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und was jetzt?
Eine kuriose
Erzählung
(fast ein Fragment)
von
Bernd Schmidt
© by Bernd Schmidt, Graz 2014 ff.
(ENDFASSUNG 2016.)
Da geschah es, dass die Bergleute, als sie zwischen
zwei Schachten einen Durchschlag versuchten, in
einer Teufe von dreihundert Ellen im Vitriolwasser
den Leichnam eines jungen Bergmanns fanden,
der versteinert schien, als sie ihn zutage förderten.
E. T. A. Hoffmann, Die Bergwerke zu Falun
*
Ein verbitterter alter Mann oder ein alter
verbitterter Mann. Das erste ein Klischee,
das zweite eine Mitteilung.
Martin Walser, Ein sterbender Mann
*
120
Das Leben. Ja, die Sachen mit dem Fortpflanzen und mit dem Sterben, so ganz im Allgemeinen, die funktionierten doch so weit ganz gut, oder?! Hatten sich zumindest einigermaßen bewährt die ganze Zeit hindurch. Danke schön. Auch die Dinge zwischen Geburt und (bevorstehendem) Tod, das Fressen, Saufen und Ficken; die Illusionen und nicht zuletzt: die Träume. Aber auch die Realität – und die Realitäten. Sogar die deprimierenden beruflichen Rückschläge und die ach so hoffnungsvollen Neubeginne. Danke, wie gesagt.
Doch jetzt? Jetzt war er also 120, und dabei (wenn er nicht irrte:) so weit sogar geistig noch vorhanden und auch körperlich einigermaßen fit (den Umständen entsprechend).
Also, was jetzt?
Als großer Tierfreund, schon von Kindesbeinen an, hatte er schätzungsweise mehr als zwölf Hunde, acht Katzen und circa 40 Wellensittiche überlebt, zwei Dutzend Goldfische, siebenundzwanzig Meerschweinchen und sogar eine Schildkröte.
Als Frauenfreund war der mehrmals Verheiratete drei Mal geschieden und zweimal zum Witwer geworden. Über die Zahl seiner Amouren gab es glücklicherweise keine detaillierten Aufzeichnungen, und auch die Bordellbesuche lagen numerisch im Dunkeln. (Dort wollen wir übrigens auch die von ihm im Laufe der Zeit verzehrten Berge an Fleisch, Gemüse und Ballaststoffen, die versoffenen Mengen an Bier, Wein, Sekt und Schnaps sowie seine Verdauungsleistungen und die Gesamtmenge seiner Ausscheidungen belassen.)
Jetzt war er 120. Also, was jetzt?
Fünf Hausärzte und eine Hausärztin hatte er überlebt, dazu eine Handvoll Apotheker. Sein zweiter Urologe war übrigens an dem selben Typ Krebs gestorben, den er überstanden hatte – vor fast 70 Jahren. Seine Leber? War die zweite, das gute Stück, seit 40 Jahren schon; eine Niere und einen Lungenflügel hatte man ihm vor 50 beziehungsweise 55 Jahren ausgetauscht. Ach, ja: Seine Dritten, das waren jetzt schon die fünften Dritten. Außerdem: die Kniescheibe aus Edelstahl mit 75 und das rechte Auge – oder doch das linke?!
Also, wie gesagt: 120. Aber – was jetzt?
Das Alter. Man tat so, als wäre es eine Ehre, alt zu werden. Oder gar ein Geschenk.
Doch das Altwerden (und das Altsein), das hatte naturgemäß mit Zeit zu tun.
Das eigentlich Bestürzende an der Zeit, dachte er, ist nicht, dass sie vergeht; sondern, dass sie bereits vergangen ist.
„Es ist jetzt elfeinhalb Minuten nach ein Viertel vor sieben Uhr“, verkündete der Radiowecker hämisch. Ihm schauderte. Vor dem neuen Tag, hier, im Seniorenheim, der wie der alte sein würde, hier, im Seniorenheim. Ihm schauderte. Vor sich; vor den anderen allen; vor der Zeit.
Allein, die Meldung, wie spät es sei – ein billiger Service, in sogenannte klassische Musik eingewickelt und als liebenswürdig-fürsorgliche Zuwendung des Radiosenders getarnt -, machte ihn beklommen. Und er dachte grimmig: Leute, auf diese Weise der vorgeblichen Zeitansage kann man der Zeit weder auf die Sprünge helfen (wenn das überhaupt nötig wäre), noch sie beschleunigen, sie verlangsamen oder gar außer Kraft setzen. Leider.
Denn solche irritierende Angaben, die an die lästige Notation von Beginnzeiten der Kinovorstellungen in den Tageszeitungen seiner mittleren Jahre erinnerten – ½3, ½5, ½7, ½9 -, halfen niemandem in seiner Temporär-Verwirrung. Nein. Und schon gar nicht aus ihr heraus …
Der Zeit war das egal. Das wusste er.
Freilich hätte es auch keinen Sinn gehabt und wäre kaum von Nutzen gewesen, wenn er jetzt versuchte, die morschen Knochen nochmals zur Wand hin zu wenden und, unterstützt von Mozart, Boccherini und Rachmaninow, an irgendeinen der abstrusen Träume anzuschließen, die ihn, wie üblich, weniger ergötzt als beunruhigt hatten. Wenn er sich überhaupt an sie erinnern konnte … Außerdem: Wozu sollte es ihm dienen, erneut 20, 25 oder 40 Jahre alt zu sein – im Traum? Und beim Aufwachen brave 120 – echt?!
Doch auch traumlos noch eine Runde zu schlafen, brächte ihm keinen Nutzen. Nein.
Er musste sich in sein Schicksal fügen; im Grund genommen: wie alle circa 43.100 Tage seines Lebens, bisher.
Er war nun einmal 120.
Da stand auch schon die Blasmusikkapelle (teilweise im Zimmer, teilweise auf dem Gang draußen) und intonierte recht wacker: Ich hatt‘ einen Kameraden. (Nein, das natürlich nicht; sondern: Happy Birthday To You! Happy Birthday … Mit vom Spiel dicken Backen und munterem Tschinellenklang.)
Und er? Er musste so tun, als fiele er aus allen Wolken.
Für später hatte sich zu allem Überfluss auch noch der schnöselige Bürgermeister angesagt. Oder sein – vermutlich nicht minder schnöseliger – Vertreter. Es war, wenn er es, anhand seiner innerlichen Statistik, überflog, auch schon das 14. Stadtoberhaupt seit seiner Geburt … (Einer hatte, nach einer total verklopften Gemeinderatswahl, eine Legislaturperiode pausieren müssen und war dann jedoch erneut inthronisiert worden; ramponiert zwar und keineswegs wiedererstanden wie Phönix aus der Asche, aber immerhin; ein anderer verunglückte, entgegenkommender Weise, im Amt tödlich; ein dritter fiel einer Sexaffäre beziehungsweise deren Öffentlichwerdung zum Opfer. Jaja, so war das politische Geschäft eben einmal.)
Und es würde eine fette Cremetorte geben (die er eigentlich nicht essen durfte; Alters-Diabetes, beschissene Cholesterinwerte) und Sekt. Und einige überflüssige Ansprachen.
Die Zeit reichte ihm ihre dürre Hand. Und er ging mit – in den neuen Tag hinein, der, austauschbar, wie er, ohnehin wieder einer der alten, schon einmal gelebten wäre; oder zumindest täuschend ähnlich solch einem längst abgelegten Exemplar. (Auch wenn er beim ersten Mal naturgemäß jünger gewesen war – er wie der Tag.)
Wenn er Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns Novelle „Die Bergwerke zu Falun“ gekannt hätte, wäre er sich möglicherweise ganz glaubhaft vorgekommen in der Rolle des jungen Bergmanns Elis, der da am festgelegten Termin der Hochzeit mit seiner geliebten Ulla nochmals eingefahren war in die gefährliche Grube, dort zu Tode gekommen und erst Jahrzehnte später vom Berg wieder freigegeben worden ist – als weitgehend unversehrter Toter.
„Es war anzusehen“, heißt es beim genialen Romantiker, „als läge der Jüngling in tiefem Schlaf, so frisch, so wohl erhalten waren die Züge seines Antlitzes, so ohne alle Spur der Verwesung seine zierliche Bergmannskleider, ja selbst die Blumen an der Brust. Alles Volk aus der Nähe sammelte sich um den Jüngling […].“
Dann kommt das alte „Johannismütterchen, wie es jedesmal am Johannistage erschien, in die Tiefe schauend, die Hände ringend, in den wehmütigsten Tönen ächzend und klagend, an der Pinge umherschlich und dann wieder verschwand.“ Doch diesmal erstarrt sie, wirft beide Krücken von sich und streckt die Arme gegen den Himmel, schreiend: „O Elis Fröbom – o mein Elis – mein süßer Bräutigam!“
Es handelt sich, erraten, um die Braut, um Ulla Dahlsjö. Und sie hat ihren Bräutigam, jetzt, fünfzig Jahre nach der geplanten Hochzeit, tatsächlich wiedergefunden (wie es ihr der alte Torbern prophezeit hatte). Tot ist er. Freilich, ihr Elis Fröbom, er ist tot – aber da!
„Die Bergleute traten heran“, schreibt Hoffmann, „sie wollten die arme Ulla aufrichten, aber sie hatte ihr Leben ausgehaucht auf dem Leichnam des erstarrten Bräutigams. Man bemerkte, wie der Körper des Unglücklichen, der fälschlicherweise für versteinert gehalten, in Staub zu zerfallen begann.“
Doch er, der Hundertzwanzig-Jährige, er kannte weder den Elis Fröbom aus E. T. A. Hoffmanns Erzählung „Die Bergwerke zu Falun“, noch diese Ulla. Er wusste nur (und das auch bloß einigermaßen schemenhaft, zugegeben), dass er jetzt 120 Jahre alt war und eine vermutlich anstrengende Geburtstagsfeier vor sich und zu überstehen hatte.
Doch dann kam die Fee, und alles andere um sie herum versank in eine Art Halbdunkel. Die uninteressante Umgebung gefror gleichsam zum Diorama. Zum Tableau der Sinnlosigkeit.
Und die Fee, sie hieß – weil es so gut klingt und irgendwie feeisch: – Alexia, und sie sprach auf die allermildeste Art zu ihm (und in passabler Diktion sowie mit angenehmem Timbre), während Schmetterlinge sie umgaukelten und wahlweise goldene und silberne Sternchen von der Zimmerdecke im Altenheim rieselten: „Such dir, lieber Freund, einen x-beliebigen Tag aus in deinem bisherigen Leben! Und ich gestatte dir, ihn nochmals zu erleben. Er wird sich wieder am Datum seiner Erstabwicklung ereignen; doch du kannst ihn in dem Maß beeinflussen und verändern, wie du das in Wahrheit immer hättest tun können – auch damals schon, als es ihn zum ersten Mal gab. Und wie es sodann weiter gehen soll, liegt ganz bei dir … Vielleicht wird ja diesmal mehr daraus?!“
Dann verschwand die wunderschöne Fee Alexia mit dem angenehmen Timbre, mit den Schmetterlingen, dem Sternenstaub und dem Freezing. Und der Bürgermeister fuhr fort mit seinem idiotischen Schmus, als wäre die ganze Wunschgeschichte erst gar nicht passiert mit Fee und so weiter.
Seltsam, dachte er.
Die Zeit verging. Oder stand kurz still.
Ja, die Zeit.
Wenn er mitunter die Zeit, wie kleine Hunde an langer Leine, vorausschickte, fünf, sechs Meter vor sich her: Dann hätte er sie überwunden, die Zeit, in ihrer Festlegung und Fixierung.
Dann könnte er sie, die jungen verspielt wirkenden Zeithunde, durch leisen Zug an der einen oder anderen Leine zurückholen und ihnen daraufhin erneut etwas Pseudo-Freiheit schenken.
Das machte Spaß. Und wäre die Zeit tatsächlich ein paar kleine Hunde, würde das ohne Zweifel auch ihnen Spaß machen.
Doch so, ohne Zauberleine, muss er sich wohl oder übel darauf verlassen, dass sich die Zeit korrekt verhielte. Nicht angeleint. Eine ernste Instanz für sich.
Fortsetzung folgt!
21. August 1955
11:35 Uhr. Der VW-Käfer jault kurz auf, dann raspelt die (noch nicht synchronisierte) Schaltung des 1952er Modells unwillig, rastet indes zuletzt doch noch ein.
„Ruinier‘ mir bitte nicht mein Schammerl, Fritz!“, ruft dem jungen Bräutigam sein Freund und Brautzeuge Georg halb im Scherz zu, gewandet wie er: dunkel, das lächerliche Brautbüscherl am Revers des (zu diesem festlichen Anlass sogar von seiner Mutter extra gebügelten) schwarz-weiß gestreiften Anzugs. „Kauf dir doch selber einen Wagen – zum Ruinieren!“
„Tu dir nichts an, du mit deinem Schrottgestell …“, mault Fritz, noch immer leicht hinüber vom Polterabend gute zehn Stunden vorher. Denn da haben sie ihn alle ziemlich angewässert, die Herren Freunde. Und der zukünftige Schwiegervater erst, der war der Schlimmste von allen gewesen. „Schau, ich geb‘ dir ja meine Renate“, hatte der Alte gesagt, der mit seinen knapp sechzig Jahren immer noch allerhand vertrug, Donnerwetter! „Ich geb‘ sie dir, lieber Fritz! Aber – schau gut auf das Kind! Pass gut auf sie auf …! Prost!“
„Der Bräutigam darf strenggenommen ohnehin nicht chauffieren“, schaltet sich Rudi aus dem Fond her in das Gespräch ein. Rudi – typisch Polizist … (wenn diesmal auch nicht ganz ohne Restalkoholanteil. Und in dezentem Zivil.)
„Kommt, gehen wir!“, rät Brautzeuge Schorsch. „Es ist so weit.“
Drei angerauchte Zigaretten fliegen im Bogen auf den dreckigen Alsphalt.
Zeitgleich in der Wohnung von Renates Eltern.
Er, heute als Brautvater, daher aus gegebenem Anlass ein wenig stolz, zudem mehr oder weniger glücklicher Schwiegervater des schmächtigen Fritz (den er gestern ziemlich überzeugend unter den Tisch getrunken hat), er, zugegeben: ein wenig übernächtig noch vom Polterabend am Vortag, er raucht seine fünfte Zigarette; natürlich eine gewohnte Dreier. Und er trinkt den dritten Kaffee. En suite.
„Spät ist es geworden“, wirft die schon mächtig aufgetakelte Erfriede (seine zweite Frau) ihm unmissverständlich sein Saufen vor und seinen Rausch, so knapp vor der Hochzeit seiner Tochter. (Gottseidank! Renate ist nicht ihr Kind! Da darf sie ruhig zwischendurch die Stiefmutter ‚raushängen lassen …) „Wie das deine Leber schafft …, Tag für Tag!“, erweitert die merkbar blondgefärbte Fünfzigerin diesmal, in einem Aufwaschen quasi, den gewohnten Katalog der Vorwürfe recht spitz noch um einzelne Organe. „Von deiner armen Lunge einmal ganz zu schweigen! Wie die deine dauernde Raucherei nur aushält …“
„Wenn die Leber hin ist, saufen wir auf der Milz weiter“, kontert er. „Und fürs Beuscherl lass‘ ich mir auch noch was einfallen …“
(Circa zwanzig Jahre später wird ihm eine neue Leber eingesetzt; neu stimmt nicht ganz: Der tote Spender – er soll Navratil geheißen haben – ist zwar erst etwas über dreißig Jahre alt gewesen, bevor ein Alleebaum seine schwere Maschine der Marke Honda, ihn und sein Leben abrupt gestoppt hat; aber weit weniger viel gesoffen dürfte dieser Navratil in der Tat haben, zumindest verglichen mit ihm; weshalb sich sein Spenderorgan, laut Meinung der Ärzte, auch in einem noch durchaus passablem Zustand befinde. Wird außerdem zumindest eine kleine Sensation sein, dann, wenn es so weit ist!)
„Wir müssen“, sagt er und tötet die sechste Austria Drei im Aschenbecher ab.
„Ja“, bestätigt Elfriede knapp.
Bevor sie die nicht eben stilvoll eingerichtete, doch geräumige Wohnung in Richtung Stiegenhaus verlassen, krault er, quasi zum Abschied, noch den Hund, einen semmelfarbenen Cockerspaniel, bei den Ohren. („Sei froh, Gustl, dass du nicht mit musst! Du hast es vergleichsweise gut … Von wegen Hundeleben …!“) Gustl wedelt freudig mit dem Schwanz, weil er glaubt, es ginge nochmals auf die Straße.
Vor dem architektonisch gar nicht einmal so üblen Häuserblock – man bedenke: 1949 auf den Grundmauern eines gründerzeitlichen Baues errichtet, der einem Bombentreffer in den letzten Kriegsmonaten zum Opfer gefallen war – steht schon der am Vortag frisch gewaschene Opel Kapitän mit den verchromten Zierleisten.
„Na, komm!“, sagt er, durch einen kräftigen Schluck Magenbitter, den er noch rasch in der Küche inhaliert hat, aufgemuntert, zu sich und zu Elfriede. Er sieht suchend um sich: Renate? Ach, ja! Renate wird just zur selben Zeit und ein paar Straßenzüge weiter vorne von ihrer Cousine Edeltraut, die Friseuse ist, kosmetisch entsprechend hergerichtet und ins weiße Brautkleid gestopft.
Die Hochzeit verläuft, wie Hochzeiten eben – im Staatsvertragsjahr in Österreich – zu verlaufen pflegen. Am Standesamt im Rathaus geht es förmlich zu, auch wenn der blinde Organist recht treffsicher in die Tasten haut und den Wagnerschen Brautchor aus „Lohengrin“ fachgerecht hinter sich und die schon wieder halbwegs animierte Hochzeitsgemeinde bringt. Dann stoßen alle mit einander an, weil der Ferdl-Onkel aus Jennersdorf zwei Doppler vom burgenländischen Uhudler zum Festakt mitgebracht hat. Der unverbesserliche Bsuff, der.
In der Kirche zum hl. Benedikt ist es barock – zumindest vom Interieur her. Der Pfarrer Ignaz Blausackel ist so übernachtig wie der Bräutigam, der Brautvater und die meisten männlichen Hochzeitsgäste, obwohl Hochwürden gar nicht mitgepoltert haben. Egal.
Der Brautvater führt die Braut. Und Renate schaut in ihrem üppigen, weißen Tüllgebüsch auch recht tauglich aus. Ja, über seine Tochter lässt er nichts kommen, ist sie doch mit Abstand das Beste, was ihm aus der verhauten Ehe mit der zaundürren Mathilde geblieben ist. (Mathilde sitzt irgendwo weiter hinten im Gotteshaus, jedenfalls außerhalb des Blickfelds der Zweiten, Elfriede.)
Dann geht es mit geziemendem Hallo (und in den geschmacklos geschmückten Autos) hin zum „Gasthaus zum Weißen Lamm“, wo auf die ziemlich gemischte Gesellschaft schon eine entsprechende Hochzeitstafel wartet. (Erstfrau Mathilde hat sich von einem männlichen Subjekt – dunkel, was Augen, Haare und vermutlich auch die Denkweise betrifft – von der Kirche abholen lassen und ist, nach kurzem, tränenreichem Gruß- und Kuss-Austausch mit Tochter Renate und deren Jungehemann Fritz und dessen Eltern, in einem schleißigen alten NSU abgedampft. Ihrem Ex hat sie bloß einen schwer zu deutenden, jedenfalls keinen freundlichen Blick gegönnt.)
Man sollte sein Leben neu gestalten können, denkt er unwillkürlich. Vor ihm watschelt die jetzt schon merkbar zum Fettwerden tendierende Tochter, Renate, deren Arsch sich kurioserweise kaum mehr allzu sehr von dem ihrer Stiefmutter Elfriede unterscheidet – rein äußerlich betrachtet, objektiv und von hinten; und obwohl es da ja keinerlei genetische Berührungspunkte gibt zwischen den vier in Rede stehenden Arschbacken.
Jetzt muss er also leider auch schon die Schönheit seiner zweiten Ehefrau – Mathilde, die erste, ist (wie oben erwähnt und kurz gesichtet) eher hager, vielleicht sogar knochig angelegt – ziemlich offensichtlich in Frage stellen. Wohin mochte das alles wohl noch führen? Und wozu überhaupt frisst man so manche Krot im Leben?! Egal …
Aber, so oder so, man sollte sein Dasein neu gestalten können.
Später dann gewahrt er die schwarzhaarige Milla, die oben herum zwar durchaus üppige, hinunter zu indes erstaunlich ranke und schlanke Kellnerin vom „Lamm“. Milla serviert Leberknödelsuppen und gemischte Salate, den Braten und die Beilagen, währen sich der fette Erwin, der stets leicht illuminierte Wirt „Zum weißen Lamm“, gemeinsam mit dem gichtigen Kellner Anton um die Getränke kümmert.
Er stürzt sein Bier auf eins hinunter und ruft nach Nachschub. „Und einen Schnaps!“
Und jetzt kommt die Leberknödelsuppe auch zu ihm.
Und Milla kommt.
Und die schwarzhaarige Milla, sie kommt, das weiß er, aus Kroatien.
Und mit einem Mal ist es um ihn geschehen.
Wenn er sein Leben tatsächlich ummodeln könnte, er würde es tun! Jetzt! Jetzt, auf der Stelle!
„Tu’s doch!“, raunt ihm die umwerfend schöne Fee Alexia – unsichtbar zwar, wie es sich gehört bei solchen Anlässen, aber wohltuend anwesend – ins Ohr. „Tu’s doch …Und nütz‘ die einmalige Chance!“
„Ja, schöne Fee Alexia!“, ruft er ein wenig exaltiert aus. (Und nicht einmal überrascht, obwohl er das zauberische Wesen streng genommen eigentlich noch gar nicht kennen kann …)
„Ich will es tun! Ich wünsche mir mein weiteres Leben gemeinsam mit Milla!“
Wir wollen auf übliches Drumherum und Klimbim, Brimborium und finalen Theaterdonner, wie es bei solchen und ähnlichen eben zauberischen Angelegenheiten üblich sein soll, verzichten und es uns lieber ersparen; das ist doch alles hinlänglich bekannt.
Und dann – es geht (zumindest vermeintlich) um Liebe. Also ist alles ohnedies schon kompliziert genug …
Das Gefährlichste nämlich ist die Liebe.
Einschmeichelnd gibt sie sich, auch mal forsch und unerbittlich. Immer von ihrer Bedeutung erfüllt; aufgeplustert förmlich. Arrogant und absolut. Ganz anders also, als es der strenge Apostel Paulus im diesbezüglichen Korinthert-Brief so treuherzig ausführt. (Weshalb diese Stelle vermutlich auch so bekannt und beliebt ist; und viel und oft zitiert …)
Ja, die Liebe … So schön, herrlich anzusehen, attraktiv und jugendfrisch! Rosig, mit roten Backen, hübschen winzigen Ohren, mit einer gepuderten, allerliebsten kleinen Nase und leuchtenden Augen mit kleinen hellen Lichtflecken um die schwarzen Pupillen …
Bis sie dann eines Tages abgetragen wirkt und unansehnlich, großohrig, flächig überhaupt und allenthalben ausgeleiert …, verfärbt durch manchen ungeschminkten Tag, durch manche weitestgehend lieblose Nacht des Geschiebes und Gewälzes …
Später dann wohl auch knarrend und quietschend wie ein altes Scheunentor, das in seinen Angeln krächzt, wird es unsanft vom Gewittersturm bewegt.
Was folgt, sind Momente von Desinteresse und aller Freude entkleideter Gemeinsamkeit (wobei die Betonung eher schon auf gemein liegt). Zusammenbleiben passiert bloß aus Bequemlichkeit – oder aus wirtschaftlichen Erwägungen; oder angeblich der Kinder wegen.
Dann gesellen sich womöglich sogar Hass und Feindschaft dazu; weil es ansonsten ohnedies fast an jeglicher Geselligkeit mangelt. (Außer der in Maßen außer Haus genossenen.)
Freilich, sogar Hass und Feindschaft hören irgendeinmal auf; spätestens dann, wenn man – oder der Kontrahent – besiegt ist. Leer. Ausgebrannt. Innerlich tot. Reglos.
Doch die Liebe glaubt zu allem Überfluss, keck den Anspruch auf Ewigkeit vermelden zu sollen. Und, sogar wenn sie dereinst tatsächlich vorüber und verraucht ist und aufgehört hat, wenn sie zum Teufel gewünscht und eingestampft worden ist, ausradiert und ausgelöscht – auch dann bleibt sie als Rest; wie ein sanfter Windhauch, wie ein leises, ein bisschen flirrendes Zittern in den Ästen, Zweigen und Blättern. Ein ferner, ein leiser Klang …
Zuletzt mag sie zwar auch bloß noch in Spuren vorhanden sein, doch sie ist immer da.
Das Gefährlichste nämlich ist die Liebe.
Doch jetzt muss er die Hochzeit der Tochter überstehen.
Fortsetzung folgt!
Ronvinj, Anfang der 1960er Jahre
Klar, er ist keine 20 mehr und auch keine dreißig. Machen wir uns nichts vor: Er ist ein alter Mann. Doch sein Herz ist geradezu jungspundig (findet er). Egal, was geredet worden ist die ganze Zeit, offen und hinter vorgehaltener Hand, gemauschelt, geätzt und blöd gewitzelt – er hat seine Milla erobert. Und nur das zählt!
Warum sollte die Abendröte des Lebens nicht auch ihren Reiz verstrahlen? Noch dazu: Sie war dem Morgengrauen gegenüber bei weitem im Vorteil. Der Tag hatte gesehen, was zu sehen gewesen war, er konnte bilanzieren. Und musste sich nicht auf die nur zu oft trügerische Aussichten verlassen, wie sie sein Beginn vorgeblich offeriert hatte. Aussichten und vermeintliche Chancen, die dann – man kennt das zur Genüge! – nur allzu oft in Nichts verschwammen und sich auflösten, nebulös und im Vergeblichen vergilbend. (Das konnte unmöglich von ihm sein, klang jedoch recht hübsch.)
Der Abend aber, wenn sich das Rot mit dem Restgelb vom nahen Meer her mengte, wenn die Möwen ihr – zugegeben, nicht selten – enervierendes Geschrei verstärkten, als ahnten sie ein mögliches Sommergewitter, der Abend versprach nicht mehr viel. Er kam in aller Regel, sozusagen in Hausschuhen daher. Und ziemlich apres … (Auch wenn er, der Hauswirt, an die Pantoffel längst noch nicht denken durfte, nein.)
Der Abend …
Ins schöne Restgelb, das mit dem Rot rangelt, mischen sich nun tatsächlich dunkle Wolken. (Deshalb vermutlich auch das Möwengekreische!) Oder sind das nur seine – Gedanken?
Dass sich Elfriede nicht gerade entgegenkommend verhält, wer kann es ihr schon verdenken? Außerdem hat sie sich eigentlich kaum was vorzuwerfen. Die paar Jahre Ehe mit dem alternden Grantscherben an ihrer Seite sind zudem alles andere als ein Honigschlecken gewesen! (Übrigens: Auch mit Mathilde hatte es damals einen recht veritablen Rosenkrieg gegeben.)
Also will sich die dicke Elfriede wenigstens ihren Kreuzweg – so nennt sie die Zeit mit ihm im Nachhinein voller Bitterkeit, die ihrerseits von manchem Seufzer verstärkt wird – ein wenig vergolden lassen. (Außerdem und Hand aufs Herz, bitte sehr, wer wird sie denn noch wollen, jetzt, die längst zum üppigst gerundeten Monsterkürbis angeschwollene, sozusagen: fett-gewordene Gurke?)
Wenn er sich schon in den blöden Kopf gesetzt hat, mit dieser kroatischen Hur, mit dieser schwarzhaarigen Jugo-Tschuschin namens Milla, ein neues Leben zu beginnen, dann soll er für die Beseitigung der Reste seines alten Lebens eben auch was springen lassen, nicht wahr?! Und das – ordentlich! (Elfriede würde, hätte sie genug Geist dazu, bemerken, wie die bösen Gedanken, wie Hass und Feindschaft in ihren Gedärmen rumorten und in ihrer Seele umrührten, dass es ein Erlebnis war! Sie hielt es freilich für Verdauungsprobleme und fraß eine Kollektion von verschieden-farbigen Pillen und Tabletten, die ihr der Hausarzt, der senile Medizinalrat Engelbert Fürnschuss, da entgegenkommend und quartalsmäßig verschrieb.)
„Erst muss er ordentlich bluten, finanziell! Ja, bluten! Dieser Bock!“, schäumt Mathilde richtiggehend echauffiert den guten Freundinnen gegenüber bei Torte, Kaffee und Likör in der ohnedies und ohne die überflüssige Alt-Damen-Rund schon reichlich überladen wirkenden Konditorei „Ehrenfürst“.
„Doch wenn er brav zahlt, der Dildo, dann soll er, vom mir aus, meinen Segen haben! Dieser Dauerfurzer und sexuelle Rohrkrepierer! Versteht ihr mich?!“
Und die alten Schacheln wiegen, ein wenig errötend wohl, die ondulierten Köpfe.
Sie verstehen die kämpferische Schwester nur zu gut …
In Kroatien – wir schreiben Anfang der 1956er Jahre, und Tito, so ziemlich am Zenit seiner Macht, herrscht über das so eigenartig sozialistisch-(pseudo-)liberal ausgerichtete Jugoslawien -, in Kroatien ist ganz gut sein. Tito, wie gesagt, herrscht über ein in sich inhomogenes, nur durch seine Person zusammengehaltenes politisches Mosaik, das sich dem gleichmacherischen Kreml-Kommunismus, wie er von Moskau bis Ost-Berlin, von Budapest bis Prag und von Warschau bis Bukarest und Sofia anscheinend weitgehend bruchlos und eisern herrscht, immer wieder auf so geschickte Weise entzieht.
Der Ungarnaufstand von 1956? Er hat nicht funktioniert, und Budapest hat sich eine blutige Nase geholt. Es kuscht jetzt brav. Und in Prag? In ein paar Jahren dann, 1968, wird der Kreml dem Frühling an der Moldau ebenfalls das Licht ausblasen. Alles ausgeträumte Träume … Vorerst zumindest.
Und der Westen? Der wird (in gewohnter Weise) protestieren, ansonsten indes weiter seine Geschäfte mit dem Iwan machen, wie üblich …
In Jugoslawien freilich hält einer unerschütterlich fest alle Fäden in der Hand: Josip Broz Tito aus Kumrovec bei Varaždin, der 1980 in Ljubljana fast 90jährig sterben wird. Tito, der erfolgreiche Partisanenkämpfer gegen die Nazi-Truppen; der wendige Marschall und souveräne Staatspräsident, der verspielte Autonarr, schließlich der blockfreie Staatenlenker; Tito, der einzige Garant für den Bestand des status quo. Tito, die anerkannte Integrationsfigur.
Tito kennt die Sorgen seiner Landsleute, auch die in Kroatien. (Denn er ist ein gewiefter Politiker, der weiß, dass sich die Molesten des Volkes über kurz oder lang irgendwie auch negativ auf das Wohlbefinden der herrschenden Kreise [um nicht Klasse zu sagen] auszuwirken beginnen können.) Auf ihn wird schon Verlass sein, denken und sagen daher fast alle hier. Ja, doch! Der Marschall schafft den Spagat zwischen Moskau und Washington, Peking und Bonn. Da eine Handvoll westlicher Genusshäppchen, dort ein paar mehr oder minder saftige rote Brocken! Er ist immerhin ein ausgefuchster Jongleur, dieser Josip Broz Tito. Nur – dass seine Bälle und Wurfkeulen politisches Kalkül und staatsmännische Fortune sind …
Nach seinem Tod wird dann, mit zunächst erstaunlicher Verzögerung,später indes mit umso gewaltigerer Vehemenz der Balkankrieg ausbrechen und losgehen. In der Tat, mit einer davor kaum für möglich gehaltenen Power. Und der brutale Bruderkampf wird unfassbare Not und unsagbares Leid über die in Wahrheit längst schon zerstrittenen Volksgruppen der Diadochen-Staaten mit ihren so divergenten Sonderinteressen bringen. Ja, er wird unvorhersehbare Greuel verbreiten. Und eine Atmosphäre gegenseitigen Hasses erzeugen. Wogegen das, was all die Jahrzehnte und Jahrhunderte zuvor gewesen war, harmloser Neckerei gleichen wird.
Doch das ist alles noch Zukunft. Und inzwischen geht es noch, ja, noch geht es.
Einigermaßen gut sogar.
Und immer noch wesentlich besser als in den echten Ostblockstaaten mit ihrem ewigen Substandard und dem Kellergeruch der Armut als anscheinend unverrückbarem Los, an dem sich, wie es aussieht, niemals etwas ändern wird. (Dass sich die sozio-ökonomische Situation auch nach der sogenannten Wende – dem Fall der Berliner Mauer und der rasch erfolgten Wiedervereinigung von Ex-DDR und BRD ab 1998/90 – und nach dem Untergang des Kommunismus in weiten Teilen der Welt [sieht man einmal von China, Nordkorea und Kuba ab] nicht wesentlich wandeln wird, kann man jetzt freilich noch nicht einmal erahnen.)
Dem ständigen Kontrast zwischen verlockend klingenden Parolen im Angedenken an Karl Marx, Friedrich Engels & Co. und der tagtäglichen Scheiß-Realität schafft Titos geschickte – dosiert sogar auf Liberalität setzende – Politik in Jugoslawien etwas in Maßen Attraktives. Und wenn es schon keine Freiheit gibt, so gibt es wenigstens – Freiheiten!
Außerdem: Hier, in Jugoslawien, darf man in Maßen sogar seine Meinung sagen; vorausgesetzt, sie entspricht der offiziellen Lesart…
Für unseren Helden scheint das alles freilich überhaupt bloß halb so wild zu sein.
Ja, so fragt er sich mitunter: „Was geht das alles denn, bitte sehr, mich an?“ Und, in der Tat, was geht es ihn, der er hier, in Rovinj, mit seiner geliebten schwarzhaarigen Milla einen Lebensneustart wagt (mit der Hilfe der schönen Fee Alexia!) wirklich an?!
Die Geschäfte gehen besonders für ihn als Österreicher, der er die für ihn wichtigen Leute in der Wirtschaft, auf dem Banksenktor und natürlich in der Politik kennt, durchaus gut, sehr gut sogar. Danke der Nachfrage. Import wie Export funktionieren. Und er genießt seinen Sonderstatus in allen Belangen.
Gut, machen wir ein Lokal auf, denkt er.
Und auch Milla liegt ihm in den Ohren: „Lass uns doch ein Restaurant eröffnen! Bitte! Ein schönes großes Gasthaus, hier in Rovinj!“
Ja – warum eigentlich nicht?, denkt er.
Übrigens: Die heilige Euphemia (o welch passender Name in diesem Zusammenhang!), Euphemia, die Schutzpatronin Rovinjs und ganz Istriens, weist mit ihrer Rechten eine Richtung, aus der allem Anschein nach günstiger Wind zu wehen gedenkt …
Euphemia? Ja, diese heilige Euphemia, symbolisiert in einer fast fünf Meter hohen, praktischer Weise drehbaren Statue auf dem sechzig Meter hohen Campanile der Pfarrkirche (Crkwa Svte Eufemije, die aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts stammt), die ihrerseits der allseits verehrten Märtyrerin aus der Zeit Kaiser Diokletians geweiht ist. Euphemias Leichnam sei, so heißt es, irgendwann im 8. Jahrhundert ans Ufer Rovinjs geschwemmt und daraufhin feierlich beigesetzt worden. Die Statue, hoch droben auf dem Turm, dreht sich, wie sinnig, nach dem Wind. Und gibt nebenbei auch Auskunft über die Wetterlage …
Die zweisprachige Stadt Rovinj (auch: Rovigno), gelegen auf einer von über zwanzig Inseln an der Westküste der kroatischen Halbinsel Istrien und mit einer Ausdehnung von über 85 Quadratkilometern, zählt in den 1960er Jahren circa 10.000 Einwohner, von denen etwas über elf Prozent italienisch sprechen.
Unter den Römern heißt Rovinj übrigens Ruginium, verrät uns Google bereitwillig. Die Römer bleiben jedoch nur bis 476 nach Christus in der Gegend. Dann haben die Hunnen den Einfall, hier einzufallen. Und auch Byzanz ist mit einem Mal interessiert an der schönen Stadt am (und im) Meer. Eng benachbart mit der Insel Ruigno (auch Ruginio oder Ruvigno) ist die Stadt Cissa, die allerdings, ähnlich dem sagenhaften Atlantis, im 6. oder 7. Jahrhundert in Folge eines Erdbebens in den Fluten versinkt. Bevor es so weit ist, verlassen die Einwohner Cissas fluchtartig ihre Heimat und ziehen auf die Insel Rovinj.
Nach den Byzantinern kommen die Franken nach Istrien, später auch die Slawen und sogar die Sarazenen. Anno 1283 gelangt Rovinj unter die Herrschaft des Patriarchen von Aquilea. Fischerei und Schiffbau nähren die Bewohner des Seefahrtzentrums immer noch gut, das im 17. und 18. Jahrhundert schon eine führende Rolle in Istrien spielt. Man errichtet die Stadtmauern und schafft eine Verbindung zum Festland; so wird Rovinj schließlich zur Halbinsel.
Da man die wirtschaftlichen Möglichkeiten auszunützen weiß, gelangt die Stadt zu Wohlstand, und es gibt im18. Jahrhundert hier höhere Häuser als üblich (was heute noch in der hübschen Altstadt auffällt). Doch im Jahr 1797 verleibt sich der mächtige Stadtstaat Venedig Kommune und Hafen ein, und bald darauf krallen sich die unersättlichen Habsburger das strategisch wie handelspolitisch interessante Gebiet, das dann zunächst bis 1805 österreichisch bleibt. Danach kommt Rovinj unter napoleonische Herrschaft und ist bis zum Wiener Kongress Teil der sogenannten Illyrischen Provinz. Hernach ist erneut Habsburg am Zug.
Die Wirtschaft floriert, im Jahr 1852 entsteht eine Zementfabrik, zwanzig Jahre später eine für Tabak, und 1876 wird eine Wachsfabrik eröffnet. 1882 schließlich verlegt man sich zusätzlich noch auf Glas und Sardinen. Auch der Schiffbau erlebt wieder einen Aufschwung (eine kleine Werft gibt es heute noch).
Rovinj verfügt seit dem Jahr 1865 über ein Theater, seit 1888 über ein Krankenhaus, und anno 1891 öffnet das Institut für Meeresbiologie seine Pforten. Zur Verkehrserschließung trägt die Eisenbahnverbindung Ende des 19. Jahrhunderts das Ihre bei.
Nach dem Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie fällt Rovinj samt dem Umland an Italien, während des Zweiten Weltkriegs regiert dann Hitler-Deutschland in Istrien, und im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens wird Kroatien 1991 unabhängig.
Um 1960 herum jedenfalls kaufen er und seine Milla ein herabgewirtschaftetes Lokal auf, bauen aus und modernisieren. Sie nennen ihren Fresstempel sinnigerweise „Euphemia“.
Doch auch darüber hinaus kann er, seinem (heimlichen) Vorbild Tito nacheifernd, so manchen Erfolg verzeichnen – oder eben auch nicht. Auch das ist zu verschmerzen, denn Pannen und Missgriffe gehören nun einmal zum Leben dazu! Nur grosso modo hat sie dann freilich doch zu stimmen, die Kasse. Und das tut sie auch.
Er nimmt sich reichlich, doch er teilt auch aus; und eine Hand wäscht die andere. So lange es etwas gibt, mit dem man Geschäfte machen kann, ist er oben auf. Wie Tito. Denn: Zumindest im Vergleich mit anderen kommunistischen Ländern, mit den sogenannten Satellitenstaaten Moskaus hinter dem Eisernen Vorhang, herrschen hier, in Titos Jugoslawien, direkt Wohlstand und Luxus – trotz dieses Eisernen Vorhangs. Außerdem kommen die Touristen, denn die Adria lockt. Und billiger ist es hier auch als beispielsweise im benachbarten Italien.)
Also eröffnet er neben der „Euphemia“, die von Anfang an gut geht, gleich noch ein kleineres Restaurant. Und einen Feinkostladen dazu. So viel Geld hat er sich geschickter Weise von seinen (zugegeben: immer etwas dubiosen) Tätigkeiten, von seinen weit-gestreuten Machenschaften in Österreich glücklich abzweigen können; und vor seinen Ehefrauen versteckt. Zudem laufen seine Import-Export-Aktivitäten immer noch mit ziemlichem Erfolg. Und außerdem hat Millas Familie einiges an Baugrund und steuert nun, da die Geschäfte aussichtsreich zu werden scheinen, gerne ein weniges Bares und auch Brachland bei.
Dass der Bräutigam ihrer – auch schon in den Vierzigern angelangten – Milla nun einmal Anfang der Sechziger ist, stört sie weiter nicht. Trinkfest und ein guter Geschäftsmann ist er allemal! Und Geld hat er wohl auch … Hoch soll er leben, der geschickte Österreicher!
Dann allerdings wird – wodurch auch immer – die leidige Geschichte von Onkel Alex wieder hochgespült. Wie etwas Diffuses, Unnötiges, Grausliches, das gleichsam den Ausfluss verstopft hat und jetzt erneut stinkend hervorquillt. Also, die alte Polit-Jauche kommt noch einmal hoch. Egal, ob neuen Erkenntnissen diverser Geheimdienste geschuldet, oder weil die allezeit Argus-äugige Journaille wieder einmal (zum Zweck der Auflagenerhöhung und der Quote) altbekannte Minenfelder neu zu beackern beginnt; oder weil sich am Ende gar das Weltgewissen meldet, was es bekanntlich sporadisch tut.
Ja, es geht wieder einmal um diesen unseligen Verwandten, um Alex, der Anfang der 1940er Jahre im Rahmen von undurchsichtigen Ustascha-Aktionen, also bei sogenannten bösen Geschichten (besser wohl: bei Gräueltaten an weitestgehend Unbeteiligten und Unschuldigen), mitgemacht haben soll. Und bei der Ustascha, dieser vom Nationalisten Ante Pavlić im Jahr 1929 als rechtsradikale Unabhängigkeitsbewegung gegründeten und als überaus brutal bekannten Organisation, galt besagter Onkel Alex in den 1940er Jahren leider in der Tat als recht prominentes Mitglied.
Außerdem hat es sich im speziellen Fall längst nicht mehr um den Kampf für einen um Bosnien und Herzegowina vergrößerten Unabhängigen Staat Kroatien gehandelt. Nein: Da sind schlicht und ergreifend Juden, Muslime und Serben auf das Grausamste attackiert, verfolgt und massakriert worden.
Nachher ist besagter Onkel Alex dann untergetaucht.
Jetzt allerdings ist er wieder aufgetaucht. Und da die Scheiße erneut am Dampfen ist, gibt es einen Familienrat nach dem anderen. Zwar sind die Aussagen und Stellungnahmen durchaus divergent; doch zur Bewältigung des Problems Alex beschließt man zuletzt, besser auch ihn, den neuen reichen Verwandten aus dem neutralen Österreich, hinzuzuziehen.
Erst versucht er, zu applanieren, was (in typisch österreichischer Art) da überhaupt zu applanieren geht. Doch schließlich wächst ihm alles eindeutig über den Kopf. Zudem erzählt buchstäblich jeder etwas anderes.
Und der alte Alex selbst scheint sich ohnehin längst schon das Resthirn weggesoffen zu haben; so, wie der jetzt, da, in seinem Versteck, ausschaut, die Schnapsflasche stets in Reichweite … „Und dabei ist der nur wenig älter als ich“, denkt er manchmal. Doch dem ziemlich heruntergekommen Spiegeltrinker sieht man quasi keine Jahresringe an. Vielleicht, weil er weniger einem Baum gleicht als vielmehr einer Staude, einem Strauch … Man kann ihn schwer einordnen, diesen Alex.
„Ist das tatsächlich ein gefährlicher Kriegsverbrecher?“, so fragt er sich, „oder ein fehlgeleiteter Opportunist? Ein Mitläufer, der auf die Schnauze gefallen ist?“
Eine Belastung ist dieser verdammte Alex allemal, das steht fest.
Mein Gott! Er ist Geschäftsmann, aber kein Politiker!
Es ist ihm außerdem zu blöd. Soll dieser Alex-Arsch doch gefangen genommen und verurteilt werden! Sollen sie ihn aufhängen! Lynchen! Vor Gericht stellen! (Egal, in welcher Reihenfolge.) Was geht das, bitte schön, ihn an?!
Da ist allerdings Milla, die sonst so sanfte schwarzhaarige Milla, ganz anderer Ansicht.
Es kommt zu Verstimmungen, zu ersten Streitereien, zu gröberen Beschimpfungen, schließlich herrscht allenthalben böses Blut. (Und er muss immer öfter an Mathilde und Elfriede denken, an seine beiden Ex-Ehefrauen.)
Alles steht plötzlich – wieder einmal – an der Kippe. Er –
„Soll ich mir das wirklich antun?“, so fragt er sich.
„Wenn mich schon die Vergangenheit immer wieder einholt, dann in einem einigermaßen vertrauten Umfeld!“ Und: „Ich meine, klar, der ach so stramme Edi-Onkel und der schleimige Cousin Alois (schon in den 1930er Jahren), naja, kleine Nazis halt … Auch der Willi und der Armin … Und später, nach Kriegsende dann, die hysterische Helene mit dem englischen Offizier … und die rothaarige Hanni mit ihrem Russen …“ Er resümiert: „Wir waren zwar auch keine Klosterschülerinnen, aber – das?!“
Immerhin hat er da plötzlich einen international gesuchten Ustascha-Verbrecher in der Familie! Also, das …, das ist in der Tat ein anderes Kaliber.
Übrigens, kurzer Gedanke: Wie stand es politisch mit ihm selbst?
Na ja, er glaubte, immer irgendwie davongekommen zu sein. Politisch, aber auch weltanschaulich … Als ganz Junger noch hat er zwar noch im Ersten Weltkrieg mitmachen müssen, ist aber gottlob ohne gröbere Blessuren dem Weltenbrand entkommen. Dann die Weltwirtschaftskrise. Um wirklich viel zu verlieren, hatte er zu wenig. Und dann die Hitlerei? Also, die hat ihn nicht sonderlich fasziniert. Nein, nicht schon wieder eine Uniform …! Da hat er sich politisch immer brav im Hintergrund gehalten, wie es sich – so würde es nachher dann heißen – ohnedies gehört hat; und wie es in der Tat ja auch opportun gewesen war. (Auch wenn er sich zwischendurch und hin und wieder seine eigenen Gedanken gemacht hat über alles das, was sich da ereignet und zugetragen hat. [Mit bloß mäßigem Erleuchtungseffekt allerdings …] Nun ja.)
Soll ich mir das jetzt wirklich alles antun?
Außerdem: Die 1960er versprechen für ihn – nach anfänglichen durchaus positiven Aussichten – dann doch nicht den ganz großen wirtschaftlichen Aufschwung. Und so geht folgerichtig auch das Restaurant „Euphemia“ dort in Rovinj sukzessive nicht mehr so besonders gut. Die kleinere Klitsche, mehr eine Art besserer Imbissstube, in der Nähe, die stößt er ohnedies bald schon ab, und den Laden für das importierte Feinkost-Zeug kann er auch kurz darauf vergessen. Da laufen ihm nämlich die staatseigenen Pseudo-Supermärkte längst den Rang ab mit Preisen, die einfach um einiges niedriger sind als seine. Das hat alles keinen Sinn mehr.
Ja, es entwickelt sich zumindest längst nicht mehr so gut, wie er es sich in den kühnen Träumen seiner zweiten Jugend im Liebestaumel mit seiner schwarzhaarigen Milla (und im Gebraus der frisch wirkenden Säfte und zumindest scheinbar wieder auflebenden Hormone, die durch die alten Lenden sausen) erhofft hat.
Und Milla mit den ursprünglich so tollen schwarzen Haaren? Nun, die ist langsam aber sicher, auch schon ziemlich aus dem Leim gegangen. Und grau geworden. Trotz der an sich guten Anlagen … Schade drum.
Da erinnert er sich irgendwann wieder seiner Fee.
Er ruft sie inbrünstig an und zu sich.
Und die schöne Alexia erscheint und macht tatsächlich den Wunsch rückgängig.
Daher: Alles zurück, bitte!
Auf die Plätze, fertig machen, los! Alles zurück an den Start: 1955, Renates Hochzeit! Gemma, gemma! Ja, im „Gasthaus zum Weißen Lamm“. Und –
Da ist sie also wieder, die so wenig geschmackvolle Hochzeitstafel, woran eine große Runde von mehr oder minder Besoffenen sitzt und die Vermählung seiner ebenfalls langsam aus dem Leim gehenden Tochter Renate mit ihrem uninteressanten gelbgesichtigen Fritz feiert. Zugegeben, eine ziemliche Nebochantenrunde. Furunkulöse Hungerkünstler, aufgeschwemmte Arschgeigen, hakennasige Vogelgesichter, halbidiotisches Gelichter auf und auf! Ekelig das alles. Und zum Speiben. Und erst Fritzens dumm-dreiste Eltern, gierig wie die Aasgeier!
Aber – man kennt einander. Immerhin.
Und man kann (angeblich) mit einander leben.
Das ist es also, denkt er, ebenfalls ein wenig betrunken schon und sich bedenklich über die schmuddelige Theke beugend. Und er lässt sein vermeintlich so großartiges Ronvinj-Projekt, diesen super-geilen Traum, innerlich vor sich abspulen wie einen dilettantischen Acht-Millimeter-Film (von Eumig), den extrem inkompetente Amateure gedreht haben müssen: abgehackt, verwischt, verwackelt und mit laienhaften, extrem üblen Schnittstellen. Zudem mit furchtbar schlechter Musik unterlegt (irgendwelche kroatische Pseudo-Folklore, längst noch nichts von Goran Bregovic!) und mit einer total verhauten Synchronisation ausgestattet …
Da mischt sich Verbitterung in den – sechsten? siebten? achten? – Magenbitter.
„Noch einen Jägermeister, Milla!“
1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966
1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 19851986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 …
Fortsetzung folgt!
120 Jahre plus einen Tag
Er erwacht.
Er erwacht …
… und um ihn herum ist Seniorenheim. Radiowecker mit klassischer Musik. Oder? Oder nicht? Jedenfalls: Johann Strauß, „Perpetuum mobile“.
„Es ist elfeindrittel Minuten vor sechs Uhr …“, sagt die muntere Frauenstimme. (Oder etwas Ähnliches.)
Das heitert ihn nicht wirklich auf.
Noch dazu hat er – wieder einmal, wie so oft in den letzten Jahren und Jahrzehnten – vom Krieg (irgendeinem Krieg), von Not, von Krankheit und Tod, von der Lieblosigkeit in der Welt, von seinen Verwandten und ähnlichen Unholden geträumt. Böse Träume. Unschön und ungesund. Aufwühlend. Und ermattend zugleich. Eine Scheißnacht, alles in allem.
Erwach‘ endlich! Wach auf! („Zu Befehl!“)
Was ihn, den praktizierenden Zyniker, in hellen Momenten – und ganz blöd ist er ja, erwiesenermaßen, auch noch nicht! -, was ihn also, in hellen Momenten, stutzig macht, sein ganzes Leben hindurch und immer wieder immer wieder immer wieder: Dass es ohne weiters gelingen mag, Tag für Tag Millionen von Aufstehmuffeln und andere angesichts eines angeblich neuen Tages eher unwillig Reagierenden per Klassik (vielleicht auch im Pop-Rhythmus oder gar mittels sogenannter volkstümlicher Musik) ins Alltagsleben zu holen. Zu animieren. Oder zu reanimieren. Zumindest: unwirsch zu stimmen; was jedoch fast den selben Effekt hat, nämlich, dass sie sich zuletzt ja doch erheben; dass indes anscheinend tatsächlich nichts und niemand imstande ist, etwas gegen Gewalt, gegen Mord und gegen Krieg zu unternehmen.
Und selbst, wenn man solches wollte; was immerhin nicht in allen Fällen sicher sein mag und vorausgesetzt werden darf … –
Also, es lässt sich nichts machen?! Wirklich nicht?! (Der Schani Strauß schüttelt den Kopf. Oder den Taktstock. Und allemal einen neuen Walzer aus dem Ärmel.)
Aber, es wird doch, denkt er, um Himmels Willen!, auch noch irgendwo, vereinzelt und versteckt, von mir aus, ein paar Exemplare der sogenannten menschlichen Rasse geben, die für Koexistenz und liebevolles Zusammenleben zu haben sind! (Wo er diese einigermaßen geschraubten Ausdrücke wohl aufgeschnappt haben mag?!)
Bloß ein bisschen Menschlichkeit! Oder?! (Wie man sieht, hapert es doch schon an solchen Kleinigkeiten – wie etwa bei korrekten Zeitangaben im Radio!)
Seine Familie, da hatte er, der 1895 Geborene, immerhin Glück gehabt, seine Familie war beinahe unpolitisch. Am ehesten vielleicht noch ein bisschen sozialdemokratisch gestrickt. Der Großvater, Ignaz Ernst mit Vornamen und Beamter der k.u.k. Eisenbahnen, war zwar ein eingefleischter Monarchist gewesen (wie man es von jemand wohl auch erwarten durfte, der treu zu seinem obersten weißbärtigen Dienstherrn dort im fernen Schloss Schönbrunn zu Wien an der Donau zu stehen hatte). Doch Opa hatte den Untergang der Habsburger Monarchie ohnedies nicht mehr erlebt; nicht einmal das Hinscheiden des Kaisers anno 1916.
Sein Vater jedoch hatte tatsächlich früh schon ein wenig mit den Sozialdemokraten geliebäugelt, und nach 1918 bekannten sich sogar einige aus der Familie (und nicht ohne Stolz) dazu, rot zu sein. Immerhin, man ließ zwar weiterhin die Nachkommenschaft katholisch taufen, man heiratete kirchlich und gebot testamentarisch, entsprechend und mit klerikalem Aufputz verscharrt zu werden. Ansonsten hatte man mit den Pfaffen freilich nichts am Hut und mied alles Kirchliche weitgehend.
Bloß ein paar entferntere Verwandte aus Niederösterreich gaben sich als Stockkonservative und bald schon als tiefschwarze Christlich-Soziale zu erkennen. Die verfügten sogar über einen Priester in der Familie! Doch hatte man dorthin von Haus aus wenig Kontakt. Postkarten hin und wieder und ein Schreiben zu Weihnachten. Mehr nicht.
Später fand sich die Sippe insgesamt freilich – und weniger aus ideologischen Gründen als aus solchen der Bequemlichkeit – dann doch auf Seiten der nationalsozialistischen Machthaber wieder. Besonders zwei Cousins, Armin und Willi, hatten es mit der Hitlerei. Dieser kam bald schon bei der SS unter, jener war sogar GESTAPO-Anwärter. (Krankheitsbedingt wurde jedoch nichts mit Armin und der geheimen Staatspolizei.)
Sie waren letzten Endes – Verführte gewesen, nicht wahr?! („Die Deitschen sein einmarschiert …“, heißt es bei Merz und Qualtinger, „de Polizei is g’standen mit de … also mit de Hakenkreizbinden … fesch … es war furchtbar … das Verbrechen, wie man diese gutgläubigen Menschen in die Irre geführt hat … der Führer … hat geführt […].“ Carl Merz/Helmut Qualtinger, „Der Herr Karl“, in: Ilse Walter [Hg.], „Best of Qualtinger“, Wien – München 1999.)
Allein Richard, ein eher entfernter Verwandter, war tatsächlich bekennender Kommunist. Er durfte dann seine Haltung im Konzentrationslager Buchenwald beweisen, wo er schließlich knapp vor Kriegsende umkam.
Nur Juden gab es im ganzen Familienverein keine.
Er hatte stets versucht, sich aus der Politik, so gut es ging, herauszuhalten; und es ging gut.
Er war Österreicher. (Nun ja …, eben …)
Ansonsten war man innerfamiliär, besonders nach dem Kriegsende im Jahr 1945, dann um Korrektheit (auch im Kleinen) bemüht, muckte kaum auf und hielt es insgesamt vorsichtshalber mit dem Mainstream – ideologisch und überhaupt. Ja, sogar die eine Cousine mit dem engischen Offizier und die andere, die mit dem Russen, sie fanden lediglich Erwähnung, wenn bei einer Festivität zu viel gesoffen und somit unvorsichtigerweise irgendwelche Schleusen der Erinnerung geöffnet worden waren.
So war das eben.
Ja, grundsätzlich: Dem Familien-Idiom fehlte gänzlich das Kernig-Erdige, obwohl man doch längst in der ländlichen Vorstadt wohnte. Sogar in den wenigen tatsächlich bäuerlich ausgerichteten Zweigen der weitverästelten Sippe waren solche Dialekt-Anklänge durchwegs ausgemerzt worden. Und auch die Pseudo-Vornehmheit des großväterlichen Beamtentons, diese typische k.u.k.-Klüngelhaftigkeit, war bald schon beinahe gänzlich verschwunden. Während man sich allerdings auch nicht, obwohl quasi proletarisch ausgerichtet, zum typischen Basena-Timbre der Zinskasernen und des frühen sozialen Wohnbaus durchringen mochte.
Also wirkte vieles, was und wie es daheim gesprochen wurde, zwar halbwegs ordinär; es kam aber, soweit er sich erinnern konnte, dennoch gespreizt daher …
Ihm, dem stets mehr Denkenden als Sprechenden, konnte das freilich egal sein.
Doch, doch: Man hielt es allgemein mit der Mäßigung. Mit der Lau- und wohl auch Flauheit. Zumindest mit der Vorsicht. (Nur er war da ein bisschen aus der Reihe geraten, zeitweilig sogar ein Heißsporn, ein üppiger Genießer auch und ein Hedoniker im Taschenformat, sozusagen …, besonders, was seinen Weiberverschleiß beziehungsweise die Anzahl seiner Eheschließungen, nicht selten unmäßiges Essen und ebensolches Saufen betraf. Und natürlich das Rauchen …)
In Sachen Kultur, da war man wesentlich zurückhaltender; wenngleich just er auch hier zwischendurch ein feineres Ohr bewies. Den Spruch eines Onkels, seines Zeichens ein unglücklicher, doch des Sarkasmus fähiger Musiklehrer (und gescheiterter Komponist), hätte er jedenfalls nicht so ohne weiters unterschrieben, der da lautete: „Für eine Pianostelle brauche ich kein symphonischen Orchester. Da tut es ein Kamm auch, wenn man ihn vorher mit Seidenpapier umwickelt.“ Denn just das Seidenpapier war seine Sache nicht.
Man war das, was man gemeinhin als anständig bezeichnet. Frei nach der Maxime: „Was du nicht willst, dass man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu!“
Egal. So war man eben. Nach außen hin. Und ein klein wenig auch nach innen zu.
(Wie war er jetzt auf all das gekommen? Na, egal. Eben: egal!)
Dann wechselt er plötzlich (wieder einmal) auch sprachlich in die Gegenwart.
Nicht, dass er sich als weiß Gott was für einen Moralisten sieht, die ganze Zeit; oder dass ihm die Kriege, die Epidemien, Überschwemmungen und Hungersnöte, die Spionage- und Abhörschweinereien, die Börsen- und Bankskandale, die Finanzschiebereien, die Vergewaltigungen und Menschenrechtsverletzungen, die ganze Skala der zwischenmenschlichen Teufeleien also, wie sie sich ständig irgendwo auf dieser Welt abspielen, so nahe gehen. Nein.
Doch in besagten hellen Momenten – als besonders gebildet darf man sich ihn ohnedies nicht vorstellen; und er würde sich auch selbst gar nicht als irgendwie sonderlich intellektuell begreifen, o nein! -, doch in besagten hellen Momenten, in denen sogar er (zumindest schemenhaft) die in Wahrheit atemberaubenden Schönheiten dieser Welt wahrnimmt und dazu noch die durchaus vorhandenen positiven Möglichkeiten erkennt, die für die Menschheit auf Erden eigentlich reserviert wären, in besagten hellen Momenten gibt es seinem Herzen mitunter einen seltsamen Stich.
Da setzt dann sein persönlicher Abwehr-Impuls – „Ja, verdammt, sollen sie sich, wenn es ihnen schon Spaß macht, eben gegenseitig die Köpfe einschlagen!“ -, dieser Abwehr-Impuls der Härte, der für gewöhnlich sofort und reflexartig über ihn kommt, für kurze Zeit aus.
Da übermannt ihn (man hielte das kaum für möglich!) so etwas wie Empathie. Humanitas. Caritas. Zumindest eine Spur von Mitgefühl. Ja, Mitgefühl, jedenfalls.
Ach was. Egal. Sollen sie doch. Sollen sie alle. Streitend und diskutierend. Und blöd herumredend. Und sollen sie, wenn ihnen die Argumente irgendwelcher staatlicher Ordnungen zu wenig sind, ruhig auch noch tief hineinlangen ins schier unermessliche Arsenal der religiösen (oder auch bloß pseudo-religiösen) Vorräte an Vorurteilen und Unterstellungen.
Da kommen sie dann auf ihn zu – von Weitem schon sieht er ihre ekeligen Schmerbäuche, über denen sich die dicken goldenen Uhrketten spannen -, die unheiligen Alliierten: Religionen und Staatsmächte! Denn wie die sogenannten weltlichen politischen Systeme halten es klarerweise auch die Glaubensgemeinschaften mit der Aggression. Zumindest oder besonders in der Aufbauphase und dann, wenn es um den Erhalt oder um die Ausweitung ihrer Imperien geht; also immer.
Gebietserwerb und Gewinn von irgendwelchen Reichtümern (und Einflüssen) bedürfen nun einmal des öfteren des Krieges als eines durchaus probaten Mittels zum Zweck! (Besonders, wenn man ihn vorsichtshalber als heiligen Krieg bezeichnet oder als gerechten …)
Mit entsprechendem Hintersinn vermag Medea sogar ihre Kinder zu töten, und Abraham wird stets wieder bereit sein, den geliebten Sohn Isaak zu opfern … (Doch weder bei Medea noch bei Abraham kennt er sich so genau aus … Vielleicht ein Glück?!)
Wenn er von solchen oder ähnlichen Gedanken heimgesucht wird, die ihm dann schonungslos durch den gemarterten Kopf schwirren, dann wird ihm nicht selten – anders. Zwar kommt ihm just in solchen Momenten seine Schwäche ganz besonders zu Bewusstsein; und seine Hilflosigkeit; seine Nacktheit. (Ansonsten kennt er solche Beklemmungen kaum.) Und doch, es ist noch etwas anderes, was sich in seinem Geist auszubreiten beginnt: Es werden in ihm mit einem Mal – wie sagt man es am besten? – ja, doch, melancholische Kräfte freigesetzt. Und trotz seines üblichen Phlegmas beginnen sie auf ihn zu wirken. Ungewohnt, stark und in fast schon beunruhigender Weise, nämlich – konsequent.
Trotz all seiner nachweislichen Schlitzohrigkeit, die er quasi als hauptsächliches Lebensvehikel einsetzt (mit dem er, zumindest im Allgemeinen, bisher auch immer ganz gut gefahren zu sein glaubt), trotz seiner Veranlagung, alles möglichst leicht zu nehmen, vermag er gegen diese seltsamen und ungewohnten melancholischen Kräfte nichts auszurichten.
Sie lassen sich partout nicht verscheuchen oder vertreiben! Ärger als lästige Schmeißfliegen, stechgeile Gelsen oder penetrante Motten sind sie.
In solchen Stimmungen findet er die Schönheit in der Natur, die er plötzlich (und sei es auch immer noch, wie gesagt, nur angedeutet und vielleicht auch bloß ein wenig verschwommen) gewahrt, dennoch fast unerträglich in ihrer Stärke und Macht. Und seine Seele (also verfügt er ja doch über eine solche!) beginnt, in gewisser Weise zu transpirieren …
Dann freilich verdüstert sich das Bild sogleich wieder nach gewohnter Art des Hauses.
Und gleichsam wie eine dunkle Wolke schiebt sich die erneute Hoffnungslosigkeit mit vitaler Überzeugungskraft vor das fast schon transparente, zitterfarbige Idyll von vorhin. (War es also nicht eher – trügerisch?, so sollte er sich eigentlich fragen. Er lässt es indes lieber sein.)
Müssen nicht, so überkommt es ihn dann, die Alternativen zu Aggression und gegenseitiger Zerstörung und Auslöschung unausweichlich Apathie und Passivität sein? Oder sollte es tatsächlich die Möglichkeit geben, verbliebene positive Kräfte zu bündeln, um vielleicht doch noch dem Tod und dem Verderben zu entrinnen und viel mehr den Frieden und ein weitgehend gefahrloses, vernünftiges und ersprießliches Zusammenleben zu ermöglichen?
Was soll es?!, kommt die dicke, inzwischen schon ziemlich schwarz angelaufene Wolke zurück; in dunklem Triumph, wie es scheint. Plustert sich schwergewichtig auf wie Gewölk vor einem knapp bevorstehenden Gewitter der Sonderklasse. (Am Meer, etwa in – Rovinj?!)
Was soll es.
Dann trinkt er lieber ein paar Jägermeister mehr als sonst. Und vergisst für kurze Zeit die allgemeinen ihn umgebenden Malaisen, die ihm langsam den Atem nehmen und die drohen, ihm bald einmal die Luftzufuhr endgültig und gänzlich abzuschnüren.
Lebensbedrohend ist das, wie ihm scheint.
Was soll es.
Schließlich allerdings sieht er sich, wie man das bildhaft so schön nennt, nicht mehr ein noch aus. Ja, er ist nunmehr endgültig in seinem Dilemma gefangen. Festgezurrt. Und dieser Zwiespalt wird langsam, aber kontinuierlich, unaufhörlich und unaufhaltsam zu einem allumfassenden. Es ist der unentrinnbare Zustand eines Zwiespalts, der jeden Menschen irgendeinmal betrifft; vorausgesetzt: Dieser Mensch ist des Denkens zumindest einigermaßen mächtig.
Immerhin, er ist längst an einem Punkt angelangt, wo ihm nichts anderes übrig bleibt (da ist er sich sicher!), als zu resignieren. Vielleicht sollte er sich überhaupt darauf beschränken, selber einigermaßen friedlich zu sein. Oder es zu werden.
Denn auch er ist – zumindest im Kern – ein kleiner Gewalttäter.
Er erwacht.
Nein!, denkt der vorhin zwischendurch wieder 60-Jährige, der jetzt freilich endgültig im Körper des hundertzwanzig Jahre (plus einen Tag!) alten Mannes gelandet ist.
Nein!
E N D E