzerbrechen; ja, so sah sich sogar Eustach mit einem Mal schäbigen Randerscheinungen des quasi heiligen WWW gegenüber. Und da half auch kein Apage Satana!)
Doch endlich – welch ein einmaliger Glücksfall! – liefen einander Eustach und Hias über den Weg, der ab nun ein gemeinsamer sein sollte.
Wäre Matthias Hummelstreu, der an sich nur mäßig begabte und auch geistig bloß äußerst bescheiden ausgestattete, jedoch durch ein exorbitantes rhetorisches Genie zum Volkstribunen geradezu prädestinierte ehemalige Mesner, Totengräber und Mann fürs Grobe in St. Laurenzen, wäre Hias also Jakob Fugger gewesen, der Reiche (1459 – 1525), dann hätte der abgesprungene Dominikaner-Pater Eustach, seine intellektuelle rechte Hand quasi, dem Ablassprediger Johann Tetzel (bekanntlich ein eingeschworener Erzfeind des Reformators Dr. Martin Luther) entsprochen. Dieser Tetzel, übrigens auch ein Dominikaner, der seit 1504 überaus erfolgreich als Ablassprediger wirkte und im Sold des Erzbischofs Albrecht durch das Deutsche Reich tourte, war Luther alsbald ein Dorn im Auge; in seinen 95 Thesen gegen den Verkauf der beliebten Ablassbriefe wandte sich der resolute Reformator naturgemäß auch gegen den reichlich obskuren Dominikaner-Pater. Und dieser wiederum, um sein Geschäft bangend, denunzierte Martin Luther schließlich bei der Kurie als Ketzer. (Immerhin hatte der spätere Bibelübersetzer aus Eisleben sogar den Papst in seiner berühmten Wandzeitung angegriffen, die er am 31. Oktober 1517 an die Nordtür der Wittenberger Schlosskirche affichierte.)
Doch weder war Hias ein Fugger – schon gar nicht der Fugger, zu dessen größten finanziellen Leistungen immerhin die für den Habsburger Karl V. gekaufte Kaiserwahl von 1519 gehörte, für die er allein circa 550.000 Gulden aufbringen musste -, noch lag dem gewesenen Pater Eustach etwas an irgendwelchen Ablässen wie seinem Ordenskollegen Johann Tetzel. Nein, hier ging es (unsere Geschichte spielt eben in der Jetztzeit) zwar auch um ärgsten Turbo-Kapitalismus, aber mentale oder gar religiöse Inklinationen spielten da kaum hinein. Mit Martin Luther und der Reformation hatte das schon gar nichts zu tun. (Auch wenn freilich immerhin -)
Für die „Unzufriedenen“ hätte Eustach auch Wer-immer-in-aller-Welt-ist das? sein können; denn denen ging es ohnehin ausschließlich um sich selbst, um Randale und Bier; und binnen kürzester Zeit natürlich – um ihren Hias! Der hatte dem Gründer der Bewegung, dem inferioren Bruno Frummbiegel, nämlich längst schon spielend den Rang abgelaufen. (Worein sich der indes, wie es zumindest schien, nach anfänglichem Grollen gar nicht besonders unglücklich fügte.)
So schnelllebig ist die Politik nun einmal.
Nein, sie ließen nichts kommen über ihren redegewandten Matthias, der trotz seiner blendenden Thetorik merkbar einer von ihnen geblieben war! (Was sie zu der irrigen Meinung verleitet haben konnte, Hias sei jemals einer von ihnen gewesen, wird nie ergründet werden …)
Urig, bärig und ein bisserl primitiv, wie sie es halt mochten, die „Unzufriedenen“, so war er. O ja, er würde den Umschwung bringen! Er würde die EU und die USA und die UNO und den Putin und den IS und sonst noch alle möglichen Ungusteln in die Schranken weisen! Ihnen aufs Maul hauen! Sie mit ihren eigenen Waffen schlagen! Kurz: sie besiegen! Ihr Hias!
Auf ihn konnten sie bauen. Davon waren sie in kindlicher Sorglosigkeit überzeugt wie junge Hunde, die an den Milchdrüsen ihrer Hundemama nuckeln und sich den Himmel – wenn sie überhaupt an einen denken können – als ein kuschelig-angenehmes Konglomerat aus von Bienen umsummten und von Schmetterlingen umflogenen Wiesen, hübschen farbenprächtigen Blümchen, von murmelnden Bächlein und von ausgiebigen Milchorgien ausmalen.
Die „Unzufriedenen“ vertrauten dem Hias in jeglicher Hinsicht. Die „Unzufriedenen“ waren mit dem Hias – zufrieden! Sogar ihr ehemaliger Anführer, der weitestgehend unfähige Benno Frummbiegel, hatte sich schließlich – nach einigem Murren und ein paar wenig delikaten Dauerräuschen samt noch weniger delikaten Folgen – mit Hias und den neuen Gegebenheiten arrangiert. Dass Benno ab nun eindeutig unter ferner liefen figurierte, bekam der nicht einmal mehr sonderlich bedauernswerte Trottel ohnehin kaum mit. (Aber er war immerhin noch dabei – als ein aus tiefstem Herzen heraus Unzufriedener!)
O ja, dieser Hias, ihr Hias!, er würde politische Konsolidierung garantieren (was das auch immer sein sollte), wirtschaftlichen Aufschwung bringen und ihnen endlich zu Macht und Einfluss verhelfen – und das auf allen Gebieten. Und: Er würde sie nicht salonfähig machen; nein, er würde, ganz im Gegenteil, alle Salons nach ihrem Ebenbild und so, wie sie sich das vorstellten, umformen und ausgestalten!
Ja, das war es, was sie anstrebten, die „Unzufriedenen“.
Dann hätten sie endlich etwas erreicht, dann würden die „Unzufriedenen“ nämlich das Sagen haben – in Wirtschaft, Finanz- und Bankenwesen, in den Institutionen, in der Kunst und in der Kultur, bei den Behörden und auch sonst überall!
Und niemand würde ihnen mehr etwas dareinreden. Oder aber –
Übrigens, nur als kleiner Hinweis gedacht, war es im Grunde genommen egal, wer da oben regierte und wer das Sagen hatte (oder glaubte, das Sagen zu haben); spielten doch längst in der Wirtschaft, im Finanz- und im Bankenwesen naturgemäß die alten Kaufmannstugenden keinerlei Rolle mehr, die sogar zu Fuggers Zeiten noch gelautet hatten: Redlichkei (oder Integritas), Verschwiegenheit (Taciturnitas) und Freiheit (Libertas). Auch wenn sie, zugegeben, damals schon reichlich überholt waren von der Praxis.
Aber: Da konnten die Bankiers der Kaiser und Könige, die Reichen im Reich, die Geldsäcke vom Format der Fugger, noch so sehr mit den Schuldscheinen winken: Ein Federstrich machte, wenn es sein sollte, ihre erworbenen Wucherrechte zunichte. Und so verloren sie lieber zähneknirschend Teile ihres Vermögens, als dass sie auch noch ihr Leben durch Herrscherhand lassen wollten. Denn der Weg vom Günstling zum Delinquenten war ein kurzer …
Außerdem galt längst schon (innerhalb wie außerhalb der alten Handelssysteme und Kaufmannszünfte) und ganz allgemein eine Art Catch As Catch Can; einschließlich diverser meistens ziemlich unappetitlicher Fraternisierungen und obskurer Schulterschlüsse zum Zwecke der Ausbootung dritter Mitbieter … Kartell as Kartell can …
Aber zurück zu Hiasens Spiritus rector, denn zu einem solchen wurde der findige Ex-Dominikaner-Pater Eustach sehr rasch. (Und findig und wendig war er, das musste man ihm lassen; bei all seiner Skurrilität und trotz seines eher bizarren Geschmacks, was den Umgang – etwa mit den wenig ansehnlichen „Unzufrieden“ – und sein eigenes Auftreten betraf.)
Das Programm, das der gewesene Pater ausgearbeitet hatte, fiel, wie der ganze Mann selbst, weniger durch Widersprüchlichkeiten im Einzelnen auf als durch eine gleichsam durchgängige Verrücktheit, in deren gedanklichem Flickenteppich – wir sagten es zuvor schon kurz – indes zwischendurch ganz brauchbare und nachvollziehbare Ideen aufflackerten und irrlichterten. Hier putzten ein paar Glanzpunkte eine an sich geistig düstere Hirnsuppe auf, eine an sich eher schale Gedankenbrühe; oder, um ein anderes Bild zu verwenden: Da motzten neue Kerzen einen schon ziemlich verschlissenen Weihnachtsbaum auf um Mariä Lichtmess herum.
Außerdem registrierte Eustach genau, was um ihn so alles vor sich ging. Das sogenannte Weltgeschehen, die in- und ausländische Tages-Politik und auch die globale wie nationale Wirtschaft würden ihn stets auf dem Stand der Zeit gefunden haben, wenn sie ihn nur gesucht hätten. Doch es fiel niemandem ein (warum auch?), sich um den gewesenen Dominikaner-Pater Eustach zu kümmern, der nicht einmal mit Ablässen Handel trieb. Warum auch hätte man sich seiner annehmen sollen?! Es gab illustere Affen genug, die vermeintlich mehr hergaben.
Also hören wir uns Eustach, der es verstand, seinem kritischen, ja: destruktiven Parteiprogramm (wenn es denn ein solches überhaupt war) sogar einen in gewisser Weise moralischen Anstrich zu geben, einmal kurz im Originalton an. Er holte sich nämlich aus seinem verworrenen Phrasen-Reservoir nach Belieben Versatzstücke, um sie dann, gemeinsam mit Mag. Eugen Musenlohn, dem willfährigen Sekretär, in Hiasens prächtige Redeformate einzupassen. Modul-System nannte er das. Und er vermochte damit durchaus perfekt umzugehen.
Hier einige seiner Module, willkürlich und lose aneinander gereiht:
„Leute, Wir müssen uns damit abfinden, dass es nichts mehr wird mit der mentalen Besserung des Menschen. Doch daran, seien wir ehrlich, haben wir ohnedies nie so recht geglaubt …
Die Welt befindet fest in den Klauen des Kapitalismus. Ergo können wir uns entweder darüber grämen, dass es so ist, wie es ist; oder wir versuchen, ein möglichst großes Stück vom ach so schmackhaften und appetitlichen Kuchen für uns selbst zu ergattern. Und das – rechtzeitig, bevor es uns der hinterlistige Nachbar vor der Nase wegschnappt!“
Oder: „Ja, Leute, die Wirtschaft hat längst schon die Ethik ersetzt.“ (Wahlweise: „Ja, Leute, das Kapital ist an die Stelle der Moral getreten.“ Oder: „Ja, Herrschaften, schon Bertolt Brecht hat gesagt: ,Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral …‘ Aber das macht nichts, wenn man sich nur zu helfen weiß. Und wir wissen uns zu helfen …“)
Und nochmals Eustach im O-Ton: „Wir müssen die Daumenschrauben unbedingt enger einstellen – wenn wir dann am Drücker sind! Und wir müssen unsere Daumen widerstandsfähiger machen, bevor sie von den anderen, den Stärkeren, in die Schraubstöcke gequetscht werden. Denn sonst ist es zu spät.“
Dann noch etwas, nämlich die Religionen betreffend: „Es heißt, die Fanatiker brächten die Religionen in Misskredit. Ja, sie pervertierten die Religionen! Doch das ist eine pure Verleumdung. Denn: Die Religionen können von den Fanatikern gar nicht pervertiert werden; die Religionen sind nämlich per se schon pervers; sollen durch sie doch vorgeblich Ur-Ängste beschwichtigt werden – mittels neuer Angst-Popanze!“
Außerdem: „Der Fundamentalismus ist die letzte Rettung der Religionen, ihre letzte Hoffnung. Bevor sie gänzlich obsolet werden.“
O ja, er hätte endlos solcherart weiter monologisieren können, wenn er der Redner gewesen wäre, der er – zugegeben – nur zu oft tatsächlich gern gewesen wäre. Und er hätte seine Gegner attackiert. Bis aufs Blut gereizt. Bloß gestellt. Verwirrt. Verarscht. Verunsichert. Zerstört.
Eustach hätte die bösesten Pamphlete losgelassen und die zynischsten Glossen formuliert; er hätte sich allemal mokiert, jedenfalls. Wenn –
Wenn beispielsweise der Islam, verkörpert zum Exempel durch die unmenschlichen Terrormilizen des selbsternannten Islamischen Staats, sich (Waffen-klirrend, sengend und brennend, mordend und vergewaltigend) an die Errichtung eines sogenannten Gottesstaates machte (auch wenn moderatere Auslegungen des Koran davon abrieten und vielmehr die friedliche Koexistenz mit den Ungläubigen empfahlen). Oder, wenn der IS und seine geheimen und offenkundigen Vasallen in zahmeren Masken nur drakonische Strafen über Andersdenkende verhängten (wie in Saudi-Arabien oder in der Türkei), so könnten – Eustachs Meinung nach – wohl bloß die Übervorsichtigen (und natürlich die Diplomaten sowie die Wirtschaftstreibenden und ihre halbblinden und vom Geld geblendeten Lobbyisten) darin keine von Anfang an schon in der Religion selbst liegende Aggressionsbereitschaft orten!
Nun, da hatte er eigentlich recht.
Da ging es nun einmal um eine im Islam zu tiefst verankerte Auffassung, nicht nur im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein (diesen Irrglauben pflegen bekanntlich fast alle [monotheistischen] Glaubensgemeinschaften!), sondern die eigene Gottessicht darüber hinaus auch noch mit allen Mitteln durchsetzen zu müssen. Richtiggehend zwanghaft. Und geifernd. Auf das Äußerste missionarisch gedrillt und jeder Zeit auch zur Gewalt bereit.
Dann kam der Januar 2015. Das feige Attentat auf die Redaktion eines französischen Satire-Blattes und in der Folge noch mehr Verbrechen – an Unbeteiligten, Geiseln, an Polizistinnen und Polizisten (darunter sogar an solchen islamischen Glaubens), an Juden, an Bürgern … Dass die Karikaturisten und Journalisten des Pariser Magazins „Charlie Hebdo“ unter anderem immer wieder auch den Islam und hier explizit den Religionsgründer Mohammed mittels Ironie und Häme angegriffen hatten, stand natürlich außer Zweifel. Und da der Islam jegliche Darstellung des Propheten bei strenger Strafe untersagte – man darf sich allerdings fragen: mit welcher Berechtigung und für wen? – , musste zwangsläufig wegen der diesbezüglichen Karikaturen Feuer am Dach sein. Bei einer Religion, die sich selbst so wenig reflektiert und unfähig zur Selbstironie ist, waren kaum andere als beleidigte Reaktionen zu erwarten. (Man erinnere sich noch an den Affenzirkus vor Jahren, als sich ein dänisches Blatt ähnlichen Frevels schuldig gemacht hatte!)
Dass der selbsternannte Islamische Staat, dieses politisch-militärische Konglomerat aus Wirrköpfigkeit, Arroganz und Verbohrtheit, jedoch sogleich seinen Abschaum in Person zweier Meuchelmörder ausschicken würde, um die Kreativen von „Charlie Hebdo“ zu züchtigen, war dann doch überraschend. (Doch entsprach die Art des unmenschlichen und verbrecherischen Vorgehens freilich letztlich ganz der auch sonst beim IS üblichen; eines Staatsgebildes [{noch} ohne Territorium], das mittelalterlich anmutende, überaus grausame Bestrafungs- und Hinrichtungsmethoden mit der perfekten Handhabung ultra-moderner Kommunikationstechniken zu verbinden versteht.)
Am überraschendsten freilich war die menschenverachtende Art und Weise dieses feigen Mordanschlags weit ab von den gewohnten Operationsgebieten des IS, also Irak oder Syrien. Und just diese völlig inhumane Art und Weise des Vorgehens mitten im liberalen Paris hätte eigentlich sogar die übrigen geistig noch irgendwo im Mittelalter Stehengebliebenen unter den Muslimen aufrütteln und zum Umdenken bewegen müssen!
Dieses „freche französische Satire-Blatt“ verführe, schrieb Georg Hoffmann-Ostenhof im österreichischen Nachrichtenmagazin Profil voll Anteilnahme und Anerkennung, „seit Jahr und Tag zu intelligentem Lachen“, verletze Tabus und gebe „jegliche Dogmen und Fanatismen der Lächerlich“ preis; ja, es zeige „den religiösen und politischen Autoritäten den Stinkefinger“. Und: „,Charlie Hebdo‘ hat Allah und Mohammed verarscht, was viele Muslime wohl beleidigend finden. Aber vor dem Spott der Pariser Satiriker war bisher niemand gefeit: Nicht Jesus und die Jungfrau Maria, nicht Jehova und Moses und nicht die Pfaffen aller Religionen, seien es nun Priester, Rabbiner oder Imame.“
Dem stimmte der Ex-Pater vollinhaltlich zu. (Auch wenn es mit seinem eigenen Humorverständnis ebenfalls nicht allzu weit her war.)
Eustach gab in diesem Zusammenhang übrigens auch Hoffmann-Ostenhofs Kolumnisten-Kollegen Peter Michael Lingens Recht, der seinerseits, ebenfalls im Profil, den deutschen Politologen Matthias Küntzel zitierte: „Um den neuen Totalitarismus zu bekämpfen, muss der Koran in seiner Gänze neu gedeutet und die von den Terroristen gewählte Lesart ausgeschlossen und in den Moscheen geächtet werden.“
Fazit: Die Muslime hatten selbst an sich zu arbeiten, nicht nur der Westen musste auf sie und ihr Tun genau achten und dort, wo Rechte verletzt wurden, einschreiten (auch wenn es die Scharia vielleicht anders sah).
Ja, das deckte sich durchaus mit Glanzpunkten der sonst, zugegeben, recht düsteren Gedankenwelten des skurrilen Ex-Priesters Eustach.
Nun, freilich: Eustach tat sich, als Renegat, mit der Schelte an religiösen Einrichtungen und Haltungen sowie mit der Häme, die über Götter oder angebliche heilige oder sonst irgendwie sakrosankte Wesen und Persönlichkeiten verschüttet wurde, eher leicht.
Was ihn indes tatsächlich bestürzte – und da schien er nochmals recht hell zu sein, als er dies alles bei sich erwog und bedachte -, war der Umstand, dass dieser Islam tatsächlich immer noch eine mittelalterliche Religion war. Befangen in den politischen und kriegerischen Gegebenheiten seiner Entstehungszeit im 6./7. nachchristlichen Jahrhundert und bestenfalls nur so antiquiert „wie der Katholizismus zum Ende der Habsburger-Monarchie“. (Ebenfalls Profil, diesmal Christian Rainer in einem Leitartikel.) Zudem eine Religionsgemeinschaft, zersplittert in mehrere einander aufs Schärfste ablehnende und mitunter sogar bekriegende Richtungen, ohne innere Struktur und ohne durchgängigen quasi amtlichen Duktus (wie etwa die römisch-katholische). Zudem ohne einheitliche Sprachregelung und Hierarchie.
Da kam dann schon einiges zusammen: Das a priori komplexe Phänomen der Irrationalität, wie es nun einmal besonders die Eingott-Religionen kennzeichnet; jedoch verquickt mit durchaus realen Besitz- und Machtansprüchen; und ausgestattet mit der Arroganz des Alleinanspruchs der Wahrheit, von dem weiter oben schon die Rede war. (Denn nicht anders hatte es sich die längste Zeit beim Christentum und seiner vatikanischen Niederlassung verhalten. Auch der Papst in Rom und die Kurie brauchten Jahrhunderte, bis sie sich nolens volens dazu bequemten, andere Glaubensgemeinschaften – etwa das Judentum – halbwegs partnerschaftlich zu sehen. Denn was für die Muslime die Ungläubigen, waren für die Sanctissima Ecclesia und den Pontifex am Tiber eben die Heiden und die Andersgläubigen.
„Wenn man ihm Wahn befangen ist, über die einzige (seligmachende) Wahrheit zu verfügen“, so lautete quasi das Credo des gewesenen Dominikaners, „ist einem nämlich nicht zu helfen; egal ob unterm Kreuz, im Schein des siebenarmigen Leuchters oder unterm Halbmond.“
Lächerlich fand Eustach allerdings auch die skurrile Verbrüderung der Politik und der Massen angesichts der oben schon angesprochenen feigen Morde am 7. Januar 2015 in Paris, nachdem zwei islamistische Terroristen das oben erwähnte Blutbad in der Redaktion des französischen Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ angerichtet und Karikaturisten und Journalisten ermordet hatten. Plötzlich, so stand es auch auf den Tafeln, die sie, die Demonstranten, alle hoch hielten, fühlten sie sich allesamt als „Charlie“: Je suis Charlie, lautete das Motto. Das war gewiss pietätvoll und solidarisch – und in verständlicher Angst das Zusammenrücken der sich um die Werte der Demokratie Scharenden eindringlich demonstrierend.
Und alle, egal ob sie jemals eine „Charlie“-Karikatur gesehen hatten oder nicht und wie sie dazu standen, streckten als Symbol der Solidarität ihre Bleistifte und Kugelschreiber in die Höhe.
Aber –
Gut, diese Zeichen der Pietät, der Trauer und des Mitgefühls, die waren natürlich vollkommen in Ordnung. Die Menschen waren in Furcht, und sie erwiesen den Ermordeten auf diese durchaus passende Weise die Ehre. Hatten die doch in letzter Konsequenz ihr Leben gegeben für Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Redefreiheit und überhaupt für Freiheit und Demokratie!
Aber sogleich erfolgte die Vereinnahmung der Stimmung solcher liberaler Geschlossenheit durch die Politik; und die ist, sonst wäre sie nicht, was sie ist, nun einmal herrschaftlich organisiert (feudal sogar) sowie machtgierig und auf Dominanz, Einfluss und Pfründe aus – nicht auf die Einhaltung der zu akzeptiertem Recht gewordenen Errungenschaften des Volkes …
Im Umgang mit dem Islam, wie er zur Zeit gelebt wird (auch dort, wo angeblich Liberalität herrscht, wo also im Fall angeblicher Blasphemie und Verunglimpfung der Glaubenslehre [was immer das, verdammt, auch sein sollte …] nur ausgepeitscht oder eingesperrt und nicht gleich geköpft wird), muss endlich ein Umdenken erfolgen! Die westliche – teils ohnedies halbwegs agnostische, teils areligiöse oder zumindest in der Ausübungen religiöser Riten sehr zurückgenommene – Öffentlichkeit wird endlich zur Kenntnis nehmen müssen, im Islam keinen zeitgemäßen Partner zu finden. Diese in die Vergangenheit gerichtete Religion mit ihren mittelalterlich anmutenden Ritualen wird nämlich im Gegenteil, wie Martin Staudinger (erneut im österreichischen Nachrichtenmagazin Profil) schreibt, „auf lange Sicht die größte Bedrohung für die offene Gesellschaft sein“.
Zudem stellen nicht wenige Muslime wie selbstverständlich die Scharia, also die Pflichtenlehre und das religiöse Recht ihres Glaubens, über Landesgesetze und sogar über die Allgemeinen Menschenrechte. Denn die vom Menschen gemachten Gesetze seien nun einmal fehlerhaft; nur die Scharia sei unfehlbar. (Wie auch das Schriftbild des Koran unverändert zu bleiben habe. Was eine Angleichung an heutige Gegebenheiten von vornherein ausschließt …)
Der Konflikt zwischen Islam und Westen, wie er jetzt so deutlich hervortritt, kulminiert unter anderem in der Einsicht, „dass kulturelle Identität nicht auf ewig in Stein gemeißelt ist und dass sich Gesellschaften durch demografische Verschiebungen ändern“ (Staudinger, s. o.); oder eben im Fehlen dieser Einsicht.
Immerhin mussten andere Glaubensgemeinschaften dem notwendigen Wandel schon Rechnung tragen; die Katholische Kirche etwa auch durch – sicherlich alles andere als gern geübten – Verzicht auf eben die alleingültige Wahrheit ihrer Lehre … Man denke in diesem düsteren Zusammenhang bloß an die Zeit des Austrofaschismus und dessen enger, ja: überaus enger Bindung an den katholischen Klerus nach dem Untergang der Habsburger-Monarchie!
Man musste sich wohl oder übel mit dem Koran auseinandersetzen, immerhin der Richtschnur für ein Fünftel der Menschheit; so rätselhaft diese in 144 sogenannte Suren unterteilte Botschaft auch sein mochte (das übrigens auch für Muslime selbst, sogar für Theologen).
Eben ihr Pendeln zwischen Aufrufen zur Gewalt gegenüber Ungäubigen und Ermahnungen zur Toleranz machte diese Ge- und Verbote so komplex. Obwohl vieles in dieser – überhaupt stark von den politisch-kriegerischen Gegebenheiten der Ursprungszeit des Koran geprägten – Sammlung zum Beispiel abhängig war, ob es in Mekka, nach der Flucht Mohammeds nach Medina oder nach der späteren Eroberung Mekkas festgelegt worden war. Zudem ist der Koran weitgehend Adaptions-restistent: Abgefasst in altertümlichem Arabisch (das heute kein Mensch mehr so spricht), inhaltlich mehr vom mündlichen Vortrag als vom Schriftbild abhängig und durchwegs rückwärtsgewandt, wird er grundsätzlich auswendig gelernt – und dann nach Gutdünken interpretiert. Oder eben nach Schlechtdünken. „Je nach Situation spiegeln sie [die Suren] Verfolgungswahn, Demütigung, Toleranz oder Rachedurst“, wie Christa Zöchling im Profil schreibt.
Noch etwas (und das ist eine wahre Leistung!): „In seiner konservativen Ausprägung hat der Islam dem Christentum in der Erzeugung und Pflege schlechten Gewissens längst den Rang abgelaufen. Heute werden Koran und Sunna, die überlieferten Sprüche des Propheten, als Instrumente der Vollstreckung missbraucht.“ (Zöchling, s. o.)
Doch nochmals zurück zur in aller Regel provokanten und rotzfrechen satirischen Wochenzeitung „Charlie Hebdo“ und zum unmenschlichen Terroranschlag in Paris. Wie durften beim Gedenken für die Mordopfer beispielsweise irgendwelche korrupte und ansonsten unfähige Polit-Popanze plötzlich Charlie sein? Wie?! Typen, die im Allgemeinen mit dieser Religions- und Obrigkeits-kritischen Zeitschrift, die zudem die längste Zeit ohnedies nur einem eher kleinen Kreis bekannt war, absolut nichts am Hut hatten und haben?
Wie war es möglich, dass just solche Typen (weder einmal) politisches Kleingeld schlugen aus dem fürchterlichen Geschehen und ihren Vorteil schöpften am Rande des unfassbaren Verbrechens gegen die Meinungsfreiheit und gegen Menschen, die sie vertraten? Typen, denen ansonsten an eben dieser Freiheit des Wortes und der Kunst, des Gedankens und des Tusche- oder Bleistiftstrichs im Auftrag der Satire weniger als nichts gelegen ist? Typen, die Blätter wie „Charlie Hebdo“ am liebsten grundsätzlich verbäten (und dann, weitgehend unkritisiert, noch ungehinderter denen im Sinne der Profit-Mehrung in den feisten Arsch kröchen, die sich keinen Deut um irgendwelche Menschenrechte kümmerten? (Ja, sich gegebenenfalls beschwert hätten und zutiefst beleidigt zum Kadi gelaufen wären, wenn sie in – ihrer Meinung nach – unziemlicher Weise vorgekommen wären in dem recht rigorosen Blatt.)
Jaja, der ehemalige Dominikaner-Pater Eustach wusste, wie der Hase lief. Und, wenn er sonst auch dazu neigte, leicht wirr zu sein (was dem ehemalige Gottesmann auch recht gut gelang), fehlte ihm nach den jetzt aktuell gewonnenen Einsichten einzig allein noch ein tragfähiges Konzept, um alles für sein politisches Programm unter Dach und Fach zu bringen; alles nämlich, was er für sich und seine Intentionen benötigte. Mehr nicht.
Doch da er bis dato partout kein Konzept finden hatte können, so fieberhaft er immer noch stöberte und so akribisch er auch suchte, war er immerhin vor einiger Zeit schon auf seinen Hias verfallen. (Freilich nicht in dem Sinn, als dass er an Matthias Hummelstreu etwas gefunden hätte – weder körperlich [um Himmelswillen, nein!] noch geistig.) Nein, der Hias sollte ihm bloß als Medium nach außen hin dienen: als genial-redegewandter Vermittler zur Dummheit der Welt hin – eben an diese Welt.
Als eloquenten, rhetorisch glänzenden Außenposten brauchte er den Hias; als einen, auf den die blöde Plebs gleich reihenweise hineinfallen würde. Die abgrundtief unbedarften „Unzufriedenen“ des idiotischen Bruno Frummbiegel gaben doch schon das beste Beispiel dafür ab, wie das laufen könnte! (O ja, Eustach, der abgefallene Dominikaner, war nicht nur abgefeimt, sondern auch noch arrogant …)
Der Hias, dieser zwar nicht immer pflegeleichte, besonders in Phasen des intensiven Saufens sogar ziemlich unberechenbare Bursche, dieser, alles in allem, unsichere Kantonist, er sollte ihm, Eustach, helfen, das Imaginäre greifbar zu machen und das Unbeschreibbare zu konturieren. Denn dieser Hias hatte zwar auch keinerlei Inhalte (geschweige denn Visionen und Missionen) zur Hand; doch dieser meist gutmütige Dolm mit seinem ergrauenden Rotschopf verfügte über etwas geradezu Köstliches, nämlich über die Macht des Wortes! Und warum das? Weil ihm die Kraft der Rede innewohnte!
Und außerdem: Nur dieser Hias (wenn überhaupt wer) konnte für ihn, für Eustach, der Garant dafür sein, dass die „Unzufriedenen“ ja auch brav unzufrieden blieben und sich, sozusagen, weltweit vermehrten. Und sie würden unter Garantie unzufrieden bleiben: Gab er ihnen effektiv doch nichts … Sie sollten hungrig bleiben. Wie die wilden Tiere vor ihren Auftritten im Circus Maximus im alten Rom, wenn es etwa ans Verspeisen der ersten Christen ging.
Ja, doch, unzufrieden brauchte er sie, die „Unzufriedenen“, der Ex-Pater Eustach. Denn mit Zufriedenen konnte man in der Politik (und im Zirkus) nichts anfangen.
Das wusste sogar der schusselige Eustach.
Also unterstützte Ex-Pater Eustach in jeglicher Art und Weise seinen Hias und versuchte, den zwischendurch auch nicht selten Widerborstigen bei Laune zu halten. (Hätte er, später dann einmal, alles erreicht, wovon er [zugegeben, immer noch ziemlich diffus] träumte, dann würde er sich wahrscheinlich auch Hiasens entledigen. Vielleicht sollte er ihn dann den „Unzufriedenen“ zum Fraß im Kolosseum vorwerfen? Wir wollen einmal sehen …)
Matthias Hummelstreu wiederum machte weiterhin ohne Murren und mit immer noch ständig zunehmendem Erfolg seine rhetorischen Übungen, oblag dem Sprechtraining und der so wichtigen Atemgymnastik. Der Hias, alsbald dann Spitzenkandidat, vertiefte sich nach wie vor in die Lektionen des Kieselstein- und Brandungs-bewährten Demosthenes und nahm sich immer aufs Neu ein Beispiel ums andere am glanzvollen Cicero, von dessen einschlägigen Werken er inzwischen sogar (mit viel Mühe) Übersetzungen zu lesen versucht hatte.
Ja, der Hias hatte sein Ziel, je näher er ihm zu kommen schien, umso deutlicher vor Augen.
Er spürte sie manchmal sogar schon an seinen Körper liegen, die Toga candida des Anwärters für ein hohes politisches Amt, wie sie im antiken Rom zu Ciceros Zeiten üblich war. Eine weiße Toga, während heute schon weiße Westen kaum mehr zu haben waren …
Er arbeitete sich, gleich einem Spitzenathleten, förmlich ab an seinen Idolen; auch wenn er nach wie vor nicht allzu viel mitbekam von den Redeinhalten, weder von denen des berühmten attischen Anwalts und Staatsmannes, noch von denen seines brillanten römischen Nachfahren. Und schon gar nicht von denen, die ihm der abgefallene Dominikaner-Pater Eustach (via Sekretär Eugen Musenlohn) immer wieder vorlegte.
Eustach und Musenlohn freilich jubelten dem Redner diverse (meist hanebüchene) politische Parolen der „Unzufriedenen“ unter und andere grenzwertige Denk-Module, wie sie großteils auf Eustachs eigenem Mist gewachsen waren. Dabei verstanden es der abgesprungene Dominikaner wie auch Mag. Musenlohn durchaus geschickt, den in politischen Dingen immer noch weitestgehend blauäugigen Redner (auch wenn, wie wir wissen, seine Augen ja laut der samt Töchterchen Cornelia so unglücklich aus der Welt geschiedenen Ernestine Gerngross ins Honigfarbene spielten) langsam aber sicher auf ihre Denkschiene zu hieven.
Da der ja auch nicht bloß aus Zeitvertreib zum Atheisten gewordene haarlose Ex-Dominikaner bei Gott nichts von hierarchischen Systemen hielt (ein gebranntes Kind scheute eben das Feuer …), ergaben sich für ihn, der – in Anlehnung an Aristoteles und Machiavelli – die Staatsformen miteinander verglich, keine besonders rosigen Aussichten. Nein, für Eustach kamen weder Absolutismus, also Monarchie, die Herrschaft der Könige und Kaiser, noch die Oligarchie und ähnliche Abartigkeiten in Frage; genauso aber nicht der Kommunismus und der Sozialismus, nicht einmal als politische Denkmodelle. Der skurrile Ex-Pater bekannte sich – zumindest im Sinne des geringsten Übels oder der kleinsten Malaise von allen – ja doch zur Demokratie. Oder besser: zur Schein-Demokratie. Denn dass irgendwo und irgendwann das Volk tatsächlich selbst regieren würde, hielt er für ein Märchen. (Außerdem – was gäbe es wohl dann erst zu befürchten? Was brächte sie, bitte, die Regierung der total Unbedarften?)
Auch Eustachs Überlegungen zu Herrschaftssystemen, Menschenrechten et cetera schienen allerdings (zumindest mitunter) durchaus lichten Momenten entsprungen zu sein. Er war den Gründen auf der Spur, warum die antiken Großreiche aber auch neuere sogenannte Supermächte untergehen hatten müssen (oder in Gefahr kamen, dass ihnen bald einmal Ähnliches passierte). Er las auch diverse Fachliteratur und schärfte seine Beobachtungsgabe.
Es war also, so schloss er, zumeist – abgesehen vielleicht von reiner Inkompetenz und Dummheit – die eigene Hybris, die nicht nur dem weiteren Machtstreben, sondern auch gleich den Reichen und Nationen selbst, um die es ging, den Garaus machte.
Da hielten es die Herrscher (oder Präsidenten, wie auch immer) im Sinne des politischen Philosophen Niccolò Machiavellis aus Florenz nicht allzu sehr mit der Wahrheit und gelangten durch weitestgehend unlautere Methoden an die Macht; die sie später dann mit Gewalt und Schlauheit zu halten und zu stützen versuchten.
Oder aber verstiegen sich die Machthaber zu immer intensiverer Ausbeutung der Ressourcen, scherten sich nicht um erneuerbare Energien, verließen sich also ausschließlich auf extraktive Institutionen und fürchteten die schöpferische Zerstörung, die indes am Beginn jeglichen Fortschritts stehen musste.
Eustach hätte sich bei Diskussionen über diese interessanten Thesen, wäre das Gespäch dann darauf gekommen, auf die namhaften Wirtschaftswissenschaftler Daron Acemoglu und James A. Robinson, („Warum Nationen scheitern“, Frankfurt am Main ²2014) berufen.
Und Redner Hias plapperte brav alles nach, was ihm der gewesene Pater vorsetzte. Zudem reichte das Niveau der Dispute, Versammlungen und Veranstaltungen im Rahmen der Aktivitäten der „Unzufriedenen“ ohnedies kaum so weit …
Hier soll ein Gedanke eingeschoben werden, den der US-amerikanische Schriftsteller (Essayist und vor allem Lyriker) russischer Abstammung, Joseph Brodsky, in seiner überaus beachtlichen Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahr 1987 äußerte. Brodsky stellt die These auf, die Ästhetik sei vor der Ethik da gewesen; und folglich sei etwa gefestigter literarischer oder sonstiger künstlerischer Geschmack „zwar keine Garantie, aber doch eine wirksame Verteidigung gegen jede Form der [politischen] Versklavung“. Brodsky weiter: „Ein Mensch mit sicherem Geschmack, besonders in Fragen der Literatur, ist nämlich weniger anfällig für die primitiven Refrains und rhythmischen Beschwörungsformeln, die jeder Art von politischer Demagogie eigen sind.“ (Joseph Brodsky, „Der sterbliche Dichter“, Frankfurt am Main 2000.)
Nun, diesem Gedankengang, der sich übrigens durchaus gut anfühlt, folgend, muss man annehmen, dass Adolf Hitlers übles pseudo-literarisches Machwerk „Mein Kampf“ (1925, 1927) trotz Millionenauflage in Wahrheit kaum gelesen wurde. (Oder aber, dass die Bildung der Leser einfach arg zu wünschen übrig ließ.) Wie hätten sich – in Deutschland wie auch in Österreich – ansonsten wohl Vertreter des gern zitierten Volkes der Dichter und Denker (freilich auch:) der Musiker und Maler derart blenden lassen können? Dort, wo ein Johann Wolfgang von Goethe geschrieben und ein Friedrich Schiller formuliert, wo Wolfgang Amadé Mozart, Ludwig van Beethoven und Johan Strauß (Vater, Sohn und Co.) tongesetzt und Albrecht Dürer wie Daniel Caspar Friedrich gepinselt hatten? War das auf einmal die Heimat (geworden) von lauter Idioten? Oder, als Alternative: Das Malefiz-Vademecum des Führers zierte bloß in mehr oder weniger luxuriöser Ausstattung das Bücherbrett (oder die glanzvolle Bibliothek) der Bürgerschaft, das sie in trauriger Wahrheit längst schon als Brett vorm Kopf trug?!
Den Matthias Hummelstreu aus St. Laurenzen, diesem Dorado der Rothaarigen, freilich schissen solche Gedanken überhaupt nichts. Er machte zwar nach außen, redefreudig und längst ein Meister der Überredung, brav mit und knallte die Wortkaskaden des Ex-Paters Eustach seinem in den meisten Fällen dumpf-trotteligen Publikum vor den Latz; in Wahrheit suchte er nach anderen Weisheiten und vor allem nach der Lösung seines familiären Problems.
Sein Woher-komme-ich stand, ihm zumeist gar nicht bewusst, sondern tief in ihm drinnen verankert, fast unmerkbar und intellektuell (selbst wenn Hias gescheiter gewesen wäre und quasi tatsächlich ein Intellektueller) kaum zu orten, über allem anderen. Ja, das, was er da vor den „Unzufriedenen“ und denen, die es vielleicht noch werden wollten, so hin-bramarbasierte, hatte sich in Form gut eingelernter Worthülsen längst schon verselbständigt. Es klang, als ob er es total verinnerlicht hätte. Doch dort, in seinem Inneren, dort war naturgemäß kein Platz mehr für solches stgehend unbedeutendes politisches Gedankengeröll.
Die Frage nach seiner Abstammung dominierte, längst zur fixen Idee geworden, einfach alles.
Und so kam es: Der Hias tat zwar nach außen in perfekter Weise beim Zirkus mit, den der Ex-Dominikaner Eustach stets aufs Neue inszenierte; innerlich ging ihm das alles jedoch mehr oder weniger am Arsch vorbei. Ja, für ihn gab es eigentlich ausschließlich nur mehr eine Sache, die ihn bewegte und um die sich alles drehte: Er wollte endlich herausfinden, wer denn nun tatsächlich sein Vater gewesen war, dort, in diesem vergammelten St. Laurenzen, wo alle rote Haare hatten – wie er; dort, wo Selbstgefälligkeit und seelische Trägheit vorherrschten; dort, wo sich jeder bloß Gedanken über sich selbst und den eigenen Vorteil machte.
O! Er hasste St. Laurenzen. Seinen Vater. Seine Mutter? Nein, die nicht! Aber: sich selbst.
Was? Der Hias hasst St. Laurenzen?! –
Der Hias ist doch einer von uns gewesen! Oder vielleicht nicht?! –
Immer! –
Der Hias? Also, so ein undankbarer Bursche! –
Genau!
Fortsetzung folgt!
Es bleibt dabei: Pater semper incertus est
Wie die Mutter immer als erwiesen gelte, in gleicher Weise, hieß es im Römischen Recht, auf altem juristischen Brauch fußend und konsequent, dass allerdings der Vater immer unsicher sei. Und den uralten Rechtsgrundsatz – mater semper certa est, pater semper incerus est – vermochten nicht einmal die völlig neuen gesellschaftlichen Situationen zu erschüttern, wie sie durch die enormen medizinischen Errungenschaften wie Fremdbefruchtung, Leihmutterschaft oder In-Vitro-Fertilisation plötzlich gegeben waren. (Auch die Frage, ob gleichgeschlechtliche Paare Kinder adoptieren durften oder nicht, spielte keine nennenswerte Rolle bei der Vaterschafts-Sicherheit beziehungsweise -Unsicherheit.)
Der lateinische Rechtsspruch geht zwar noch weiter, und wenn man konsequent googelt, findet man das natürlich schnell heraus. Es heißt dann, Rechtssicherheit bringend für das wie auch immer gezeugte und ausgetragene Kind (früher für das eheliche im Gegensatz zum un- oder außerehelichen): Pater est, quem nuptiae demonstrat; dass den Vater somit die Heirat (mit der Kindesmutter) und die offizielle Anerkennung des Kindes als das seine juridisch zum Vater mache.
Das alles war durchaus dazu angetan gewesen, den Hias, jetzt, wo er sukzessive und zielgerichtet in Erasmus Pfloch-Bingens altem Buch über „Römisches Recht“ (Band sechs) nachgelesen hatte, in seinem weiteren Tun zu beeinflussen. Man könnte sagen: gewaltig zu beeinflussen. Aus dem unscheinbaren, mehr oder minder unauffälligen (sah man von seinen etwas abartigen Auftritten im Suff einmal ab; doch da hielt er sich in letzter Zeit erstaunlicherweise sehr zurück), aus dem durchschnittlichen Mittvierziger mit den ergrauenden roten Haaren, dem gewesen Mesner, Totengräber und meist recht verlässlichen Mann fürs Grobe in St. Laurenzen, war, ausgehend vom gut trainierten Rhetor, dem durchwegs überzeugenden Redner, sukzessive der Politiker geworden. Einer, der vor Überzeugungskraft nur so strotzte; auch wenn er weiterhin noch immer nicht genau wusste, worum es in seinen Tiraden-reichen Sermones ging … Gereift, wie es sein stets ein wenig magenkrank wirkender Sekretär, Mag. Eugen Musenlohn, merkbar einer aus Pater Eustachs engstem Gefolge, so schön ausdrückte.
Auf Musenlohn und den tüchtigen Chauffeur, den dunkel umwölkten, nie zu einem Scherz (eigentlich, wenn man es recht bedachte: überhaupt zu keinem überflüssigen Wort) aufgelegten Markus Kleinfett, konnte er sich verlassen; das wusste Hias. Natürlich auch auf auf den gewesenen Dominikaner-Pater Eustach; auch wenn der, besonders in letzter Zeit, irgendwie verändert schien: ohne das gewohnte maliziöse Grinsen, mehr verinnerlicht und spitz.
Bruno Frummbiegel und seinen desolaten „Unzufriedenen“ traute Hias allerdings weiterhin nicht so recht über den Weg. Er hielt den frustrierten Langzeitarbeitslosen und sein großteils eher übles Gesindel summa summarum für belastend. (Doch der Ex-Dominikaner Eustach bestand ausdrücklich auf der weiteren Zusammenarbeit mit dem in Hiasens Augen total unnötigen Gesockse; und der gewesen Pater ließ in diesem Punkt keinerlei Widerrede gelten.)
Aber Musenlohn und Kleinfett, die waren, wie gesagt, schon in Ordnung.
Überhaupt der Chauffeur Markus Kleinfett: ein verlässlicher Bursche; auf den ersten Blick vielleicht ein wenig irritierend. Mit seinen fast schwarzen Augen. Nur war Hias an ihm in letzter Zeit so ein fatalistischer Zug um eben diese dunklen, fast schwarzen Augen aufgefallen. Trauer? Oder – Bestimmtheit? Vorbestimmtheit … Fatalismus. Sich in Unvermeidbares schickend. Ja, sein Blick schien wie von Aussichtslosigkeit geprägt. Von Ausweglosigkeit.
Doch – egal. Die Dinge waren wie sie waren. Und er musste den einmal eingeschlagenen Weg der Vatersuche auf alle Fälle weitergehen. Nunmehr als fast schon berühmter Redner und als angehender politischer Hoffnungsträger. (Und das längst nicht nur für die uninteressanten „Unzufriedenen“, auf die lediglich Ex-Pater Eustach so scharf war.)
Übrigens: Was war mit den St. Laurenzenern? Wie sahen die rothaarigen Mitbürger den jähen Aufstieg ihres Hias?
Also, manche beneideten den Matthias Hummelstreu, anderen wiederum war das alles ausgesprochen suspekt … Einige wünschten sich, er grübe ihnen dereinst das Grab, der große Sohn des Dorfes … Andere freilich neideten ihm den Aufstieg und wünschten ihm den möglichst bald zu erfolgenden Fall …
Matthias Hummelstreu selbst hatte längst keine Zeit mehr für Friedhof, Sakristei und alle die kleineren oder größeren Ausbesserungsarbeiten. Er war quasi ein Ex-Totengräber, Ex-Mesner und Ex-Mann fürs Grobe. Der Hias war Redner und auf dem Weg zum Spitzenpolitiker. Der Hias war mitten drin in seiner neuen Karriere.
Ähnlich einem seiner Idole, Demosthenes, der durch Fleiß und Training vom zunächst unüberwindbar scheinenden Sprachfehler geheilt und zum phonetischen Genie aufgestiegen war und durch Disziplin wie Askesis gestählt, schließlich seinen ersten Prozess in eigener Sache gegen die Erbschleicher nach dem Tod des Vaters führte, so ging es auch dem Hias, das kristallisierte sich immer klarer heraus, um seine höchstpersönlichen Gegebenheiten.
Allein schon dadurch bewies er sich als Politiker durch und durch; und glich sich seinen glanzvollen Vorbildern weitestgehend an. Neben besagtem Demosthenes ist da immer wieder Marcus Tullius Cicero zu nennen. Cicero!
Und der Hias verstand es alsbald, wie die beiden Rede-Genies aus der Antike, die Leute glauben zu machen, er vertrete ihre Angelegenheiten; obschon es ihm Wahrheit ausschließlich um seinen Vorteil ging. Oder besser gesagt: um sein brennendstes Anliegen, nämlich endlich Licht in die Ungewissheit seiner Abstammung zu bringen.
Wer war sein Vater? Ja, diese bohrende Frage bewegte ihn.
Auch jetzt, wo er sich der beginnenden Karriere zuliebe sogar das Trinken mehr oder minder total abgewöhnt hatte. Oder vielleicht gerade deshalb umso mehr.
Wie auch immer – er musste endlich Bescheid wissen. Er musste herausfinden, was herauszufinden von Anfang an Sinn und Zweck der ganzen Übung gewesen war. Deshalb hatte Matthias Hummelstreu gebüffelt in den (für ihn) in Wahrheit ja weitestgehend uninteressanten Büchern; und deshalb hatte er posiert vor dem halbblinden Spiegel, bis er sein Gesicht schon gar nicht mehr sehen konnte vor Überdruss, ohne dass ihn gleich Übelkeit übermannt hätte.
Er musste es endlich wissen: Wer war sein Zeuger gewesen?
War es der Pfarrer Anton Pfundsberger (damals ein ansehnlicher, junger rotlockiger Seelsorger mit allerhand Anwert bei den Frauen und Mädchen, egal ob bei den Mai-Andachten, bei den innigen Rosenkranz-Stunden oder beim vorweihnachtlichen Zusammensitzen bei duftenden Bratäpfeln, Gugelhupf, Tee und Gebeten. Erbaulich immer, jedenfalls)? Oder: War es der Alois Knackinger, meist gefürchteter Bürgermeister, bulliger Metzger und geschäftstüchtiger Wirt „Zum roten Fuchsschwanz“ (damals ein junger Mensch, aber bereits ohne jeden Charakter)? Oder: War es vielleicht doch dessen ewiger Rivale, der spätere Busunternehmer und Oppositionspolitiker Georg Peintinger (ein Filou, nicht weniger nichtsnutzig als sein Kontrahent)? Oder : War es am Ende jemand ganz anderer? Aber – wer?!
Zur selben Zeit, da sich der Hias wieder einmal diese Frage stellte (denn so berühmt er inzwischen auch geworden war als Redner, Volkstribun und Massenverführer, mit einer unübersehbaren Fan-Schar, mit Bodyguards und einem bestens funktionierenden Stab [denken wir nur an Pater Eustach, Mag. Eugen Musenlohn und den Fahrer Markus Kleinfett!] um sich), saßen ein paar der sogenannten Honoratioren von St. Laurenzen im Dunkel einer etwas abgelegenen Scheune und hielten ein eiligst einberufenes Femegericht ab.
Diese großteils alles andere denn ehrenwerte Männerrunde wollte im Grund nichts anderes, als den Tod des verhassten Matthias Hummelstreu in die Wege leiten.
Wann sollte er sterben? – Am besten sofort. – Zumindest aber, bevor der Hias, nunmehr in Maßen schon bekannt als begnadeter Redner und kommender Polit-Star, noch alle möglichen Stimmenzuwächse zu verzeichnen hätte. Denn einen Märtyrer wollte man in St. Laurenzen aus dem lästigen Matthias Hummelstreu ganz sicher nicht machen!
Es war naturgemäß eine unlautere, weil abgekartete Sache: Das Ende war vorauszusehen, die Entscheidung nicht einmal mehr eine Formsache. Der Hias musste die Zeche zahlen, um im Wirts-Jargon des Alois Knackinger zu sprechen. Er musste nun brav und möglichst widerspruchslos die Suppe auslöffeln, die andere für ihn eingebrockt hatten …
Deshalb ging es darum, dem grausigen Unterfangen einen quasi Rechts-konformen Anstrich zu geben; und deshalb hatte man auch ein paar Jüngere dazu geladen, etwa den Lehrer und Organisten Thomas Stadlwander, den rothaarigen Schwiegersohn in spe des Bürgermeisters. Und auch den Felix Gerngross, einen – wie der Zufall so spielt – ebenfalls unehelichen Sohn, in diesem Fall aber der roten Veronika und daher Neffen der unglücklichen Ernestine Gerngross (sie hatte sich bekanntlich damals aus Liebesleid um den Hias umgebracht).
Außerdem war da noch der alte Medizinalrat Dr. Isidor Krautwaschl anwesend – oder auch schon mehr abwesend, wie es aussah, schwerhörig und leicht dement. Ach ja, auch der Filialleiter der Raiffeisen-Bank, der übereifrige Edi Birnstingl, war da; aber der tat, wie gewöhnlich, ohnehin bloß das, was der Bürgermeister Knackinger anschaffte – und trug weiter nichts Wesentliches zur Sache bei.
Diese quasi Außenstehenden (um nicht zu sagen Neutralen), die sollten helfen, der ganzen verstunkenen und hinterhältigen Aktion so etwas wie Legitimität zu verschaffen.
Man nahm sich wichtig. Gerade dass die Versammelten nicht schwarze Mönchskutten mit dazu passende Kapuzen trugen oder sich die weitgehend unsympathischen Gesichter schwarz beschmiert hatten. (Oder das Ganze in Weiß gehalten, wie beim Ku-Klux-Klan.)
Vielleicht hätte man, um ganz stilecht zu wirken, zuletzt schwarze und weiße Kugeln in ein entsprechendes Behältnis werfen sollen und dann – blind ziehen … Et cetera.
KNACKINGER (hinterhältig): Er gehört weg! Das steht einmal fest! Weg!
PFUNDSBERGER (um Mäßigung bemüht): Na, na, na! Versündig‘ dich nicht, Bürgermeister! Und wenn er am End‘ doch dein Sohn ist, der Matthias?!
PEINTINGER (aufbrausend): Dann gehört er doppelt weg! Noch ein Knackinger – das hält St. Laurenzen nie und nimmer nicht aus! Noch dazu: Jetzt, wo er in die Politikgegangen ist, dieser Scheißkerl! In die Politik –
STADLWANDER (devot, wie man sich einen weltfremden Junglehrer und Organisten vorstellt): Meine Herren! Ich kann Ihre Aufregung ja durchaus verstehen! Aber –
KNACKINGER: Gar nichts kannst du, Stadlwander! Du bist doch nur ein kleiner Lehrer und Organist! Abhängig von uns bist du, hörst? Abhängig! Und du machst gefälligst, was man dir schafft! Hast das verstanden, Thomas?!
STADLWANDER (schweigt kleinlaut): – – –
GERNGROSS (fast rechtschaffen, jedenfalls aufgebracht): Leute! Leute! Hier geht es um – Mord! Ja, um Mord! Wir sollen, sagt der Knackinger, wir sollen den Hias umbringen! Umbringen! Ich meine, was kann denn der Hias dafür, dass einer von Euch damals sein Hosentürl nicht im Zaum gehalten hat?! Wer immer auch –
KNACKINGER: Ah, der Herr Gerngross, unser Frührentner … Ja, da schau‘ ich aber! Hör‘ einmal zu, Felix: Hat sich deine Tante Ernestine nicht umgebracht damals? Umgebracht wegen dem Filou?! (Er wird theatralisch) Ist sie nicht ins Wasser gegangen, die Ernestine? Und die kleine Cornelia, ihre Tochter, die hat sie gleich mitgenommen! Hinein mitgenommen mit sich … in die Fluten …! Anfang der 1980er Jahre war es –
GERNGROSS: 1983, genau! Aber, du, Bürgermeister, lass‘ bitte meine Tante Ernestine selig aus dem Spiel! Traurig genug ist das alles – auch ohne zusätzlichen Mord! Außerdem –
KNACKINGER: Ah was! Felix, ich sag’s dir: Du bist ein Hosenscheißer! – Herrschaften, also, wie machen wir weiter?
PFUNDSBERGER (Am Verzweifeln): Hört’s doch zu, Leute! Ich als Euer Pfarrer –
PEINTINGER: Aha, Hochwürden will auch mitreden mit den – Männern …! Sei froh, Anton, dass es den Zölibat gibt!-
KNACKINGER: Ja, Kollege Peintinger, da muss ich dir ausnahmsweise einmal zustimmen! Dieser Kelch geht am Hosentor vom Pfarrer vorbei … Hahaha!
PEINTINGER (hinterlistig): Bist dir da so sicher …?!
PFUNDSBERGER (nervös, in die Enge getrieben): Herrschaften! Bleiben wir sachlich! Ich kann nie und nimmer zulassen, dass –
Da detonierte die Bombe.
Hias, zu diesem Zeitpunkt gerade auf der Fahrt zu einer Wahlveranstaltung, erfuhr kurz danach von einem Mitarbeiter per Mobiltelefon davon.
Er nickte in einer Mischung aus Teilnahme und Befriedigung. Schon sehr Politiker-typisch. Ex-Pater Eustach, der seinerseits auf seinem Apparat mitgehört hatte (die Geräte waren längst mit einander gekoppelt), lächelte verschlagen, ja, direkt – mephistophelisch.
Kurz darauf krachte der dicke schwarze Mercedes mit gut 130 Stundenkilometern Geschwindigkeit in die Tunneleinfahrt aus Beton. Hias, der Ex-Dominikaner, außerdem der stets ein wenig säuerlich dreinblickende Sekretär Mag. Eugen Musenlohn und der Fahrer Markus Kleinfett, alle vier Männer also, dürften auf der Stelle tot gewesen sein; das würden zumindest die späteren Untersuchungen ergeben. Doch spielte das keine wesentliche Rolle, da fast gleichzeitig noch eine Autobombe explodierte. Das Wrack brannte in der Folge völlig aus.
„Es glich“, wie später ein grenz-genialer Journalist blumig formulieren würde, „den zu Dreck und Asche gewordenen Höhenflügen eines politischen Ausnahmetalents und den im Nu zum Nichts verglosenden Hoffnungen nicht nur der ,Unzufriedenen‘.“
So zerstiebt oft in alle Winde, was sich länger schon für die einen, Unheil dräuend, zu beängstigend dunklem Gewölk aufgebauscht und eine Art weltanschaulicher Hölle dargestellt hat. Für andere wiederum, etwa für die Partei der „Unzufriedenen“, mochte es, eine Zeit lang zumindest, ganz im Gegenteil dazu als so etwas wie ein Glücksversprechen erschienen sein: die politische Sonne symbolisierend und die schier unfassbare, bald schon hereinbrechende, alles umfassende Helle prophezeiend. Aufbruch und Morgenröte …
Jedenfalls, so oder so: Im Nu ist es weg, und bald schon denkt niemand mehr daran.
So ist es dann auch mit Matthias Hummelstreu gewesen, den sie alle in St. Laurenzen den Hias genannt hatten. Wohl auch den hilfsbereiten Hias. Oder den dummen Hias. Egal.
Ein paar Leute waren zu Tode gekommen.
Ein paar Illusionen waren zerplatzt wie Seifenblasen oder Luftballons.
Dann werden auch die Erinnerungen blass; bis sie schließlich ganz verschwinden, die Gedanken wie die Personen, von denen sie ausgegangen sind beziehungsweise um die sie sich gedreht haben; wie ein in die Landschaft eines Kulissen-Tivoli gemaltes Geister-Karussell; imaginärer Vergnügungsort der ebenfalls gemalten Gerippe und Gespenster …
Wohin die echten Protagonisten wohl tatsächlich gekommen sein mögen?
Wie heißt es so richtig im „Struwwelpeter“ (in der „Geschichte vom fliegenden Robert“):
„Wo der Wind sie hingetragen, / Ja, das weiß kein Mensch zu sagen.“
Es ertönt kein Chor mehr, ein wenig altgriechischer Provenienz. Nein.
Dafür kräuselt der neue Pfarrer, ein junger Priester aus Uganda, die aufgeworfenen Lippen. „Hm, hm. Jaja …“ Doch mehr äußert auch er nicht.
Vorsichtshalber.
E N D E
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Martin Staudinger, Sie werden nicht gewinnen. In: Profil. Das unabhängige Nachrichtenmagazin Österreichs. Nr. 4, 46. Jg., 19. Jänner 2015.
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